Donnerstag, 26. September 2013

Die fröhliche Frau

Sie wachte von selbst auf, noch vor dem Weckerläuten, und wie immer, wenn das passierte, freute sie sich darüber, als sei ihr etwas Besonderes gelungen, als habe sie dem Wecker, diesem lästigen Gesellen, der gleich mit den Pieptonintervallen  beginnen würde, ein Schnippchen geschlagen. Immerhin fasste sie heute nicht mehr automatisch nach links, wie sie es die letzten beiden Morgen getan hatte. Sie kicherte bei dem Gedanken vor sich hin. Wie unverrückbar Gewohnheiten waren! Montagmorgen war Hans-Hermann nach München zu einem Seminar  gefahren:  Bilanzbuchhaltung  unter Berücksichtigung Europäischen Rechts.  So trocken, hatte sie gesagt, dass Brandgefahr bestand. Drei Nächte schlief sie nun allein. Trotzdem hatte sie an sich halten müssen nicht wieder hinüber zu fassen; diese mechanische Geste des Weckens, Bestandteil des morgendlichen Rituals seit so vielen Jahren. Er war schweigsam gewesen bei der Abreise, ob aus Konzentration oder aus leisem Groll wegen Sonntagabend wusste sie nicht, vielleicht beides.
Sie waren mit einem seiner Kollegen und dessen Frau im Theater gewesen. „Hamlet“. Sie verabscheute das Stück und war nur ihrem Mann zuliebe mitgegangen. Dass die Inszenierung das blutige Mittelalterspektakel in der Chefetage eines Konzerns angesiedelt hatte und die Protagonisten im letzten Akt nur noch beschmutzte Unterwäsche und Krawatten trugen, machte es ihr nicht leichter. Sie habe Hamlet einmal, erzählte sie später beim Studieren der Speisekarte im Restaurant heiter, als Kindertheater gesehen. Das habe ihr nicht so den Appetit verdorben, der Gedanke an Sojasauce lasse sie jetzt schaudern, ginge es den anderen auch so? Einen Moment lang hatte Schweigen geherrscht und Hans-Hermann warf ihr später vor, die Frau seines Kollegen, eine große Shakespeare-Verehrerin, die auch die Auswahl des Stückes getroffen hatte, beleidigt zu haben. Und außerdem fuhr er fort, machst du dich mit deinem Kindertheater lächerlich. Da kannst du mit Lena hingehen, wenn sie alt genug ist. Eine Großmutter allein im Kindertheater ist lachhaft. Sie hatte ihn einen Spießer genannt, und der Abend endete in Disharmonie. Obwohl sie sich über seine Borniertheit ärgerte, bedauerte sie den Streit am nächsten Morgen und war ihm gegenüber besonders aufmerksam, aber er hatte geschwiegen, beim Frühstücken betont interessiert die Zeitung gelesen und sich dann etwas frostig verabschiedet. Er konnte nachtragend sein, aber bis heute Abend würde er es vielleicht vergessen haben.
Sie streckte sich wohlig, verschränkte die Arme unter dem Nacken und blinzelte in die Sonne, deren Strahlen durch das Laub des Fliederbaumes ein Muster fliegender Licht- und Schattenpunkte auf die Wand ihr gegenüber zauberten und dort, wo sie den geschliffenen Rand des Spiegels trafen, glitzernde Reflexe in allen Regenbogenfarben setzten. Sie hatte überstundenfrei, ihre Tochter Christin war mit Mann und Kind verreist, also stand auch kein Oma-Dienst an und so hatte sie sich eigentlich Hausarbeit vorgenommen, aber der Tag war so schön. Sie sprang, ohne die ziependen Rückenmuskeln zu beachten, aus dem Bett, machte Katzenwäsche wie in Kindertagen und setzte sich mit der Zeitung zum Frühstücken auf die Terrasse, barfuß, ungeschminkt und ungekämmt. Sie schmunzelte beim Gedanken an Frau Meinhardt, die Nachbarin zur Linken, die auch für den Brötchenkauf am Samstag das große Make-up auflegte und deren Staubsauger nun deutlich vernehmbar brummte. Ausgerechnet heute war die auch zu Hause. Sie erinnerte sich an das verkniffene Lächeln der Nachbarin, als sie einmal beim Fensterputzen auf der Terrasse von der Leiter rückwärts in den Eimer mit dem Putzwasser gestiegen war. Sie hatte ihn nicht umgeworfen sondern war mit ihrem linken Fuß exakt in die Mitte des Eimers getreten und musste über diesen Zufall so lachen, dass sie einen Schluckauf bekam. Bei ihrem Rückzug in die Wohnung hatte sie eine nasse Spur bis ins Badezimmer hinterlassen und dann Mühe gehabt, Hans-Hermann zu beruhigen, der auf der Suche nach ihr die Terrasse vom Arbeitszimmer aus betreten und dabei den Eimer übersehen hatte, über diesen gestolpert war und ihn dabei umgeworfen hatte. Auf der Suche nach einem Putzlappen wäre er auf ihrer nassen Spur beinahe gestürzt, und er fluchte so laut, dass Frau Meinhardt herüber rief, ob sie helfen könne.
Diese scheinheilige Zicke! Marianne atmete auf, als der Staubsauger verstummte und widmete sich ihrem Frühstück. Das letzte ohne Hans-Hermann. Sie hatte die drei Tage Alleinsein so genossen, dass sie beinahe ein schlechtes Gewissen verspürte. Drei Tage Freiheit ab zwölf Uhr mittags. Sie hatte sich mit einer alten Schulfreundin zum Stadtbummel getroffen, den Botanischen Garten besucht und sich gestern Abend „Jenseits von Afrika“ gegönnt, ohne das resignierte Seufzen ihres Mannes  beim Aufreißen der Taschentuchpackung  ignorieren zu müssen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, faltete die Zeitung zusammen, räumte das Geschirr aufs Tablett und trug es in die Küche, wobei sie auf dem Weg sorgfältig einem Paar grauer Wildlederpumps  und dem halb gefüllten Wäschekorb auswich, während sich auf der Terrasse die Spatzen lautstark um die Krümel zu streiten begannen. Aus dem Küchenfenster sah sie den Postboten vorbei radeln. Sie schlüpfte rasch in ihre Sandalen und lief hinaus. Die vier Stufen vor der Haustür nahm sie in zwei Sätzen und hüpfte auf den Steinfliesen bis zum Briefkasten, sorgfältig darauf achtend, wie in Kindertagen immer eine Fuge zu treffen. Sie lächelte bei der Erinnerung an die oft gewonnenen Hüpfwettkämpfe mit den Nachbarskindern, meist dotiert mit Erdbeerdrops und dem Recht das nächste Spiel zu bestimmen.
 „Schönen juten Morgen, Frau Richter, das nenn‘ ich jute Laune!“
Sie hatte, ganz auf den Weg konzentriert, Herrn Schmolenske übersehen, der mit seinem Dackel vor ihrem Gartentor stand und sie zufrieden musterte.
„Ich hab‘ schon oft zu Ihrem Mann jesacht, Herr Richter, hab‘ ich jesacht, Herr Richter, mit Ihrer Frau ham Se sich die Jugend ins Haus jeholt. Ob Mutter oder Oma, die is‘ noch so jung wie bei der Hochzeit. Wo is‘ er überhaupt? Seit drei Tagen hab‘ ich ihn nich‘ mehr aus’m Haus jeh‘n seh’n.“
„Auf Tagung“. Sie fuhr sich ein wenig verlegen durch das Haar, nahm die Post aus dem Kasten und beeilte sich ins Haus zurück zu kommen, um weiteren Fragen zu entgehen. An der Haustür warf sie einen Blick auf die Umschläge: zwei Rechnungen, ein Brief vom Finanzamt , einer von der Versicherung. Bestimmt eine weitere Widrigkeit im unendlichen Streit um die Begleichung der letzten Handwerkerrechnung für die Behebung eines Wasserschadens vom vorletzten Jahr. Sie verharrte auf der letzten Treppenstufe und mit einem Mal freute sie sich aus tiefstem Herzen auf die Rückkehr ihres Mannes. Sie sah sein ernstes, ein wenig strenges Gesicht mit der schwarz gefassten Brille, sah ihn konzentriert am Schreibtisch sitzen, wie er es oft abends noch tat, sorgfältig einen Brief nach dem anderen abarbeitend. So nah war ihr dieses Bild, dass sie glaubte, seine Anwesenheit zu fühlen und den Duft seines Haares zu riechen. Beinahe hätte sie die Hand ausgestreckt. Und plötzlich packte sie die Sorge. Was, wenn ihm etwas passiert wäre, wenn er einen Unfall hätte? Wenn er nicht nach Hause käme? Sie starrte auf ihre Hand, in der sie die Briefe hielt und die sie nun in Heftigkeit zur Faust geballt hatte. Wie dumm! Aus den Augenwinkeln sah sie Schmolenske, der händereibend am Zaun stand und ihr nachblickte.
Sie straffte sich und betrat ruhigen Schrittes das Haus, legte die Post, nicht ohne sie etwas glatt zu streichen, auf die Konsole im Flur, berührte mit leichter Hand das kleine Holzkreuz neben dem Spiegel, das ihr vor Jahrzehnten ihre Großmutter aus Südtirol mitgebracht hatte und das sie seitdem hütete wie einen Schatz, und plante den Tag. Für abends wollte sie ein leichtes Fischgericht zubereiten;  und dazu vielleicht einen trockenen Soave. Hans-Hermann würde sich freuen. Rasch begann sie aufzuräumen. Beim Leeren des Wäschekorbes fiel ihr Blick auf den Schauspielführer, der, noch mit Lesezeichen versehen, auf der kleinen Frisierkommode im Schlafzimmer lag. Etwas abwesend trug sie ihn zum Bücherregal. Ach ja, ein Dessert könnte sie auch noch machen. Vanilleeis mit pürierten Waldbeeren, das ging schnell und passte gut zum Hauptgang. Den Teller würde sie mit gezogenen Fäden heißer Schokolade verzieren. Und eigentlich, dachte sie, während sie das Buch in die Lücke zwischen Opern- und Wanderführer stellte, ist Hamlet gar nicht so schlimm.

18.08.13

Sonja Meier

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