Bettina betrat das
Kaufhaus mit raschem Schritt und flüchtig wunderte sie sich über ihre Ruhe und
über das Fehlen jeden Zweifels. Aber es musste getan werden, und heute würde
sie tun, was nicht mehr aufzuschieben war. Sie orientierte sich kurz, überblickte
das weitläufige Erdgeschoß dieses Tempels des Konsums, der versprach, jeden
Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich jeden, dachte sie. Sie war absichtlich
unauffällig gekleidet, das Gesicht ungeschminkt, die Haare schmucklos
zurückgebunden. Man würde sie nicht bemerken.
Eine Werbefotografin – und das war sie – wusste alles über Wahrnehmung.
Sie durchschritt
den Bereich der Strickwaren und den der Schnäppchen und wandte sich der
hinteren Rolltreppe zu. Eine Reklametafel pries die Kosmetikabteilung im ersten
Obergeschoß: „Lassen Sie sich von unseren qualifizierten Mitarbeiterinnen
verwöhnen!“ Es widerte sie an. Sie
registrierte die Stille in dem großen Raum beiläufig, ohne Überraschung, wie
man die Raumtemperatur registriert oder das Wetter. Nicht, dass sie alleine
gewesen wäre. Es waren etliche Kunden da, auch Verkäuferinnen. Sie sah, wie
sich die Münder bewegten, aber sie hörte kein Wort, keinen Laut, auch die
lästige Hintergrundmusik, dieses Instrument der Verkaufsförderung, fehlte. Sie starrte auf die Treppe. Von dort oben
musste sie kommen. Nicoline! Allein der Name. Im Schlaf hatte er ihn gemurmelt,
nachts neben ihr. Hilflos hatte sie es angehört und auf ihre Knöchel gebissen, bis sie bluteten.
Eine Kosmetikerin! Was wollte er mit der? War redete er mit ihr? Aber
vermutlich redeten sie nicht. Sie hatte es von Kollegen erfahren, zufällig, und
die Häme darüber war nicht zu überhören, dass ausgerechnet ihr verborgen
geblieben war, was in allernächster Nähe geschah. Als sie Frank zur Rede
stellte, schrie, weinte, tobte, hatte er geschwiegen, das Haus verlassen und
war erst am übernächsten Tag zurückgekehrt.
Seitdem hing alles in der Schwebe. Er hatte sie um Zeit gebeten, um
nachzudenken. Sie hatte Angst.
Ein Sonderposten
Fotoalben fiel ihr auf, direkt neben der Rolltreppe. Sie griff nach dem
obersten, es hatte den gleichen blauen Leineneinband, wie das ihre, das
Dokument ihrer Liebe, auch die stilisierte Blume mit dem einen fehlenden
Blütenblatt war darauf. Behutsam schlug sie die Seiten um und blätterte so durch die Fotos. Ihr erster
gemeinsamer Urlaub, die Sommerwiese, auf der sich geliebt hatten, ohne den
Kartoffelernter zu bemerken, der keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt stand;
die zerbrochene Brille bei einem Ausflug, ohne die Frank praktisch blind war. Sie
hatte ihn zurückführen müssen wie einen hilflosen alten Menschen.
„Ich vertraue dir
blind“, hatte er gesagt und sie geküsst.
„Du bist mein
Leben“ hatte sie geantwortet und es so gemeint.
Die Geburt ihres
Sohnes, viel zu früh und ohne Vorwarnung. Als Frank, dieser knochentrockene,
biedere Jurist, dieser Abstinenzler, endlich in die Klink nachkam, war er betrunken. Später der Hauskauf, das
gemeinsame Gestalten ihres Heims. Wie glücklich waren sie gewesen, wie namenlos
glücklich!
Bettina klappte das
Album zu und ließ es liegen. Niemand außer ihr würde die Bilder sehen
können. Es wurde Zeit; sie wandte den
Blick wieder nach oben und sah die Frau
die Rolltreppe nach unten betreten – das war sie. Bettina betrat gleichzeitig
die Treppe nach oben, blieb ganz links am Handlauf stehen und griff unauffällig
in ihre Handtasche. Auf halber Höhe würden sie einander fast berühren können. Die andere bemerkte sie
nicht. Dunkelhaarig, üppig, blickte sie
lächelnd gerade aus mit dem Ausdruck einer satten, zufriedenen Katze. Jetzt!
Als Bettina den Abzug drückte, machte es leise plopp. Sie fühlte das Geräusch
mehr als sie es hörte, aber mit dem Plopp des Schusses zerbrach die Stille. Sie
hörte das Brummen der Rolltreppe, das Geräusch eines langsam fallenden,
rutschenden Körpers, den spitzen Schrei einer Frau und vor allem hörte sie
ihren Herzschlag, laut hämmernd, der ganze Körper war pochendes, pulsierendes
Herz. Und dann das Sirenengeheul. Wieso jetzt schon Sirenen? Sie konnten noch
gar nicht heulen, jetzt doch noch nicht! Sie hörte ihr eigenes Keuchen, riss
die Augen auf und starrte auf graues Flimmern in tiefer Dunkelheit. Der Wecker
neben ihr schrillte im Dauerton. Mit der rechten ihrer schweißnassen Hände
umklammerte sie die Fernbedienung.
Benommen schaltete
sie Fernsehgerät und Wecker aus und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Sie
lauschte dem Rauschen in ihren Ohren. Lange dauerte es, bis sich ihr Herzschlag
beruhigt hatte und sich ein Gefühl von Erleichterung einstellte - nein, nicht
Erleichterung: Befreiung war es! Sie lächelte leise in der Dunkelheit.
06.04.14/22.04.14
Sonja Meier