Montag, 12. Mai 2014

Die Kehrseite der Medaille

Bettina betrat das Kaufhaus mit raschem Schritt und flüchtig wunderte sie sich über ihre Ruhe und über das Fehlen jeden Zweifels. Aber es musste getan werden, und heute würde sie tun, was nicht mehr aufzuschieben war. Sie orientierte sich kurz, überblickte das weitläufige Erdgeschoß dieses Tempels des Konsums, der versprach, jeden Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich jeden, dachte sie. Sie war absichtlich unauffällig gekleidet, das Gesicht ungeschminkt, die Haare schmucklos zurückgebunden.  Man würde sie nicht bemerken. Eine Werbefotografin – und das war sie – wusste alles über Wahrnehmung.
Sie durchschritt den Bereich der Strickwaren und den der Schnäppchen und wandte sich der hinteren Rolltreppe zu. Eine Reklametafel pries die Kosmetikabteilung im ersten Obergeschoß: „Lassen Sie sich von unseren qualifizierten Mitarbeiterinnen verwöhnen!“ Es widerte sie an.  Sie registrierte die Stille in dem großen Raum beiläufig, ohne Überraschung, wie man die Raumtemperatur registriert oder das Wetter. Nicht, dass sie alleine gewesen wäre. Es waren etliche Kunden da, auch Verkäuferinnen. Sie sah, wie sich die Münder bewegten, aber sie hörte kein Wort, keinen Laut, auch die lästige Hintergrundmusik, dieses Instrument der Verkaufsförderung, fehlte.  Sie starrte auf die Treppe. Von dort oben musste sie kommen. Nicoline! Allein der Name. Im Schlaf hatte er ihn gemurmelt, nachts neben ihr. Hilflos hatte sie es angehört und  auf ihre Knöchel gebissen, bis sie bluteten. Eine Kosmetikerin! Was wollte er mit der? War redete er mit ihr? Aber vermutlich redeten sie nicht. Sie hatte es von Kollegen erfahren, zufällig, und die Häme darüber war nicht zu überhören, dass ausgerechnet ihr verborgen geblieben war, was in allernächster Nähe geschah. Als sie Frank zur Rede stellte, schrie, weinte, tobte, hatte er geschwiegen, das Haus verlassen und war erst am übernächsten Tag zurückgekehrt.  Seitdem hing alles in der Schwebe. Er hatte sie um Zeit gebeten, um nachzudenken. Sie hatte Angst.
Ein Sonderposten Fotoalben fiel ihr auf, direkt neben der Rolltreppe. Sie griff nach dem obersten, es hatte den gleichen blauen Leineneinband, wie das ihre, das Dokument ihrer Liebe, auch die stilisierte Blume mit dem einen fehlenden Blütenblatt war darauf. Behutsam schlug sie die Seiten um und  blätterte so durch die Fotos. Ihr erster gemeinsamer Urlaub, die Sommerwiese, auf der sich geliebt hatten, ohne den Kartoffelernter zu bemerken, der keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt stand; die zerbrochene Brille bei einem Ausflug, ohne die Frank praktisch blind war. Sie hatte ihn zurückführen müssen wie einen hilflosen alten Menschen.
„Ich vertraue dir blind“, hatte er gesagt und sie geküsst.
„Du bist mein Leben“ hatte sie geantwortet und es so gemeint.
Die Geburt ihres Sohnes, viel zu früh und ohne Vorwarnung. Als Frank, dieser knochentrockene, biedere Jurist, dieser Abstinenzler, endlich in die Klink nachkam,  war er betrunken. Später der Hauskauf, das gemeinsame Gestalten ihres Heims. Wie glücklich waren sie gewesen, wie namenlos glücklich!
Bettina klappte das Album zu und ließ es liegen. Niemand außer ihr würde die Bilder sehen können.  Es wurde Zeit; sie wandte den Blick wieder nach  oben und sah die Frau die Rolltreppe nach unten betreten – das war sie. Bettina betrat gleichzeitig die Treppe nach oben, blieb ganz links am Handlauf stehen und griff unauffällig in ihre Handtasche. Auf halber Höhe würden sie einander  fast berühren können. Die andere bemerkte sie nicht. Dunkelhaarig, üppig,  blickte sie lächelnd gerade aus mit dem Ausdruck einer satten, zufriedenen Katze. Jetzt! Als Bettina den Abzug drückte, machte es leise plopp. Sie fühlte das Geräusch mehr als sie es hörte, aber mit dem Plopp des Schusses zerbrach die Stille. Sie hörte das Brummen der Rolltreppe, das Geräusch eines langsam fallenden, rutschenden Körpers, den spitzen Schrei einer Frau und vor allem hörte sie ihren Herzschlag, laut hämmernd, der ganze Körper war pochendes, pulsierendes Herz. Und dann das Sirenengeheul. Wieso jetzt schon Sirenen? Sie konnten noch gar nicht heulen, jetzt doch noch nicht! Sie hörte ihr eigenes Keuchen, riss die Augen auf und starrte auf graues Flimmern in tiefer Dunkelheit. Der Wecker neben ihr schrillte im Dauerton. Mit der rechten ihrer schweißnassen Hände umklammerte sie die Fernbedienung.
Benommen schaltete sie Fernsehgerät und Wecker aus und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Sie lauschte dem Rauschen in ihren Ohren. Lange dauerte es, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte und sich ein Gefühl von Erleichterung einstellte - nein, nicht Erleichterung: Befreiung war es! Sie lächelte leise in der Dunkelheit.
06.04.14/22.04.14

Sonja Meier