Freitag, 8. April 2016

Biergarten G'Spusi

Der Wastlhuber wohnt mit seinem Kumpel Axel in einer WG mitten in der Südstadt. Die liegt zwischen Rednitz und Pegnitz, zwischen Erlangen und Nürnberg, also in Fürth.
Beide mögen das weibliche Geschlecht. Das ist ihnen allerdings vor einiger Zeit abhandengekommen. Axels Frau ist mit Sack und Pack ausgezogen. Übrig blieb nix als Leere und hallende Räume.
Dann sind sie sich begegnet. Sie können sich von Anfang an gut riechen. Nach zwei, drei Treffs fragt Axel ihn, ob er bei ihm einziehen wolle. Darüber braucht er gar nicht nachzudenken, haust er doch in einer ziemlich schäbigen, kargen wie kalten Unterkunft. Vergitterte Monotonie.

Das WG-Leben klappt prima, sogar auf Arbeit teilen sie sich ein Büro. Vorher war der Herr Wastlhuber arbeitslos und musste immer alleine rumhängen. Dass sein Kumpel hier und da den Chef raushängen lässt, stört ihn aber nicht. Den Part überlässt er ihm gerne, wenn er meint.

Ihr Highlight des Tages, auch in Sachen Mädels abchecken, beginnt nach Dienstschluss. Kein lauer Abend, kein Wochenende ohne einen Abstecher zum Lieblingsbiergarten mit Kicker drinnen und herrlichem schattigem Garten draußen. Hier bedienen flotte, junge Leute. Auch eine Augenweide. Eine der Kellnerinnen nennt ihn leger „Wastl“ und stellt ihm ungefragt ein Wasser und ein Schnitzel hin. Das ist ein Service. Während er das eine unverzüglich verschlingt und das andere genüsslich schlürft, scannt sein Kumpel derweil über seinen Bierschaum hinweg die weiblichen Gäste ab. Er schafft es auch jedes Mal, dass sich eine zu ihnen gesellt. Da ihre Geschmäcker diesbezüglich völlig unterschiedlich sind, kommen sie sich nie in die Quere.
Schaut sein Kumpel ihn mit diesem Blick „du störst“ an, verdrückt sich Herr Wastlhuber freiwillig in den hinteren Teil des Biergartens. Direkt an der Mauer steht eine große, alte Kastanie, die ein wenig das Getümmel abschirmt. Da sitzt er dann einfach still und stumm da. Die Blätter rascheln sanft und lassen nicht so viel Sonne durch. Die ganze Woche im stickigen Büro zwischen Tätigkeit und Untätigkeit erschöpft ihn. Er ist halt eher der Typ für draußen an der frischen Luft. Aber den Arbeitsplatz kann man sich heutzutage nicht aussuchen.

An einem Freitag sitzt der Wastlhuber wieder an seinem Stammplatz und sinniert durch den alten Kastanienbaum nach oben. Weiß und blau wie der Himmel und weiß und blau wie die Servietten auf dem Tisch. Tief schnauft er durch und beobachtet seinen Kumpel beim Anbaggern einer Neuen. An der ist fast nichts echt. Von der Farbe im Gesicht, über die Haare bis zu den Nägeln. Letztere extrem lang. Schon die Vorstellung sich von so einer anfassen zu lassen. Er muss sich kurz schütteln. Außerdem scheint sie schlecht bei Kasse zu sein. Sein Kumpel lässt sich ihre Brotzeit und die Maß auf seinen Bierdeckel schreiben. Das macht er sonst nie. Und ihr Rock, sparsam kurz, den hätte sie gleich weglassen können. Seinen Kumpel scheint das nicht zu stören. Er nimmt sie sogar mit nach Hause. Herr Wastlhuber verzieht sich schnurstracks und beschäftigt sich mit sich selbst. Er kann prima abschalten.

Am nächsten Tag hocken Axel und Miss Sparrock wieder zusammen bei Bier und Radler und schlecken sich ab. Na ja, wie der Abend enden wird, ist überschaubar.
Der Wastlhuber macht es sich auf seiner Lieblingsbierbank bequem und träumt vor sich hin ohne Gefühlsduselei. Plötzlich registriert er einen Schatten, der über ihn huscht. Ein zartes Wesen schwebt auf leisen Sohlen die paar Stufen zum hinteren Teil des Biergartens hinunter. Kommt auf ihn zu. Ein dunkler, südländischer Typ ist sie mit langem, seidigem Haarkleid. Ohne inne zu halten, wirft sie ihm einen verschleierten Blick aus großen, grünen Augen zu. Ganz kurz. Dann hebt sie ihren Kopf und schreitet an ihm vorbei, als sei er Luft. Fast hätte er sich verschluckt. Er springt auf, dass die Bierbank wackelt, lugt um den Baum herum, aber sie ist bereits verschwunden.
Erschöpft lässt er sich wieder fallen. Die nette Kellnerin, die immer Wastl zu ihm sagt, hat sie wohl beobachtet.
„Das ist Habibi. Sie konnte aus dem Süden gerettet werden. Sie wohnt jetzt bei uns.“ Ungefragt stellt sie ihm ein weiteres Schnitzel hin. Vom Süden in die Südstadt, wenn das kein Omen ist. Er kann nur nicken und vergisst glatt zu essen, zumindest für einen kleinen Moment.

Am Folgetag gibt es eine Überraschung. Axels Rockflamme ist nicht alleine gekommen.
„Ihre Mitbewohnerin“, flüstert er dem Wastlhuber zu und besteht darauf, dass er sich zu ihnen setzt. Höflich, mit einem gewissen Abstand, platziert er sich neben seinem Kumpel. Schließlich weiß er, was sich gehört.

Susi heißt die aufgeschneckte Mitbewohnerin und ist auch sonst der gleiche Typ wie ihre Kumpanin. Ponyfransen, die die Augen verdecken und zu allem Überfluss eine alberne Schleife auf dem Kopf, die wohl den Haarwust zusammenhalten soll. Ihre Nägel sind auch zu lang. Beide Mädels verbreiten Düfte, die den Wastlhuber schwindlig machen, aber nicht so wie sie es gerne hätten.
Da findet ein echt betörendes Aroma den Weg in seine Nase. Aus den Augenwinkeln erkennt er Habibi ein paar Reihen weiter hinten alleine in der Sonne sitzen. Ihre exotische Erscheinung hebt sich von der Form des bayerischen Rautenmusters der Tischdecke ab. Noch nicht einmal das kann sie entzaubern. Ganz entspannt sitzt sie da. Ihre Augen lasziv halb geöffnet und doch spürt der Wastlhuber, dass sie zu ihm herüberlugt. Susi folgt seinem Blick.
„Noch so eine. Die hat hier nichts zu suchen“, schnappt sie mit fistelnder Stimme.
„Sie ist aus dem Süden.“ Als würde die Aussage Habibis Andersartigkeit erklären.
Sparrock und Susi drehen ihr demonstrativ den Rücken zu und werfen die Haare synchron nach hinten. Ohne einen Ton von sich zu geben, streckt der Wastlhuber sich kurz, steht grußlos auf und eilt geschwind zu seinem Stammplatz ins hintere Eck des Biergartens.
„Herr Wastlhuber!“, ruft sein Kumpel hinter ihm her. So nennt er ihn nur, wenn er richtig sauer ist. Ihm doch egal, er hätte ja auch mal was sagen können, statt seiner Dame andauernd auf den nicht vorhandenen Rock zu glotzen.

In der Männer-WG hängt der Haussegen etwas schief. Anscheinend hat’s mit der Kurzrockfrau nicht geklappt. Axel verweigert den Biergarten und verbringt die Abende vor der Glotze, während sich Wastlhuber rausschleicht und alleine loszieht. Na, wohin wohl? Da braucht man nicht lange herumraten.

Ein paar Tage später hört der Wastlhuber am frühen Morgen seinen Kumpel wie gewohnt rumoren. Schlafzimmertüre, Bad, Küche, Kaffeemaschine. Es dauert nicht mehr lange, bis er ins Wohnzimmer kommt. Nun ist der Wastlhuber doch ganz schön nervös. Was wird er wohl sagen, wenn er sie beide hier sieht? Er kuschelt sich noch ein wenig enger an Habibi und bekommt als Reaktion ein wohliges Schnurren tief aus ihrer Kehle.
So im Halbdunkeln sind sie beide kaum voneinander zu unterscheiden. Er, fast ganz schwarz mit ein paar hellen Stellen auf der Brust und sie dunkelbraun mit helleren Streifen, die ihre stromlinienförmige, zarte Gestalt noch mehr unterstreichen und betonen.

Axel betritt das Wohnzimmer und lässt seinen Blick über die Kissen schweifen. Dann entdeckt er sie beide. Perplex starrt er von ihr zu ihm, wie sie verkeilt beieinander liegen. Seinem Kumpel verschlägt es schier die Sprache. Vorsichtig wedelt Herr Wastlhuber mit seinem buschigen Schwanz, schenkt ihm seinen unwiderstehlichsten Dackelblick aus treuen, braunen Augen. Habibi drückt sich fester an ihn. Sprungbereit sie, kampfbereit er. Wenn‘s sein muss, lässt er den Wolf aus sich raus.
Axel kommt langsam näher, geht in die Knie.
„Wer bist du denn?“ fragt er nach wie vor verdutzt und schüttelt ungläubig den Kopf. Langsam hebt er seine Rechte und hält sie Habibi hin. Vorsichtig macht sie einen langen Hals, schnuppert kurz und zieht sich schnell wieder zurück.
„Wastl, Wastl, nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass du auf Katzen stehst“ und krault ihn hinter den Schlappohren. „Da haste dir 'ne entzückende Mieze im Biergarten angelacht“, ergänzt er und tätschelt seinen Kopf. Erleichtert schleckt der Wastlhuber ihm über die Hand.
Als sein Kumpel in die Küche geht und zwei Näpfe Futter fertig macht, weiß der Wastlhuber, dass seine Habibi auch hier einziehen darf. Jetzt fehlt nur noch eine passende Frau für seinen Kumpel. Sie werden im Biergarten schauen, da findet sich schon was.

© Frau Gunkelberg 01/16

BESUCH

Die neue Wohnung ist hell und freundlich, weiße Wände, klare Linien. Ich werde mich wohlfühlen, hier, wo ich über und unter und neben mir Nachbarn habe. Menschen. Man hört sie, manchmal ist es ein Lachen, leises Stimmengewirr oder das Poltern der Kinder aus dem zweiten Stock, manchmal das Fernsehprogramm, manchmal, ganz dezent, irgendwo aus einem der umliegenden Häuser, Klaviermusik. Ich habe mich vorgestellt als neue Nachbarin und wurde freundlich begrüßt. Es ist ein gepflegtes Haus und es ist gut, dass ich mich zu dem Umzug entschlossen habe, so sehr ich das Häuschen, mein Refugium, einmal geliebt hatte. Nicht, dass es renovierungsbedürftig gewesen wäre, jedenfalls nicht allzu sehr, auch den winzigen Garten mit dem Apfelbäumchen am Zaun habe ich gerne bewirtschaftet und die Nachbarskatze kam manchmal auf einen Plausch, aber irgendwann war es zu viel. Nicht die Katze meine ich, die anderen. Die Katze kam immer morgens, nie abends, nie in der Dämmerung. Ich glaube, sie mochte sie auch nicht, deshalb mied sie mein Haus am Abend. Sogar den Garten mied sie.
Als Klaus noch da war, hatte ich nie etwas bemerkt. Ganz sicher waren sie noch nicht da. Klaus und ich hatten das Häuschen vor sieben Jahren angemietet, obwohl, nein gerade weil es etwas abseits lag, am Rande der Peripherie, in einer Sackgasse, die ins offene Feld mündete. Still, dörflich war es hier, als hätte man die drei Häuser, die da standen, vergessen. Hier fiel man aus der Zeit. Unser Nest war es gewesen, ein Versteck vor der Welt für zwei, die sich genügen, und wir genügten einander oft, bis die Schlange kam und ihn mir nahm, weil sie seine Seele vergiftet. Als er auszog zu seinem blonden Gift, blieb ich zurück, innerlich in Scherben, gelähmt und planlos.  Ich lebte und arbeitete weiter, funktionierte wie ein Automat. Hin und wieder fragte ein Nachbar über den Gartenzaun, ob alles in Ordnung sei, erzählte vom Wetter oder der Apfelernte. Manchmal wurde ich eingeladen, meistens lehnte ich ab. Ich lebte meine Trauer und lebte sie allein, im Sommer oft im Schaukelstuhl, verborgen hinter dem Glyzinienspalier, oder als es kühler wurde, inmitten der tröstlich mit mir schweigenden Bücher.
Es muss später Herbst gewesen sein, als der erste kam. Ich weiß nicht, ob ich Angst hatte; ich war wohl eher befremdet. Jedes Haus hat seine Geräusche und ich kannte das Knarren der Treppe, das gelegentliche Knacken des Bücherregals und das Ächzen des alten Schranks im Windfang, aber dieses leise Schaben und Kratzen, das kannte ich nicht und dachte erst an eine Maus, aber wir hatten niemals Mäuse gehabt. Das Schaben kam mal von hier, mal von dort, leise, unregelmäßig. Die Leselampe reichte nicht aus, um dem Geräusch nachgehen zu können;  ich schaltete das Deckenlicht ein. Nichts. Gar nichts. Auch kein Schaben mehr. Ich ging zu Bett. Im Dunkeln hörte ich ein leises Kratzen. Irgendwann schlief ich ein. Nächte später sah ich ihn zum ersten Mal oder vielmehr seinen Schatten oder besser seine Bewegung, den Schatten seiner Bewegung. Eine Art dichtere Dunkelheit, nicht allzu groß, mal hier, mal dort. Er schien flink zu sein. Vielleicht hätte ich ihn nicht bemerkt, wäre nicht dieser schmale Streifen Mondlicht in den Raum gefallen. Ich schloss die Augen. Ich schloss sie fest. Später spürte ich seine Präsenz, ja je dunkler der Raum war, desto deutlicher. Einmal schrie ich ihn an; ich sah, wie der Schrei durch ihn hindurch ging. Er teilte sich für einen Moment, schloss sich dann wieder und kratzte ein wenig. Für ein paar Tage blieb er weg.
Später kamen andere. Ich wusste es auch, ohne sie zu sehen. Waren sie da, spürte ich ihre Dichte und öffnete ich die Augen, sah ich in der Dunkelheit meines Schlafzimmers ihre bewegliche Schwärze, ihren Tanz, dem immer ein leichtes Schaben und Kratzen vorausging, das ich nicht orten konnte. Bei Licht kamen sie nie, Licht scheuten sie, aber bei Licht konnte ich nicht schlafen. Es war Dezember und ich hatte längst Festbeleuchtung im ganzen Haus, fürchtete den Moment des Lichtlöschens und gewöhnte mir an, einen Cognac zu trinken, wenn ich nach Hause kam. Die brennende Wärme beruhigte. Ich verwahrte die Karaffe im alten Schrank im Windfang, später nahm ich das Glas mit ins Schlafzimmer, wo ich die letzte Lampe ausknipste, die Augen schloss und die Decke über den Kopf zog. Aber es kamen immer mehr und sie kamen öfter und sie kamen näher. Ich spürte ihre Anwesenheit neben dem Bett und unter dem Bett. Sie tanzten nicht mehr, ich glaube, sie lauerten. Aber nie berührten sie meine Decke und am Morgen waren sie weg. Immer.
Es war Anfang Februar, die Dunkelheit des Winters wich bereits der Ahnung von Vorfrühling, als ich von einer Betriebsfeier später als sonst nach Hause kam, das Licht im Windfang einschalten wollte und die Lampe dunkel blieb. Ich tastete mich zum Cognac, dann zum nächsten Lichtschalter. Nichts. Es blieb dunkel. Ich drückte die Klingel. Stille. Stromausfall! Ich verfluchte meine Entscheidung, die Taschenlampe im Nachtkästchen zu verwahren und tastete mich ins Schlafzimmer. Er kauerte auf dem Kopfkissen. Ein atmender Ball von tiefer Schwärze, rote Kohleaugen glühten mich an. Ein weißer Eckzahn blitzte. Ich schrie, schrie ihn an, aber als der Schrei durch ihn hindurch ging, verdoppelte er sich. Vier Kohleaugen starrten mich an, zwei Eckzähne blitzten. Weg, nur weg! Raus, zum Auto!
Ich erwachte in weißer Stille, weiße Wände, weißes Bett, der rechte Arm in Gips. Mein Kopf schmerzte zum Zerplatzen. Ich war auf den Stufen vor dem Haus gestürzt, Gehirnerschütterung, Armbruch, Unterkühlung. Der Arzt sprach ernste Worte, erwähnte meinen Blutalkoholspiegel und empfahl mir  Suchtberatung und psychologische Betreuung. Drei Tage später wurde ich entlassen.
Die Unfallversicherung zahlte für vier Wochen eine Haushaltshilfe, eine Freundin kaufte für mich ein und organisierte energisch meinen Umzug, indem sie mir sämtliche Vermietungsinserate ausschnitt, deren sie habhaft werden konnte, auf mich einredete wie auf einen tauben Maulesel und schließlich in meinem Namen einen Makler beauftragte. Ich müsse, so ihre feste Überzeugung, hier raus, so schnell wie möglich das Haus verlassen - dieses Mausoleum einer gescheiterten Liebe, wie sie es spöttisch nannte - und mich am besten auch gleich neu einrichten. Die Schatten zeigten sich nicht mehr. Trotzdem: Birgit hatte Recht, es galt einen Schnitt zu machen, radikal und endgültig, und einen Neuanfang zu wagen. Ganz langsam schälte ich mich aus meiner Lethargie wie aus einem übergroßen, zu dicken Mantel. Als ich dann, zwei Monate später, tatsächlich auszog, ließ ich das meiste Mobiliar zurück. Es wurde vom Vermieter, da es sich überwiegend um alte Einzelstücke handelte, gegen ein geringes Entgelt übernommen; nur mein Bücherregal, den Lesesessel und die Frisierkommode mit den schönen Schnitz- und Drechselarbeiten und dem dreiteiligen, schildpattgefassten Spiegel, ein Kleinod aus dem Hausstand meiner Urgroßmutter, nahm ich mit. 
Die alten Stücke sehen edel aus in meiner neuen, sachlichen Stadtwohnung und ergänzen die moderne Einrichtung bestens. Die Cognac-Karaffe mit den fein geschliffenen Gläsern steht auf dem Sideboard im Wohnzimmer. Sie ist halb gefüllt, ihre Facetten glitzern in farbigen Reflexen. Ich habe nichts mehr getrunken seitdem. Es geht mir gut, ich fühle mich wohl in meinem neuen Domizil. Die Geräusche der Stadt, das Rauschen der Umgehungsstraße, das zwar fern und monoton herüber weht, aber nie ganz schweigt, das Aufheulen eines einsamen Motorrades, das Rasseln des Tiefgaragentores, unerwartet zu später Stunde, sind noch ungewohnt und zwingen mich, bei geschlossenem Fenster zu schlafen, was ich als befremdlich empfinde, aber daran werde ich mich gewöhnen. Das Licht der Straßenlaterne von gegenüber schickt einen schmalen gelben Streifen in mein Schlafzimmer. Heute stört mich das. Es muss die Frühlingsluft sein, die so unruhig macht; der Mai und seine Verheißungen. Ich schließe die Augen und überlasse mich dem trägen, ziellosen Treiben meiner Gedanken. Ganz leise, kaum wahrnehmbar, mal von hier, mal von dort, nicht wirklich zu orten, höre ich ein feines Kratzen.

30.03.16
©Sonja Meier

MYSTERIUM



Sobald es irgend geht, zieh ich mit meinem Hund Bohni in den Biergarten. Der liegt in der Sielstraße, nur drei Ecken von meiner Wohnung. Es gibt von Mai bis September einfach nichts Besseres für mich. So nah an der Natur, neben und unter Bäumen, sein Bier in Ruhe zu trinken und ein Paar Würstle zu essen, das ist das Höchste. Warum? Es ist, na ja, es ist irgendwie ge-sund .... die Blätter, das Gras, die Luft im Freien, die Autos spürst hinter der Hecke nicht so arg, das Bier schmeckt, als ob’s aus einer Quelle kommt.

Im Sommer in der Biergartenhochsaison muss ich dann auch meine Elvira nicht so lange sehen, wenn ich mit Bohni außerhäusig bleibe. Seit ich in Rente bin und sie, die Elvira, praktisch 24 Stunden um mich habe, also di-rekt erleben muss, entspannt sich die Ehe durch meinen regelmäßigen Besuch im Biergarten doch ein wenig. Und die Frau will auch gar nicht mit von sich aus, also ich frag sie auch erst gar nicht lang. Aber deswegen erzähl ich Ihnen das hier nicht. Es geht um etwas ganz anderes, was ich im letzten Sommer, also in dem Afrikasommer in der Sielstraße erlebt habe.

Ein Mysterium war’s, jawohl, auch wenn’s mir keiner glauben will. Brüllend heiß war’s, einer von den Klimakatastrophentagen, die mir so angenehm sind, denn dann sitze ich schon um 10 Uhr im Schatten von dem Kastanienbaum, bestelle mein Seidla und frage den Bohni ein biss-chen aus über sein Leben. Es sind dann nur wenig Leute da, die man anschauen muss. Die Bedienung ist noch frisch und freundlich, die Hitze hält sich noch zurück. Was will der Mensch mehr? Also, ich will gerade in meinen Meditationsmodus umschalten, da beunruhigt mich ein Schaben und Schubsen an meinem linken Bein. Natürlich tippe ich auf Bohni, aber der liegt seelenruhig unter meiner Bank und döst. Ich beuge mich nach unten, schieb meinen Bauch aus dem Blickfeld und was sehe ich, ja Hunds verreck, ich sehe ein Krokodil, das sich an meine Schuhe drückt und mit seinen scharfen Zähnen an den Schuhbendeln rupft. Ich nehme einen gehörigen Schluck aus dem Bierkrug, um mich zu vergewissern, dass ich ja noch nüchtern bin, und schaue mich um. Meine Augen schweifen über das gesamte Gelände. Gottseidank, keiner merkt etwas. Als mein Blick über den Ausschank wandert, erstarre ich ein zweites Mal – und das in so kurzer Zeit nach dem ersten Schock - , auf dem Schild der Braue-rei fehlt das Ledererkrokodil! Allmächt, jetzt wird’s brenzlig! Andererseits tröstet mich Bohni, denn der hat sich mittlerweile aufgestellt und knurrt ziemlich aggressiv. Mit aufgeregtem Ge-zucke und geweiteten Augen fixiert er das Krokodil, das aber nicht im geringsten beeindruckt ist. Bohni ist mithin eindeutig mein Zeuge, aber seine Aussagen verstehe leider nur ich. Des-halb beschließe ich, mich so normal wie möglich zu verhalten, bestelle Weißwürste und mache die ersten Scherze mit der Bedienung, obwohl sich das Krokodil mittlerweile schon in mein Hosenbein vorgewagt hat und dort so wild rumort, dass es an den Beinhaaren ziepft. Aber je länger das dauert, um so ehrlicher muss ich sagen: So schlecht ist das gar nicht, wieder einmal gründlicher berührt zu werden; wir wollen ja nicht gleich von Begehren oder so etwas reden, aber man fühlt sich wahrgenommen! Auch Bohni reagiert durchaus flexibel und fängt an, mit dem exotischen Wesen zu spielen. Das Krokodil wischt ihm immer mal eine mit seinem kräftigen Schwanz und Bohni versucht, den dann festzuhalten; aber nicht bösartig, eher mit sanftem Knabberbiss.

Also, wenn man so will, wir drei passen ganz gut zusammen. Und das ist ja heutzutage gar nicht so häufig, weil einen Deppen hast du schnell gefunden, der dich nur vollschmarren kann. Das Krokodil, das noch recht klein ist, halt so klein wie auf dem Ledererschild, hat sich schließlich bis auf meinen Schoß hochgearbeitet und kringelt sich dort ein. Ich könnte nicht sagen, dass es sich auf Anhieb nur angenehm anfühlt, es ist schon kalt und rau mit seinen gro-ben Schuppen. Aber dass es sich so vertrauensvoll dahin zu mir legt, Respekt! Und Bohni liegt gleich daneben. Ich bleib dabei, niemandem im Biergarten etwas zu sagen, die lachen ja nur und fragen mich frech, das wievielte Seidla ich alter Bierdimpfel  denn schon hätte. Nein, nicht mit mir! Ich setze einen dasig neutralen Blick auf und blinzle nur ab und an nach unten auf meinen Schoß: nein, es verschwindet nicht, im Gegenteil. Nach außen hin sieht’s sicher aus, als könnte ich kein Wässerchen trüben und ich muss ein bisschen schmunzeln, weil ich mir schon wie ein durchtriebener Geheimnisträger vorkomme. Aber in meinem Inneren tobt eine Schlacht. Eigentlich möchte ich das Krokodil behalten, einfach so, spontan, aber tausend Fra-gen und Zweifel jagen mich, dass es in mir nur so rauscht: Was ist, wenn es wächst? Ja warum sollte es nicht wachsen? Was frisst es eigentlich, jetzt als Junges und dann später? Menschen schon auch, ja jetzt hör mir auf! Hält es Winterschlaf und wo verstecke ich es in der Woh-nung? Die Elvira trifft ja der Schlag, wenn sie auf ein Krokodil in der Wohnung stößt, auch wenn ich ihr sagen würde, dass es ja bloß das vom Lederer ist. Wird das Krokodil brünstig und was kackt es wo aus? Werde ich schweigen können? Und was macht dieses Geheimnis mit mir, also mit der Persönlichkeit auf Dauer?

Erst am Abend, wenn der Biergarten aus allen Nähten platzt, weil die Leute nach der Arbeit vorbeischauen, verlasse ich die Sielstraße. Der Trubel gefällt mir nicht und Elvira könnte auch schon etwas ungeduldig werden. 
An besagtem Tag des Mysteriums hatte ich eine große Tasche dabei, weil ich ja noch einkau-fen sollte. Das Krokodil passt gut hinein und ich laufe mit Bohni gemütlich heim. Was zu kau-fen ist, fällt mir partout nicht mehr ein, aber dafür habe ich eine Idee, wo ich die Tasche mit dem neuen Freund so verwahren kann, dass ihn niemand entdeckt.

Mittlerweile ist’s Winter, ein sehr milder Winter, halt ein Klimakatastrophenwinter und ab Januar glimmt in mir schön langsam die hoffnungsvolle Vorfreude auf die nächste Biergarten-saison. Sie wollen wissen, was mein Ledererkrokodil macht? Uns geht’s gut, verraten wird aber Näheres nicht, schließlich wirkt ein Mysterium nur, wenn es ein Mysterium bleibt. Des-halb nur so viel: Uns geht es sogar sehr gut. Natürlich darf es gleich am ersten Öffnungstag mit in den Biergarten in der Sielstraße, das weiß es auch schon und, Sie werden es nicht glau-ben, ich kann es ihm ansehen, wie sehr es sich freut.
Übrigens auf dem Brauereischild dort ist das Krokodil nicht wieder erschienen seit es bei mir heimisch ist – ist aber keinem aufgefallen. Vielleicht weil es noch so viele andere Krokodil-bierschilder bei uns gibt. Setzen Sie sich in der nächsten Saison ruhig mal in die Nähe von ei-nem, es lohnt sich!

© WILFRIED CHRISTEL  '16