Mittwoch, 29. Oktober 2014

Dresden

Daddy steht draußen und raucht. Er hat Kaugummi dabei, den er großzügig, die Viceroy im Mundwinkel, an die aufgeregten Kinder verteilt. Ein großer Junge in kurzen Hosen mit dünnen,  langen Beinen und krustigen Knien greift durch die offene Scheibe ans Lenkrad und fährt mit seinen Fingern übers glänzende Chrom. Dabei stößt er einen anerkennenden lauten Pfiff aus und dreht sich lachend wieder meinem Vater und den anderen zu. Sie gestikulieren mit den Armen und stoßen verzerrte, breiartige Laute aus. „Das soll wohl amerikanisch klingen“, denke ich und eine merkwürdige Scham macht sich in mir breit. Ich verkrieche mich hinten noch tiefer in der roten Plastiksitzbank. Es ist stickig heiß und jede Bewegung meiner nackten feuchten Beine fühlt sich wie ein kleiner schmerzhafter Sog an, so, als würde der Bezug meine Haut nicht hergeben wollen. Ich ekel mich vor den schattenwerfenden klebrigen Händen auf den Scheiben, den großen, suchenden Augen und zahnlückig katschenden Mündern. Sie sind so anders als ich.

Alles hier ist grau. Die hohen alten Häuser haben die selbe, fast schwarze Farbe wie die Straße und bis auf die staubige Meute Kinder wirkt alles verlassen. Fast gar nichts bewegt sich und nicht mal die Leute heben sich von den Gebäuden ab. Sie sind so eilig wieder weg, wie sie kurz sichtbar waren. Im Haus gegenüber öffnet sich eine Tür wie ein Loch und Mama kommt, bunt wie eine schöne Puppe, mit einem Soldaten wieder zurück. Sie sieht in dieser Umgebung ganz fremd aus. Die Kinder verstummen und treten etwas ins Abseits als der Soldat unsere grünen Nummernschilder durch rote, ovale, ersetzt und sich dann knapp mit einem eigenartig unbewegten Maskengesicht und kalten Blick in die Augen meines Vaters verabschiedet. Im Auto lacht Mama glücklich und blättert vor Daddy mit einer Menge Papier und großer Scheine herum. Ich sehe Tränen in ihren Augenwinkeln. Er, die Viceroy im Mundwinkel, nickt, lässt den Sechszylinder an und steuert den weißen Dodge langsam, wie ein wogendes Schiff, durch die Untiefen der kaputten Straße. Die Kinder laufen noch eine ganze Weile winkend hinter dem Auto her bis ich die kleinen grauen Punkte nicht mehr von den Hauswänden unterscheiden kann. Ich drehe mich zurück nach vorn und stelle mich in den Raum hinter die Vorderbank. Ich lege meine Arme sanft um Daddy´s Hals. Sein warmer Nacken riecht gut. Mein kleiner Bruder schläft immer noch eingerollt und mit verschwitzten Haaren neben mir in seiner Ecke. Jetzt ist der Weg zu Oma frei.


Nach der Rückkehr von unserer Woche Aufenthalt bei Oma in der Deutschen Demokratischen Republik, verhaftete die Military Police meinen Vater noch am gleichen Abend. Er wurde mit sofortiger Wirkung nach 19 Dienstjahren unehrenhaft aus der United States Army entlassen und verlor alle Privilegien als Berufssoldat.

Erst als der Einberufungsbefehl für Vietnam vier Jahre später eintraf, hatte er die Möglichkeit, diese Ungeheuerlichkeit für sein Vaterland wieder gut zu machen.

1966.
Ich weiß bis heute nicht, wie er den Eisernen Vorhang überwinden konnte. Er hat nie wieder darüber gesprochen.

Minna Weise, 27.Mai 2014

Dienstag, 21. Oktober 2014

Liebe - Der Versuch einer Analyse


Ausgerechnet Liebe! Ausgerechnet dieses alte, dieses abgenützte, dieses ausgelutschte Wort, dieses so oft missbrauchte Wort. Dieses erhoffte, ersehnte, dieses besungene und geliebte Wort. Ausgerechnet Liebe! Ich weiß nicht, ob ich weiß, was das ist. Liebe ich? Wen liebe ich? Mich selbst? Höchst unterschiedlich und von der Tagesform abhängend. Meinen Nächsten wie mich selbst, wie es die Bibel fordert? Was für ein unsinniges Gebot. Wenn ich mir selbst zuwider bin, dann muss es mir folgerichtig auch der Nachbar sein, der mir ahnungslos im Treppenhaus begegnet …Schön. Lassen wir die eigene Person und die theologischen Haarspaltereien. Meine Schwester? Geschwisterliebe? Wir stehen uns nicht nahe, sind grundverschieden, Gegenpole sozusagen, verbringen kaum Zeit miteinander, weil wir keine Interessen teilen, aber in Krisenzeiten stehen wir zusammen; Blut ist dicker als Wasser und im übrigen Geschwisterliebe Pflicht. Meine Eltern? Ihnen bin ich näher, aus ihnen bin ich, Teil von ihnen bin ich. Hier trifft das Wort schon eher. Dieses Gefühl zärtlicher Zuneigung, das erst in späteren Jahren gewachsen ist, verbunden mit Nachsicht für die kleinen Schwächen, die ihr Alter mit sich bringt, die Wahrnehmung des Wenigerwerdens, die milde stimmt. Aber vielleicht ist auch dieses Gefühl nur Pflicht, genetisch festgelegt und gesellschaftlich bestimmt. Oder ist es mehr Dankbarkeit, verbunden mit einer gewissen Wehmut, weil die eigene Jugend längst Vergangenheit ist? Meine Freunde? Liebe ich meine Freunde? Ich habe treue, liebenswerte, zuverlässige Freunde. Die langjährigste Freundschaft  währt 42 Jahre; eine Freundin, der ich alles, wirklich alles sagen kann, die ich alles fragen kann. Ein Freundschaft, die räumliche Distanz, völlig unterschiedliche Lebensentwürfe, Kinder und zwei Pferde unversehrt überstanden hat. Was für eine Kostbarkeit! Wie viele unbeschwerte oder auch heiß durchdiskutierte Stunden habe ich mit Freunden erlebt, wieviel Freude und Lebenslust, wieviel Leid und Trauer mit ihnen geteilt. Und doch würde ich bei keinem von ihnen von Liebe sprechen. So nah und vertraut wir uns sind, es ist eben Freundschaft, ehrliche tiefe Freundschaft. Und Freundschaft ist eine gegenseitige Sache. Ich kann jemanden lieben, ohne widergeliebt zu werden, aber Freundin  kann ich nur dem Freund, der Freundin sein.
Also, wo bleibt nun die Liebe? Natürlich liebe ich, jeden Tag: ich liebe Nudeln mit Zitronensauce, trockenen, mineralischen Weißwein, im Winter auch schweren, runden Rotwein und dunkle Schokolade zu jeder Jahreszeit - und natürlich liebe ich Oscar. Oscar begleitet mich seit neun Jahren, schwarz, einseitig weiß gesockt, lautlos, manchmal rätselhaft, meist schnurrend, selten klagend. Hier liebe ich und werde geliebt – jedenfalls zur Futterzeit und in kalten Nächten. Im übrigen bin ich nachsichtig geduldet. Immerhin. Und treu ist Oscar außerdem.

Ob H. das auch ist? Vielleicht. Würde ich merken, wenn nicht? Vermutlich nein. Aber als Liebende müsste ich jede Veränderung spüren – gar nicht so einfach, wenn man Tisch und Bett nur zeitweilig teilt, meist bei mir, seit Oscar, der Ortsveränderungen hasst, auf H.s edlen Louis-quinze-Sessel gepinkelt hat. Zeitliche und räumliche Distanz lässt den anderen immer wieder ein wenig fremd werden. Liebe ich H.? Wieviel unkomplizierter ist die Antwort bei Nudeln und Oscar. Wie leicht spricht sich’s da von Liebe! Ich starre H. an, die Ellbogen aufgestützt, die Kaffeetasse in beiden Händen. Er ist in Umsatzzahlen vertieft und nimmt mich gar nicht wahr. Erst als ich aufstehe und seinen Nacken kraule, blickt er auf. „Du streichelst mich wie deinen Kater“. Immerhin, den liebe ich. Aber ich schweige, denn der milde Vorwurf war nicht zu überhören. H. klappt den Laptop zu, steht auf, lächelt ein wenig schräg und sagt: „Ich lieb' dich trotzdem. - Denkst du an die Theaterkarten für nächsten Freitag? Und frag' Ina und Klaus, ob sie anschließend noch mit ins "Cantabile" gehen."
Er muss fort, weil er am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe nach Hamburg fliegt und noch Verschiedenes vorzuberiten hat. An der Wohnungstür wendet er sich um und sieht mich mit einem Blick an, den ich den Cavalier-King-Charles-Spaniel-vor-dem-Futterschrank-Blick nenne, und sagt: "es wäre so schön, nur zwei Zimmertüren weiter zu gehen, um einen Koffer zu packen." Der Spaniel steht kurz vor dem Hungertod.

Ich küsse H. sehr züchtig auf die Wange und schiebe ihn sanft zur Tür. "Du würdest dir ganz schnell deine eigenen vier Wände zurückwünschen. My home is my castle."
Er geht, seine Schritte hallen im Treppenhaus. Durch das Küchenfenster sehe ich ihn zur Hautür hinaustreten, sehe seine leicht gebeugte Gestalt, die widerspenstig abstehende Haarsträhne auf dem Hinterkopf, die ihm, dem Ordentlichen, Systematischen, etwas Nachlässiges verleiht, sehe seinen typischen, leicht unrunden Gang, und ein Gefühl von Zärtlichkeit und Zuneigung steigt in mir auf, steigt auf bis oben hin und ich schlucke und blinzle und möchte rufen: warte - warte, ich komme mit! Aber ich schweige, lehne meine Stirn an den kühlen Fensterrahmen, halte mich am Griff fest und schicke ihm eine Kusshand nach. Dann ist er weg. Eine Weile verharre ich noch so, bis die kühle Herbstluft mich frösteln lässt, dann schließe ich das Fenster und trödle zum Esstisch zurück. Es ist still in der Wohnung. Auf H.s Stuhl räkelt sich Oscar und schaut mich aus goldgrünen Augen an. Ich glaube, er lächelt.

Fürth, 05.10.14
Sonja Meier

Dienstag, 29. Juli 2014

Pralles Leben


Ihr letztes Buch war wieder ein Welterfolg geworden. Sie lag auf der Liege am Pool und fuhr sich mit der Zungenspitze über ihren vollen Mund. Dieses Mal hatte der Schönheitschirurg wirklich Mist gebaut.


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Wir stehen alle festlich eingekleidet und schwitzend um den wunderschön geschmückten Baum und singen. Der Braten duftet köstlich.

Oma gibt sich wirklich große Mühe. Wir sollten sie doch öfter besuchen. Nicht wieder erst im Juli.

Donnerstag, 24. Juli 2014

Ein Tag in Stierberg

Stierberg

am Morgen

unsicher, mit steifen Beinen
geh ich den Gänseblümchenweg
um mich herum
lautes Hummelgebrumm
und ich möchte weinen.


am Mittag

Kirschbaumflüstern in den Ohren
füll ich Blatt um Blatt
keins davon scheint ausgegoren...

Doch jedes Wort
vom Wind geboren
macht mich richtig satt!



am Nachmittag

Regentropfen auf der Tinte
plantschen mir die Worte fort
vielleicht suchen sie woanders
einen mächtigeren Hort?

Nichts für ungut!
Mir reicht`s Leuchten.
Das vom Bier...
und auf den Halmen
---und das Qualmen!

Hier,
an diesem Zauberort!

Minna Weise, Stierberg, am 25.Mai 2014

Montag, 23. Juni 2014

Noch kürzere, eingedampfte Wendepunkte

Ja verreck, war die schee. A jeder hat si in der Schul verlibt in die Gudrun. Und etz? Lebds mit aner Fraa, die blaide Sulln…



Tina hatte alles, Mann, Kind, Haus, Hund, Cabrio und hätte glücklich sein können. Geld war auch im Überfluss vorhanden. Genauso wie das Schwiegermonster.


Schneewittchen war aus dem Weg geräumt. Die Stiefmutter konnte getrost ihren Spiegel befragen.
Wäre da nicht ihre 15 Jahre jüngere Stiefschwester gewesen.
























Der Kirschbaum war in voller Blüte, ein gutes Kirschenjahr kündigte sich an. Wilfried sah schon Marmeladengläser in den Ästen hängen.
Und dann kam Wiebke.



Kratz mich, beiß mich, gib mir Tiernamen, fleht die ans Bett gefesselte Siglinde. Erschöpft und befriedigt fallen sie ineinander.
Seine 100 kg auf ihre 60. Herzinfarkt.





Eingedampfte Wendepunkte

Da war diese 80 Jahre alte, einsame Frau, verwitwet und vom Leben gezeichnet. Margaretha, einsam auf ihrem Hof in Monte del Torro. Mir kommt kein Mann mehr ins Haus. Männer machen nur Arbeit und man muss für sie kochen. Sie hasste kochen, obwohl sie gerne aß.

Der neue Nachbar war so nett mit seinen 73 ein flotter Feger. Der sie eines Abends einlud zum Einstand. Verliebt hat sie sich sofort. In die besten Schäuferle der Welt.



Da waren Willi und Gabriele am Rande der Verzweiflung. Der schöne Garten kurz vor dem Kollaps. Hängende Blumen überall, Wasservorräte leer, die große Dürre. Gießverbot von der Stadt erlassen, streng überwacht.

Sie sorgten sich und sinnierten was man tun könnte. Sämtliche Alternativen wurden in Betracht gezogen. Schamanen, Indianer, Esotanten. Es wurde so einiges probiert und die Stierberger Nachbarn sagten schon: Etz spinners dodal, erscht Depression, dann Philosophie und etz a nu Deifelszeich. Hüpfen singend im Gardn als dädns Muggn fanga wolln und des Gejaule dazou…

Wussten aber, worum es ihnen ging, den Zugereisten. Und dann plötzliche Erfurcht, denn am Abend kam Wiebke.

Fürtherin, 26.05.2014 in Stierberg



Mittwoch, 18. Juni 2014

Drei kurze Wendungen

Herr H. verzweifelte jeden Tag bereits am Morgen. Sein Dienst im Finanzamt begann um 7.30 Uhr. Allein der Weg dorthin war eine Strafe.  Drei Fünftel aller Bürger der Stadt waren zu dieser Zeit unterwegs, alle Straßen verstopft. Also fuhr Herr H.  Öffentliche. Auch der Bus war jeden Morgen überfüllt. Schreiende, drängelnde Kinder trampelten auf seinen Füßen und seinen Nerven herum, der Achselschweiß der anderen beleidigte seine Nase und der Knoblauchduft des zahnlosen Rentners, der sich jeden Morgen zu ihm gesellte, brachte ihn nahe an eine Ohnmacht. An seiner Haltestelle stieg er aus, befreit von der Nähe der anderen, voller Grauen vor dem Kommenden. Acht Stunden Dateneingabe – nur Zahlen tippen, nur die Finger bewegen. Jeden Tag acht Stunden Ödnis. Jeden Morgen glaubte er die große Glastür nicht mehr öffnen, die Stufen zu seinem Büro nicht mehr bewältigen zu können. Jeden Tag gelang es dennoch. Hatte er seinen Schreibtisch erreicht, wo ihn der Computer mit schwarzem, gähnendem Rachen erwartete, atmete er schwer.
Aber heute, am Freitag, den 13, hatte der Bus sieben Minuten Verspätung. Es hatte einen Unfall gegeben. Herr H. ging etwas eiliger, bebender zur großen Glastür. Er musste Atem holen, bevor er sie öffnen konnte.
„Verzeihung“, sagte eine weiche Stimme neben ihm. „Könnten Sie mir bitte helfen?“
Er sah auf. Die Frau war jung, schön, blond, üppig und hatte die sanftesten Augen, die er je gesehen hatte. Sie lächelte. Neben ihr glänzte ein Porsche Cabrio.
„Wie?“ Er wusste nicht, ob er es gesagt oder nur gedacht hatte.
„Wie immer Sie wollen.“
Er überlegte lange. Dann lehnte er seine Aktentasche an die große Glastüre und stieg in den Wagen. „Würden Sie mich mitnehmen?“
„Wohin?“
„Wohin Sie wollen.“
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Es ging ihr gut. Es ging ihr unbeschreiblich gut. Sie hatte ihren Ruhestand erreicht, ihren Mann das Kochen und Bügeln gelehrt, hatte vor zwei Monaten einen nicht unerheblichen Betrag im Lotto gewonnen und diese Wohnung, die sie so sehr liebte, gekauft. So konnte sie es einfach nicht fassen, dass sie, als sie an diesem Morgen aufwachte, tot war.
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Er war so stolz auf sein neues Auto. Glänzend schwarz, stromlinienförmig, schnell -  damit konnte er punkten. Er hatte sich gestylt, passend zum Wagen. Lisa sollte staunen. Er fuhr rasant, hatte es schließlich eilig, nahm die letzte Kurve knapp – verfluchtes Katzenvieh! Unwillkürlich verriss er das Steuer, durchbrach den niedrigen Zaun und stand auf der Terrasse. Lisa blickte erschrocken aus dem Fenster. Dann schloss sie es sacht.
Stierberg, 25.05.14
Sonja Meier
....und ....
Eine letzte Wendung
Dietmar Dills Leiden endeten, als er entdeckte, dass er, indem er Zeige- und Mittelfinger der linken Hand kreuzte und mit Ringfinger und Daumen der rechten einen Kreis formte, die Haut eines anderen verfärben konnte, wenn er diesen anblickte. Er entschied sich für grün. War er vorher, weil klein und pummelig, der Prügelknabe der Klasse gewesen, so schaffte er sich nach und nach eine gewisse respektvolle Distanz. Gewiss, von heute auf morgen ging es nicht. Die Knaben, die sich über ihn lustig machten, seine Unsportlichkeit verhöhnten, die ihn drangsalierten, ja manchmal verprügelten, brauchten eine gewisse Zeit, die Zusammenhänge herzustellen. Keiner von ihnen hätte sich am Verfärben an sich gestört, von Torsten Teufel einmal abgesehen, der sich schwarz wünschte, aber die abendlichen Reinigungszeremonien waren anstrengend und da die Haut vom Schrubben immer dünner wurde, schließlich schmerzhaft. Dietmar Dill gewann an Ansehen. Anfänglich wendete er den Blick für Süßigkeiten oder Cola ab und hielt die Finger ruhig. Dann verlangte er die Übernahme seiner Hausaufgaben, schließlich Geld. Nach und nach wurde er zum unumschränkten Herrscher des Pausenhofes.
Seine Vormachtstellung begann zu bröckeln, als Rita Ratz entdeckte, dass sie durch bloßes, konzentriertes Betrachten die Ohren ihres Gegenübers  in von ihr gewünschte Größe und Form wachsen lassen konnte.
Nachträglich, im Geist von Stierberg, 27.05.14
Sonja Meier


Suppenhühner


Als ich von der Erbschaft erfuhr, war ich gerade im Stress. Ich hatte  meine Wohnung renoviert oder vielmehr renovieren lassen und das „lassen“ hatte mindestens soviel Arbeit, Ärger und Zeitaufwand gekostet, als hätte ich es selbst gemacht. Aber immerhin, das Ergebnis konnte sich sehen lassen: klare Linien, weiße Wände, weiße Türen, weiße Fliesen. Durch große Fenster der Blick über die Dächer der Stadt.
Ich war im Begriff mich neu einzurichten, die Lieferung der Möbel verzögerte sich um Wochen. Drei Monate lebte ich auf einer Baustelle, entnahm die Dinge des täglichen Bedarfs verschiedenen Kisten, verstaute sie abends wieder in anderen und verbrachte die Tage in Auseinandersetzungen mit Handwerkern und Raumausstattern und die Abende mit suchen. Und dies alles neben meinem Job. Ich bin Geschäftsführerin eines kleinen Modeateliers, zutreffender wäre allerdings Mädchen für alles. In meinen Kompetenzbereich fällt die Preiskalkulation genauso wie der Kauf der Stoffe, Kundenpflege, Werbung, Planung der Messetermine und der Einkauf des Klopapiers. Während der Renovierungsarbeiten hatte mein Arbeitstag dreizehn Stunden.
Jetzt endlich der Endspurt: das  Mobiliar wurde geliefert, ich fing an einzuräumen, neu zu ordnen, vieles wegzuwerfen, mich wieder zu organisieren. Dazwischen platzte die Nachricht vom Erbe des Häuschens in Niedersachsen, hinterlassen von meiner kinderlos gebliebenen Tante, eigentlich meine Großtante, mütterlicherseits. In Kindertagen war es für ein paar Jahre mein Feriendomizil gewesen; für ein Stadtkind ein Ort unvorstellbarerer Freiheit, voll von Abenteuern, mit fremden Gerüchen, selbst gemachter Marmelade und frischen, noch nestwarmen Frühstückseiern. Das lag über dreißig Jahre zurück, und nun empfand ich nicht einmal Dankbarkeit für die Zuwendung, nur Überdruss. Ich hatte mich auf mein neues Wohngefühl gefreut, auf die so sorgsam wieder hergestellte Ordnung, auf endlich  unzerknitterte Kleidung und auf Schuhe, die sich nicht hartnäckig einzeln in wechselnden Kappboxen verbargen. Ich hatte mich auf Kino, Konzert und Theater gefreut, auf all das, was man mit Freunden unternimmt, wenn man Zeit dazu hat. Nach drei Monaten Chaos wollte ich mich nicht auch noch mit dem Verkauf einer abgewirtschafteten Immobilie in Niedersachsen befassen.
Aber ich musste wohl.
Ich verband den ersten Besuch mit dem von Freunden in Hamburg. Ich freute mich auf die Stadt und auf die alten Freunde.
„Ach, ziehst du jetzt etwa auf’s Land?“ fragte Eva belustigt, als ich erzählte. „Dann müssen wir Gummistiefel kaufen gehen“.
Wir standen in Sarah Willmers Galerie und feierten den allerersten Verkauf eines von Evas Bildern.
„Karin nimmt ein Sabbatical“ grinste Jörg. „Sie vergisst für ein Jahr Mode und Modemachen und bestellt die eigene Scholle.“
Ich wusste nicht mal mehr genau, wo sich die Scholle befand, geschweige denn, wie sie aussah. Mein letzter Besuch lag Jahrzehnte zurück. Ich fuhr am nächsten Tag los, noch ein wenig verkatert von Evas Feier, fuhr über ebenes Land nach Süden, durch Dörfer, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Zweimal meldete mein Navi, eine Wegempfehlung könne nicht gegeben werden, aber nach knapp zwei Stunden erreichte ich doch Emdachsen. Das Häuschen lag am westlichen Ortsende, an ungeteerter Straße. Es war gänzlich zugewachsen von Efeu, wildem Wein, von Büschen, Bäumen, vom Wildwuchs der Natur, die längst die Überhand gewonnen hatte. Die Nachbarin gab mir den Schlüssel. Ich tastete mich den schmalen, Moos bedeckten Weg entlang, schlängelte mich durch hüfthohe Brennnesseln, streifte durch Spinnennetze und verfluchte meine Pumps. Die Steintreppe wies Frostlöcher auf, die Haustür klemmte. Als ich mich dagegen stemmte, riss mein Top an einem Holzspan. Im Stillen verfluchte ich auch das Top. Drinnen sah es aus wie draußen: Verfall und Verlassenheit. Die wenigen Möbel trugen eine dicke Staubschicht, vergilbte Bilder an den Wänden. Ärmlichkeit. Langsam ging ich durch die kleinen Zimmer – Puppenstube, fiel mir ein. Ich sah die Tante vor mir: klein und mager, mit dicken Brillengläsern in dem runden, freundlichen Gesicht; Augen, die immer ein bisschen verwundert blickten und ein bisschen schüchtern.
„Sie war das letzte Vierteljahr im Heim“ sagte eine Stimme hinter mir. „Da ging’s einfach nicht mehr“. Der Nachbar stand in der Tür. „Wir haben uns ein bisschen gekümmert.“
Ich dankte, sagte, dass ich einen Makler beauftragen würde und ein Entsorgungsunternehmen, wenn ich alles gesichtet hatte.
„Und die Hühner?“ fragte der Nachbar.
„Hühner??!“
„Jou, drei sind noch da. Wir haben ja nicht gewusst, was Sie damit machen wollen; wir haben sie halt gefüttert die Zeit.“
Ich ging nach draußen, schlug mich ein weiteres Stück durch den Urwald und fand den kleinen Hühnerhof hinter dem Haus. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht, und ich rutschte auf dem Hühnerkot aus und wäre fast gestürzt. Der Nachbar fing mich auf. Er grinste. „Müssen Sie selber wissen, aber ich denk‘, die Schuhe sind hier nicht gut.“
Ich sagte nichts. Drei Hühner standen am Zaun und starrten mich an. Das erste legte den Kopf schief und gackerte.
„Anna, Berta und Dora“ sagte ich. „Mit C ist Tante Elsbeth nie ein Name eingefallen.“ Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. „Sie hat ihre Hühner immer alphabetisch benannt und sie konnte sie auseinander halten.“
„Aber die sind alt. Die legen schon lang nicht mehr. Wenn Sie wollen, dreh‘ ich ihnen die Krägen rum. Für eine Suppe tun sie’s noch.“
„Nein.“ Der Kloß steckte immer noch. Ich blickte auf den Urwald, blickte auf meine ruinierten Schuhe und straffte mich. „Tante Elsbeth hatte keine Suppenhühner.“
Ich würde Gummistiefel kaufen müssen.

Stierberg, 24.05.14

Sonja Meier

Tod durch Ertrinken

Hans-Hermann Hunsinger betrachtete sich im Spiegel, prüfte die Wunde, die der am Tag zuvor gezogene Backenzahn hinterlassen hatte, strich sich über die letzte, dünne Haarsträhne über seiner Stirn, registrierte die Tränensäcke unter den Augen mit dem Fassungsvermögen der Restmülltonne des Sechs-Parteien-Hauses und beschloss den Verfall  seines Körpers erheblich zu beschleunigen, indem er seinem Leben ein Ende setzte. Nicht auf die Art und Weise, die ihm vor einiger Zeit sein langjähriger, vertrauter Orthopäde angeraten hatte, der empfahl, wenn er, Hans-Hermann, in dem fortgeschrittenen Alter, also jenseits der Fünfzig, gänzlich schmerzfrei sein wolle, so solle er in dem Haus, in dem sich die Arztpraxis befand, in den obersten Stock fahren – es sei der dreizehnte – dort zur Feuertreppe hinaustreten, von der kleinen Plattform auf die Brüstung steigen und hinabspringen und er, Hans-Hermann, könne sicher sein, sozusagen ärztlich garantiert, in kürzester Zeit  von Beschwerden jeglicher Art befreit zu sein. Hans-Hermann war vom dritten Stock, in dem sich die Praxis befand, bin in die zehnte Etage gefahren und dann die restlichen drei Stockwerke langsam, den quälenden Fersensporn ganz bewusst wahrnehmend, zu Fuß hinaufgestiegen. Er blickte über die Brüstung auf die Bahnhofsgebäude und auf die Schienenstränge, bis zu dem Punkt, wo sie sich in der Ferne verloren, und er blickte auf den Parkplatz unter ihm, wo Asphaltarbeiten durchgeführt wurden. Das Knattern der Presslufthämmer drang hinauf bis zu ihm und beleidigte sein empfindsames Ohr. Da er zudem keine Lust verspürte, einem verschwitzten Bauarbeiter auf den Kopf zu springen, war er wieder gegangen, war die Stockwerke hinuntergefahren – diesmal alle – und hatte die Entscheidung vertagt.
Er wollte, dachte er nun vor dem Spiegel, eine so nachhaltige Operation mit einem gewissen Stil erledigen und den angekündigten strengen Nachtfrost nutzen. Er kleidete sich an, verließ das Haus, erwarb in der nahe gelegenen Apotheke eine große Packung Schlaftabletten und im Feinkostgeschäft zwei Straßen weiter eine Flasche 25 Jahre alten Cognac zu 348.--€. Am späten Abend packte er Tabletten, Cognac, ein Glas, ein Sitzkissen und eine Taschenlampe in den Packnickkorb, zog – angesichts des Vorhabens – nur eine leichte Jacke über, verzichtete auf den Schal und ging in den Wald. Er ging lange, bis er eine Stelle fand, die ihm geeignet schien, ließ sich nieder und nahm die Tabletten mit Hilfe des Cognacs ein. Da er wenig Erfahrung mit Schlaftabletten und Alkohol hatte, wurde ihm zwar übel, doch wurde er auch rasch etwas benommen. Die Welt begann sanft zu schaukeln, und nach dem Genuss etwa der Hälfte des Proviantes schlief er, eingebettet zwischen zwei Baumstämmen, schließlich ein.
Ein Reh, ein Fuchs und zwei Hasen, die das Geschehen mit lebhaftem Interesse verfolgt hatten, legten sich, nachdem der Fuchs um den Preis des im Glas verbliebenen Cognacs den anderen unbehelligten Aufenthalt und freies Geleit zugesichert hatte, neben und auf den Schlafenden, wärmten seine Flanken und seine Brust und da ein unerwarteter Föhnsturm über Nacht Regen und mildere Temperaturen brachte, wachte Hans-Hermann 24 Stunden später nass und mit heftigen Halsschmerzen, aber ohne Erfrierungen auf, versuchte sich zu erinnern und trottete schließlich nach Hause.  Noch etwas benommen, verschmutzt und mit Juckreiz am ganzen Körper – die Flöhe des Fuchses hatten die Gelegenheit zu einem Ausflug genutzt – entschloss er sich, ein Erkältungsbad zu nehmen und ließ Wasser in die Wanne. Er zögerte, als sein Blick auf den Fön fiel: 1800 Watt. Vorsichtig legte er das Gerät auf den Rand, dort wo dieser am breitesten war, und stieg in die Wanne. Das heiße Wasser umspülte seinen ausgekühlten Körper, die ätherischen Öle ließen ihn freier atmen. Er starrte den Fön an und schwankend zwischen Wunsch und Furcht hob er langsam das Bein, zögerte noch einmal, schloss ganz fest die Augen und schob das Gerät mit einer raschen Bewegung ins Wasser.
Es geschah nichts, gar nichts. Er öffnete die Augen wieder, vorsichtig, eines nach dem anderen, und ganz allmählich, geradezu mühsam, als müsse er sich einen Weg nach oben erarbeiten, stieg ein Gedanke in sein Bewusstsein: er hatte vergessen, das Kabel in die Steckdose zu stecken. Hans-Hermann setzte sich auf, nahm den nassen Fön aus der Wanne, stieg selbst heraus, ebenso zögernd und umständlich, wie vorher der Gedanke in sein Bewusstsein gedrungen war, öffnete den Wasserablauf  und trocknete sich zitternd ab. Er setzte sich im Wohnzimmer in einen der abgeschabten Sessel, starrte auf den staubigen Glastisch, den Picknickkorb mit dem klebrigen Glas und der halb leeren Flasche und schließlich füllten sich seine Augen mit Tränen, quollen über, die Tränen wuchsen sich aus zu kleinen Bächen, die anschwellend sein Gesicht und seinen Bademantel nässten. Er weinte und weinte und konnte nicht aufhören.
Als eine Woche später das Ehepaar, das die Wohnung unter ihm bewohnte, aus dem Skiurlaub zurückkehrte, fand es Decken und Wände durchnässt vor, auch der Boden trug feuchte Spuren. Da ihnen auf Klingeln und Klopfen im Stockwerk darüber nicht geöffnet wurde, riefen sie schließlich die Feuerwehr, die die Wohnung aufbrach. Sie fanden Hans-Hermann Hunsinger tot vor einem Sessel liegend, den Fußboden und die Wände auf halbe Höhe durchnässt vor. Polizei und Notarzt wurden verständigt. Der Gerichtsmediziner diagnostizierte Tod durch Ertrinken und auch die Obduktion gab keine weiteren Aufschlüsse. Rätselhaft blieb die Herkunft des Wassers. Weder die hinzugezogenen Chemiker des Fraunhofer Instituts noch Polizei und Gerichtsmedizin, die wochenlang Fakten prüften und mögliche Abläufe erwogen, fanden jemals eine Erklärung für die weißen Ränder an Decken und Böden. Nur dass es Salz war, das stand fest.

01.05.14
Sonja Meier


Der Moment, in dem du alles weißt

Gertrud erlebte als Kind noch so viel vom Krieg, dass ihr klare Erinnerungen blieben: die Bombardierung ihrer Heimatstadt München, die Evakuierung der Familie ins ungefährdete Rottal, das tägliche Warten der nervösen Mutter auf Briefe vom Vater an der Front. Später wird sie sagen, dass sie das tief prägte, viel grundsätzlicher und härter als ihr Teenagerdasein in der Zeit der frühen Bundesrepublik. Der Besuch des Mädchengymnasiums verlief quirlig, abwechslungsreich, forderte nichts Entscheidendes oder Beschwerendes. Eine leichtfüßige, fast tänzelnde Zeit für junge Frauen, wie das halt so üblich ist für Achtzehnjährige, deren Herz genauso aufgeregt bei der Lateinschulaufgabe pocht wie beim Anklopfen des Tanzpartners, der sie zum Kurs abholt und an der Eingangstür brav einen Diener macht. Vielleicht war auch das erstaunliche Wirtschaftswunder des jungen, zur Demokratie entschlossenen Staates daran schuld, dass Gertrud ihr Leben ein wenig wie beschwipst wahrnahm, prickelnd jedenfalls. Alles war möglich: Papa kam heil aus dem Krieg zurück, machte schnell Karriere als Notar und Senator, Mama gab die Lehrtätigkeit auf und übersetzte englische Literatur ins Deutsche, die ältere Schwester Dietlinde studierte selbstbewusst Jura. Die Familie fühlte sich mit Recht binnen kurzem der Münchner Oberschicht zugehörig, ihr Haus, ihr Lebensstil fingen an zu glänzen. Der Papa, liberal in der Grundhaltung und von gediegener Bildung, hatte Großes vor mit seinen beiden gescheiten Töchtern.
Besagter Tanzstundenpartner wurde manchmal zu Festen der Familie geladen; warum nicht auch er? Gertrud witzelte gerne über ihn, der tapfer Chemie studierte und so reizend ungelenk wirkte, wenn er den Kavalier zu spielen versuchte und sich dabei immer wieder in plumpe Ungeschicklichkeiten verstrickte, die natürlich seiner niederbayerisch bäuerlichen Herkunft entstammten. Aber er tanzte gut, war bisweilen witzig, wenn auch nicht wirklich geistreich. Amüsant zu sehen, wie er sich abrackerte, aber letztlich nicht wichtig in dem attraktiven Leben, das Gertrud genoss.
Und dann ging alles schnell, noch schneller, als es die junge Abiturientin schon kannte. Dieser Rudolf, so hieß der aufstrebende Bauernsohn, warb Tag für Tag heftiger um Gertrud. Er war immer präsent, rief an, schickte Präsente, Blumen natürlich auch, erbat einen Ausgehtermin nach dem anderen. Als Gertrud mit Freundinnen sechs Tage Urlaub am Gardasee verbringen durfte, brauste er mit seiner Vespa in ihr Feriendomizil und stand grinsend vor ihrer Hotelzimmertüre – „So, da bin ich, dein Rudi lässt nicht locker, gell?“  Ja, das war es, er nannte sich einfach „ihr Rudi“, erklärte unaufgefordert, er werde immer für sie da sein und sie nie im Stich lassen. Gertrud wunderte sich, wie er auf solche Schwüre kam, ließ ihn aber gewähren. Es war zu schmeichelhaft, so heftig begehrt zu werden, keine ihrer Klassenkameradinnen hatte das schon erlebt und nun passierte ihr das in solcher Überschwänglichkeit. Sie kicherte, als sie ihrer Freundin erzählte, dass Rudi mittlerweile vom Heiraten und Kinderkriegen sprach. Die Freundin kicherte mit ihr mit. Was sollten sie sonst anderes machen? Sicher, Gertrud litt auch manchmal an der Penetranz ihres Rudolf. Sie bemerkte, wie ihre ältere Schwester beim Erwähnen seines Namens die Augen verdrehte und ihr Vater die Stirn runzelte, aber sie war nicht fähig zu durchschauen, dass Rudi vorging wie ein Bauer, der im Frühjahr binnen zwei Tagen seinen Acker bestellen muss, „weil das Wetter g’rad passt“. Er stand kurz vor dem Examen und wollte fast zeitgleich mit der Familiengründung starten, wenn nicht jetzt gleich, wann denn sonst? Und „gepasst“ hat die schlanke Gertrud gut, denn sie kam aus reichem und angesehenem Haus, war halt wer. Und Rudi wollte auch wer sein, der Bauernsohn, der demnächst in Chemie promovierte. Die Ereignisse überschlugen sich, die planerischen Aktivitäten des Bräutigams, wie er sich nun nannte, wurden immer genauer und konkreter. Gertrud verfiel in ein Staunen darüber und über sich selbst. Suchte sie nach Erklärungen, sagte sie erstaunlich oberflächlich, sie beide seien halt etwas „früh dran“, studieren könne sie ja dann auch noch nach dem ersten Kind – „die einen so, die anderen so“, warum nicht? Die Eltern warnten, aber natürlich dezent, übten keinen wirklichen Druck auf sie aus, was zu ihrer toleranten Aufgeklärtheit ja auch nicht gepasst hätte.
Schließlich war es so weit, noch keine 20 heiratete Gertrud ihren 10 Jahre älteren Rudolf, Doktor der Naturwissenschaften. Sieben Monate hatte sein Werben gedauert und sich Schritt für Schritt unentwegt gesteigert. Die Eltern, die Kirche, alle gaben ihren Segen. Als Gertrud vor dem Tisch des Standesbeamten saß, sie den Ring mit ihrem Bräutigam austauschte und plötzlich mit dessen Nachnamen die Beurkundung bestätigen sollte, durchzuckte sie es. „Nein, das ist er nie und nimmer. Mit dem will ich doch nicht zusammen mein Leben verbringen.“ So glasklar blitzte es in ihr auf. Sie berichtete später einmal, dass in ihr der Satz „Das ist falsch, was du hier tust!“ Wort für Wort zu hören gewesen sei. Es blieb aber beim Aufblitzen, dem glasklaren. Folgen hatte es keine. Woher hätte auch der Mut zu dem für eine radikale Änderung notwendigen Eklat kommen sollen?

25 Jahre musste sich Gertrud mit dieser Ehe herumplagen, drei Kinder, die ihr große und größte Sorgen bereiteten, zog sie dabei auf, bis sie sich entschloss, Rudi zu verlassen.

Als ich Gertrud einmal in einem Gespräch, in dem es um „Momente, in denen man alles durchschaut“, ging, lächelte sie, ich glaube, sie lächelte entspannt.  

Wilfried Christel

Die Goldene

Sie wusste, dass das ein ganz entscheidendes Ereignis werden würde. Der Bürgermeister würde selbst zum Gratulieren vorbeikommen, die Leute vom Gemeindeblatt würden ein Foto machen. Bei der Goldenen erschien das dann automatisch. Oh Gott, sie brauchte noch einen passenden Friseurtermin kurz davor. Die Tochter war angewiesen, das kleine Häuschen  so umzuräumen, dass man eine Festtafel einrichten konnte. Der Sohn schaffte Getränke herbei. Unmengen von Kuchen und kalten Platten waren bestellt. Ob’s auch wirklich reicht? Ihr schwirrte der Kopf, alles hing an ihr, dachte sie. Aber er musste ja doch die längste Zeit liegen, war eben so. Dann rief sie nochmals die Gäste an. Sie wollte es direkt von ihnen hören, dass sie auch ganz sicher kämen. Nein, macht euch doch keine Umstände mit Geschenken, was braucht denn unsereins noch, Hauptsache ist, wir sehen uns. Langes Nachdenken, lange Gespräche , was sie denn anziehen sollte. Welches Kleid machte noch ein bisschen was her? Meinst du nicht doch lieber das plissierte oder das braune, das seidene? Wer kehrt den Hof noch einmal gründlich?
Dann war der Tag der Goldenen ganz rasch da. Alles lief wie am Schnürchen. Die Anrufe absolvierte sie tapfer, bemühte sich nach jedem Klingeln um einen frischen Ton; gerade bei den Floskeln gelang das immer wieder erstaunlich gut. Kam das Gespräch auf ihren Mann, zitterte ihre Stimme, ein paar Atemzüge lang weinte sie dann in den Hörer. Aber sonst klappte alles. Sie empfing die Gäste, lenkte Blumen und Geschenke auf den Gabentisch, dankte für die artigen Glückwünsche und Komplimente. Ja, ja, alles Gute für die nächsten 50 Jahre, danke, du Schelm. Warum nicht ein Tänzchen wagen? Tapfer schaute sie in die Fotokamera : das Glück festhalten und so lächeln, dass man später noch gerührt sein würde von ihrer Art zu schauen. Danke, Herr Bürgermeister, dass Sie persönlich, oh, Herr Pfarrer, wie schön, dass Sie auch verbeischauen. Ihrem Mann hatte der Hausarzt eine Art Wunderspritze verpasst. Er konnte danach tatsächlich Hände schütteln und ein paar von seinen alten Sprüchen und Witzen aufsagen. Später wechselte sie an der Tafel öfter den Platz, ganz die zugewandte Gastgeberin, wollte sie mit allen, die gekommen waren, auch persönlich reden. Auf den Stühlen, auf denen sie gesessen hatte, hinterließ sie nasse, braune Flecken im Polster. „Mutti, übernimm dich doch nicht. Bleib sitzen, die Leute kommen doch zu dir her!“, sagte die Tochter verlegen.

„Aber, das macht mir doch nichts!“
Sie strahlte. Ihre Augen blitzten unter der Perücke hervor, die sie seit der Chemo tragen musste. Ihre Goldene!

„Stellen Sie sich vor, wir feiern tatsächlich noch unsere Goldene!“

Wilfried Christel 

Montag, 12. Mai 2014

Die Kehrseite der Medaille

Bettina betrat das Kaufhaus mit raschem Schritt und flüchtig wunderte sie sich über ihre Ruhe und über das Fehlen jeden Zweifels. Aber es musste getan werden, und heute würde sie tun, was nicht mehr aufzuschieben war. Sie orientierte sich kurz, überblickte das weitläufige Erdgeschoß dieses Tempels des Konsums, der versprach, jeden Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich jeden, dachte sie. Sie war absichtlich unauffällig gekleidet, das Gesicht ungeschminkt, die Haare schmucklos zurückgebunden.  Man würde sie nicht bemerken. Eine Werbefotografin – und das war sie – wusste alles über Wahrnehmung.
Sie durchschritt den Bereich der Strickwaren und den der Schnäppchen und wandte sich der hinteren Rolltreppe zu. Eine Reklametafel pries die Kosmetikabteilung im ersten Obergeschoß: „Lassen Sie sich von unseren qualifizierten Mitarbeiterinnen verwöhnen!“ Es widerte sie an.  Sie registrierte die Stille in dem großen Raum beiläufig, ohne Überraschung, wie man die Raumtemperatur registriert oder das Wetter. Nicht, dass sie alleine gewesen wäre. Es waren etliche Kunden da, auch Verkäuferinnen. Sie sah, wie sich die Münder bewegten, aber sie hörte kein Wort, keinen Laut, auch die lästige Hintergrundmusik, dieses Instrument der Verkaufsförderung, fehlte.  Sie starrte auf die Treppe. Von dort oben musste sie kommen. Nicoline! Allein der Name. Im Schlaf hatte er ihn gemurmelt, nachts neben ihr. Hilflos hatte sie es angehört und  auf ihre Knöchel gebissen, bis sie bluteten. Eine Kosmetikerin! Was wollte er mit der? War redete er mit ihr? Aber vermutlich redeten sie nicht. Sie hatte es von Kollegen erfahren, zufällig, und die Häme darüber war nicht zu überhören, dass ausgerechnet ihr verborgen geblieben war, was in allernächster Nähe geschah. Als sie Frank zur Rede stellte, schrie, weinte, tobte, hatte er geschwiegen, das Haus verlassen und war erst am übernächsten Tag zurückgekehrt.  Seitdem hing alles in der Schwebe. Er hatte sie um Zeit gebeten, um nachzudenken. Sie hatte Angst.
Ein Sonderposten Fotoalben fiel ihr auf, direkt neben der Rolltreppe. Sie griff nach dem obersten, es hatte den gleichen blauen Leineneinband, wie das ihre, das Dokument ihrer Liebe, auch die stilisierte Blume mit dem einen fehlenden Blütenblatt war darauf. Behutsam schlug sie die Seiten um und  blätterte so durch die Fotos. Ihr erster gemeinsamer Urlaub, die Sommerwiese, auf der sich geliebt hatten, ohne den Kartoffelernter zu bemerken, der keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt stand; die zerbrochene Brille bei einem Ausflug, ohne die Frank praktisch blind war. Sie hatte ihn zurückführen müssen wie einen hilflosen alten Menschen.
„Ich vertraue dir blind“, hatte er gesagt und sie geküsst.
„Du bist mein Leben“ hatte sie geantwortet und es so gemeint.
Die Geburt ihres Sohnes, viel zu früh und ohne Vorwarnung. Als Frank, dieser knochentrockene, biedere Jurist, dieser Abstinenzler, endlich in die Klink nachkam,  war er betrunken. Später der Hauskauf, das gemeinsame Gestalten ihres Heims. Wie glücklich waren sie gewesen, wie namenlos glücklich!
Bettina klappte das Album zu und ließ es liegen. Niemand außer ihr würde die Bilder sehen können.  Es wurde Zeit; sie wandte den Blick wieder nach  oben und sah die Frau die Rolltreppe nach unten betreten – das war sie. Bettina betrat gleichzeitig die Treppe nach oben, blieb ganz links am Handlauf stehen und griff unauffällig in ihre Handtasche. Auf halber Höhe würden sie einander  fast berühren können. Die andere bemerkte sie nicht. Dunkelhaarig, üppig,  blickte sie lächelnd gerade aus mit dem Ausdruck einer satten, zufriedenen Katze. Jetzt! Als Bettina den Abzug drückte, machte es leise plopp. Sie fühlte das Geräusch mehr als sie es hörte, aber mit dem Plopp des Schusses zerbrach die Stille. Sie hörte das Brummen der Rolltreppe, das Geräusch eines langsam fallenden, rutschenden Körpers, den spitzen Schrei einer Frau und vor allem hörte sie ihren Herzschlag, laut hämmernd, der ganze Körper war pochendes, pulsierendes Herz. Und dann das Sirenengeheul. Wieso jetzt schon Sirenen? Sie konnten noch gar nicht heulen, jetzt doch noch nicht! Sie hörte ihr eigenes Keuchen, riss die Augen auf und starrte auf graues Flimmern in tiefer Dunkelheit. Der Wecker neben ihr schrillte im Dauerton. Mit der rechten ihrer schweißnassen Hände umklammerte sie die Fernbedienung.
Benommen schaltete sie Fernsehgerät und Wecker aus und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Sie lauschte dem Rauschen in ihren Ohren. Lange dauerte es, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte und sich ein Gefühl von Erleichterung einstellte - nein, nicht Erleichterung: Befreiung war es! Sie lächelte leise in der Dunkelheit.
06.04.14/22.04.14

Sonja Meier

Donnerstag, 24. April 2014

Stufen des Abschieds

Frühling
Das einzige Geräusch, das die Stille bricht, ist der regelmäßig puffende Ton des Sauerstoffapparats in der Ecke. Der alte Mann stützt sich mit seinen Handflächen auf das Sofa und versucht sich hochzurappeln. Immer wieder sackt er zurück. Dann greift er zu seinem Stock, umfasst mit beiden Händen den Knauf und zieht sich daran hoch. Mühsam schlurft er bis zum Fußende des Krankenbettes, dreht sich mit kleinen Trippelschritten um und blickt auf seine Frau, die beatmet wird.
Sie hat die Augen geschlossen. Lang steht er da und es fällt ihm nichts anderes ein als immer wieder „ach ja“ , „ja, ja“ zu sagen. Dann  öffnet sie ihre Augen und Mann und Frau blicken sich an. Sie sieht, wie er in seiner Hilflosigkeit dasteht und kann ihm nicht mehr helfen. „Geh weg!“ sagt sie, „sonst kann ich nicht sterben.“
Ich führe den Mann zurück zu seinem Platz auf dem Sofa. Sein Kopf sinkt auf seine Brust. Er wartet ergeben bis …                                                                                         
Eine Woche später stirbt die Frau mit einem Seufzer der Erleichterung. Er schaut zu wie der Sarg hereingetragen wird. Sie legen die Frau in den Sarg und schließen den Deckel. Er weint bitterlich.

Sommer
In seinem grauen Schlafanzug sitzt der alte Mann auf der Eckbank am Küchentisch. Genüsslich beißt er in einen mit Butter und Honig bestrichenen Toast. Als er fertig ist, schaut er erst mich, dann die polnische Pflegerin Anna an und meint:
„Ich hab so einen Schmarrn geträumt – ihr seid alle gestorben“ und halb empört, halb entschuldigend fügt er hinzu: „Das ist so ein unverschämter Schmarrn. So was kann man doch nicht träumen!“ Nach einer Pause fällt ihm noch etwas ein: „Wenn ich wieder so was träume, stehe ich gleich auf, dass der Traum aufhört“. Dabei schaut er mich an und ich fühle mich aufgefordert etwas zu sagen. Ich spinne seinen Gedanken weiter: „Manchmal kann man das, was man träumt, einfach nicht verstehen. Das ist bei mir auch so.“
Belustigt schaut er zu mir und meint: „Du wirst mir den Schmarrn untergeschoben haben.“ Ich staune über seinen pfiffigen Versuch Logik in die Sache zu bringen. Und wir lachen zu dritt.

Herbst
Der alte Mann lebt jetzt im Altersheim. Ich besuche ihn zweimal in der Woche.
Er beschwert sich: „Meine Frau besucht mich nicht!“  Und ich antworte logisch: „Deine Frau kann Dich nicht besuchen. Sie ist doch gestorben.“  Er schaut mich stirnrunzelnd an,  versteht nicht, was ich sage.
Als er wieder die fehlenden Besuche seiner Frau anklagt, verspreche ich:
 „Wenn ich sie sehe, dann sag ich ihr, dass Du schon auf sie wartest. Sie soll dich ganz schnell besuchen kommen.“  Er lächelt. Die Antwort stellt ihn zufrieden.

Winter
Eine kleine, zierliche Seniorin, die ständig mit dem Rollstuhl unterwegs ist, tätschelt zärtlich die Backe des alten Mannes. Der Alte zeigt keine Regung. Da er aber ruhig bleibt und die Backe nicht entzieht, nehme ich an es gefällt ihm. Zum Abschied wirft sie ihm noch einen schmachtenden Blick zu. Mir erklärt sie: „Ich mag ihn doch so gern!“ Dann saust sie mit ihrem Rollstuhl davon.

Eine andere stumm gewordene Seniorin mit rotumränderten Augen und zum Boden geneigtem Kopf, hängt sich jeweils hinten an den Rollstuhl des alten Mannes an, wenn er seine Runden um das Karree eines Innenhofes dreht.  Er zieht sie dann im Schlepptau hinter sich her. Wenn sie versehentlich loslässt und zurückbleibt, wartet er, bis sie aufgeholt und sich erneut an seinen Rollstuhl angeschlossen hat.


Frühling
Der alte Mann redet kaum noch.  Wenn er etwas sagen möchte, bewegt er - mit angestrengter Mine - die die Lippen - lautlos. Doch die Worte sind nicht mehr auffindbar und der Gedankengänge haben sich - kaum gedacht - gleich wieder verabschiedet.
Als die Sonne zum ersten mal wieder warm scheint, fahre ich ihn im Park spazieren. Dann setzte ich mich neben seinem Rollstuhl auf die Bank. An diesem Tag geht es dem alten Mann schlecht. Seine Arme zucken und er kann sie nicht ruhig halten. So lege ich meine Hände auf seine Unterarme, bis das Zucken vorbei ist.
Zu meinem Erstaunen fängt er an zu reden: „Das ist doch kein Leben, wenn man nichts mehr tun kann.“ und nach kurzer Pause: “Ich möchte sterben“.
Mit einem „das kann ich verstehen“ pflichte ich ihm bei. Er fragt: „Und wie macht man Sterben?“
Ich erzähle Ihm ausführlich vom Sterben seiner Frau und bin sicher, dass er nichts oder nicht viel verstehen wird.  Die Beschreibung beende ich mit einem: „Du wirst die Art, wie Du sterben kannst, finden. Da bin ich ganz sicher.“

Jetzt wirkt der Alte ruhig. Er hält sein entspanntes Gesicht der Sonne entgegen und stellt fest: “Die Sonne ist warm.“ Und nach einer Pause: „Wir alten zwei Rentner sitzen in der Sonne.“
Dann versinkt er wieder in sein endloses Schweigen.

Elisabeth Gollwitzer  5. April 2014 (Lesung Kulturladen Ziegelstein)             


Montag, 7. April 2014

Wie wir waren

Eine Fotografie zeigt ein junges Paar nach dem Krieg,
einen Amerikaner und eine Deutsche.
Sie - 'apart' hätte man zu ihrer Zeit gesagt,
begegnet den Härten und Provisorien dieser Zeit
mit leichter Hand, höre ich und dass
er - ein Junge vom Land, ein Sohn von fünfen,
die der Krieg nach Europa spülte, 

ein scheuer Columbus gewesen sei.

Eine typische Liebesgeschichte dieser Zeit.
Stand auch in der Zeitung.
Hey Leute, der Krieg ist vorbei.
So sieht die Zukunft aus.
Uns kann keener!

Unversehrt von der Zukunft,
ahnungslos glücklich,
tanzen sie den Beginn.


Christel Rösener

Montag, 31. März 2014

Liebe


Sie sah ihn sofort, als sie einstieg. Er stand fast immer an derselben Stelle, im Mittelteil des Busses am Fenster, auch dann, wenn Plätze frei waren. Er blickte auf die Straße hinaus, abwesend, ohne die Einsteigenden zu beachten, leicht an die Wand gelehnt, in der linken Hand eine flache Aktentasche. Sie stellte sich neben ihn, um den nachdrängenden Fahrgästen Platz zu machen. Es begann eng zu werden und heiß, denn trotz der frühen Stunde stach die Sonne bereits. Sie war froh, morgens das Haar hochgesteckt und das dünne Seidenkleid gewählt zu haben, das eigentliche ein wenig zu freizügig für das Büro war mit seinen Seitenschlitzen und dem tiefen Dekolleté, und später würde sie die Wahl auch bereuen, wenn sie die anzüglichen Blicke der jungen Kollegen aushalten und ihr Gealber und Getuschel ignorieren musste, besonders das von Alex, der glaubte, jede Frau schmelze unter seinem Blick, der sich erdreistete, ihr nachzupfeifen. Und sie würde sich darüber ärgern, dass ihr die nötige Überlegenheit fehlte, um solche Taktlosigkeiten zu übergehen und darüber, dass es ihr nicht gelingen wollte, ihre Verlegenheit zu verbergen.
Aber jetzt, hier im Bus, war sie froh über die Wahl und genoss das leise Rascheln des kühlen Stoffes auf ihrer Haut. Das Gedränge nahm zu, sie wich vor dem Rucksack eines Schülers zurück, vor den rüschenverbrämten Fleischmassen einer Mittfünfzigerin und dem Achselschweiß aller und fühlte dabei die Schweißtropfen auf der eigenen Nase und zwischen ihren Brüsten. Alle schwitzten, nur ihn schien die Hitze nicht zu berühren. Kühl und unbeteiligt stand er da, das weiße Leinenhemd noch unzerknittert, und sie nahm einen schwachen, zitronigen Duft wahr. Sie  konzentrierte sich ganz darauf und auf die Berührung ihres Armes mit dem Leinenstoff. Die Menge drängte sie noch dichter an ihn, Körper an Körper. Sie spürte eine leichte Bewegung, er wandte sich vom Fenster zur Seite und sie glaubte seine Blicke auf ihrem Rücken zu fühlen, wie Hände, die ihn erkunden, die abwärts wandern vom Nacken, tastend über die Schulterblätter streifen bis hinab zur Hüfte, um dort liegen zu bleiben, so leicht wie der Stoff ihres Kleides. Sie genoss die aufsteigende Erregung, dieses heiße, brennende Gefühl, das, wie ihr mit einer gewissen trägen Verwunderung bewusst wurde, sie nicht stärker schwitzen ließ, sondern sie auf seltsame Weise von der äußeren Hitze, ja von allen anderen Menschen separierte, als gäbe es kein Außen mehr.
Das scharfe Bremsen des Busses presste sie gegen die Haltestange und sie fühlte durch das dünne Seidenkleid hindurch die Kühle des Metalls an Schenkeln und Bauch. Sie öffnete die Augen. Die Menschen drängten sich an ihr vorbei auf dem Weg zur Tür; auch er stieg hier immer aus. Sie wich einen kleinen Schritt zurück, um ihn vorbei zu lassen und kurz trafen sich ihre Blicke, und sie glaubte ein Wissen in diesem Blick zu sehen. Um seinen Mund spielte ein Lächeln. Sie sah ihm nach, bis er in der Menge draußen verschwunden war.
Als sie abends nach Hause kam, kickte sie noch im Gehen die Schuhe von den Füßen und zog sich das verschwitzte, zerknitterte Kleid über den Kopf, löste ihr Haar und warf dann das Kleid achtlos in die Wäschetruhe. Den kleinen Zettel, der sich in der aufgesetzten Seitentasche befand und auf den in krakeliger, rasch hingeworfener Handschrift ein Vorname und eine Telefonnummer notiert waren, bemerkte sie nicht. Als sie ihn Tage später beim Bügeln des Kleides fand, war die Schrift ausgewaschen und unleserlich geworden. Sie zuckte die Schultern und warf ihn weg.

23.03.14
Sonja Meier

Donnerstag, 2. Januar 2014

30 Jahre


Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Hanna das Häuschen nicht gehörte. Ich glaube, niemand aus unserer Nachbarschaft hatte das gewusst. Hanna gehörte zu dem Haus, als wäre sie Teil davon. Sie lebte dort seit über dreißig Jahren, lange bevor wir hier eingezogen und damit zu Nachbarn geworden waren. Ich erinnere mich noch an die vollständige Familie Klein, an die beiden Söhne und die Tochter Sabine, alle damals noch Schüler und ziemliche Rabauken, die mit ihren Freunden und wilden Spielen Leben in unsere brave, etwas verschlafene Siedlung brachten. Walter Klein war um einiges älter als seine Frau, ein stiller, zurückhaltender Mann, bei der Post beschäftigt und freundlich zu jedermann. Wie die ganze Familie in dem winzigen Haus Platz finden konnte, war uns immer ein Rätsel gewesen. Von außen sah es so puppenstubenhaft aus, dass wir oft Witze über die Raumaufteilung machten, denn außer den fünf Personen lebte dort auch einiges Getier. Anfangs hielten die Kleins sogar noch Hühner, die wir manchmal durch die offene Verandatür hinein- und heraus stolzieren sahen. Walter behauptete immer, sie lieferten drinnen ihre Eier ab. Es gab Häschen für die Kinder, zwei Katzen wegen der Mäuse und in der Regel mindestens einen Hund. Auch der Garten der Kleins war winzig, maximal zweihundert Quadratmeter, genutzt als Obst- und Gemüsegarten. Am Zaun standen ein Johannis- und ein Stachelbeerstrauch, sogar ein Apfelbäumchen wuchs dort. Zwischen Sträuchern und Baum stand ein schlichtes Holzkreuz, in das Namen geschnitzt waren, und im Laufe der Jahre kamen immer wieder welche dazu. Starb eines der kleineren Haustiere, wurde es von allen betrauert und dort begraben. „Zecki“, „Pippi“ und „Rudi“ hatten so ihren Frieden gefunden, und ein flacher Stein mit unregelmäßiger Oberfläche, die ihn wie eine Miniaturlandschaft aus Tälern, Hügeln, Flüssen und einzelnen Berggipfeln erscheinen ließ, sicherte die Grabstelle vor Räubern. Die Familie hatte nie über Reichtümer verfügt. Walter fuhr damals einen alten Opel, der ihn allerdings überleben sollte. Hanna hatte kein Auto. Sie reparierten am Haus fast alles selbst. Es war damals schon alt, ein Sparhäuschen aus den Vierziger Jahren, und es gab immer Erneuerungsbedarf. Die Kleins pflegten es liebevoll, strichen die Fensterläden, ja sogar die Fassade regelmäßig, und der üppige Blumenschmuck lenkte von seiner Ärmlichkeit und Beschränktheit ab.

Nach dem Auszug der Kinder lebten Hanna und Walter allein darin. Die drei zogen rasch nacheinander aus, Sabine als letzte, vor ca. zehn Jahren denke ich. Sie nahm das verbliebene Kaninchen mit und ließ ihre Eltern mit einer alten, zahnlosen Katze und zwei Hunden im Häuschen zurück. Für Hanna und Walter muss der Gewinn an Raum und Ruhe der pure Luxus gewesen sein;  sie werkelten wochenlang in allen Zimmern, renovierten und breiteten sich aus. Mein Mann und Walter hielten engeren Kontakt als wir Frauen. Die beiden trafen sich manchmal zu einem Sonntagsspaziergang mit Abschlussbier im „Waldheim“, lösten die Weltprobleme und planten die Zukunft. Die Kleins sparten damals, so erzählte es mir Martin, um mit Beginn von Walters Ruhestand einmal richtig groß Urlaub zu machen und in einem Wohnmobil durch Südosteuropa zu touren. Aber Walter erlebte seinen Ruhestand nicht. Den letzten Arbeitstag feierte mit seinen Kollegen lange, ausgiebig und mit viel Alkohol. Ich erinnere mich noch an die Nacht, in der er volltrunken – eigentlich unvorstellbar bei diesem ruhigen, gemäßigten Mann - weit nach Mitternacht nach Hause kam und über den Berg Altmetall stolperte, den sie tags zuvor zur Abholung neben dem Gartentor aufgeschlichtet  hatten; das heißt, er stolperte nicht darüber, er fiel praktisch hinein, und es gab ein solches Getöse, dass wir in den Betten standen und Martin hinunter ging, um nachzusehen. Er half Hanna ihn ins Bett zu bringen, aber weil es nicht möglich war, den schweren Körper die Treppe hinauf zu hieven, packten sie ihn schließlich auf das Sofa im Wohnzimmer, lagerten seinen Kopf etwas höher, deckten ihn zu und ließen ihn allein.
Am nächsten Tag war Walter tot. Er starb an einer Gehirnblutung und Hanna trauerte ein halbes Jahr aus tiefstem Herzen, bevor ihre praktische Art und ihr angeborener Lebensmut sie langsam wieder aufrichteten. Nach und nach, mit Hilfe ihrer Kinder, die sich rührend um sie kümmerten, fand sie in ihren Alltag zurück und lebte allein mit Mona, der Hovawart-Hündin, die eigentlich Walters Hund gewesen war, in dem kleinen Haus. Sie sagte mir einmal, alles darin, jeder Schrank, jeder Stuhl, jedes Bild, jeder Nagel in der Wand, trage seine Handschrift und manchmal habe sie das Gefühl, er sei nur kurz fortgegangen und würde in einer Stunde - wie früher jeden Tag - wieder in seinem Sessel sitzen. Ich habe Hanna nie etwas ausräumen sehen, auch Jahre später nicht, und ihre Tochter erzählte mir bei einer Gelegenheit, dass die Sachen ihres Vater noch genau dort waren, wo sie sich vor seinem Tod befunden hatten. Nichts wurde verändert. Hanna lebte mit ihnen und auf diese Art und Weise wohl auch mit ihrem Mann. Sie schaffte sich noch einen zweiten Hund an, versorgte ihr Zuhause mit Fleiß und Umsicht und betreute bei Bedarf ihren Enkel, der ein Jahr nach Walters Tod auf die Welt kam. Sie kam gut zurecht und ich glaube, dass die geliebte Umgebung für sie mindestens ein ebenso wichtiger Halt war wie die Kinder und ihr Enkel.

Dass die Kleins nicht Eigentümer des Grundstücks waren, erfuhr ich erst vor ca. 1 1/2 Jahren. Ein Mitglied der Erbengemeinschaft, der es nach dem Tod der früheren Eigentümerin gehörte, meldete Eigenbedarf an und sprach die Kündigung aus. Es kam unerwartet für Hanna und traf sie damals wie ein Schlag, sie kämpfe dagegen, bat um Aufschub, verhandelte mit den Erben - Martin half ihr dabei, daher kenne ich einige Details -, aber schließlich musste sie doch nachgeben. Man gewährte ihr eine letzte Räumungsfrist bis Ende Oktober mit der Drohung, danach Räumungsklage zu erheben. Für sie bedeutete es die zweite Katastrophe in diesem Jahr. Im Frühjahr war Mona gestorben. Martin und ich waren zu dem Zeitpunkt verreist und erfuhren es nach unserer Rückkehr von Hanna, die müde und eingefallen wirkte, von Selbstvorwürfen gepeinigt, denn die Hündin war wohl qualvoll verendet, und mag dieses übergroße Leid wegen eines toten Tieres manch einem unangemessen erschienen sein, so glaube ich doch, dass mit Mona auch eine lebendige Bindung zu Walter gestorben war.
Und nun also der Umzug oder, wie Hanna es formulierte, die Vertreibung aus dem Paradies. Sie hatte eine Wohnung in der Nähe ihres ältesten Sohnes gefunden, zwar nur mit Balkon, aber dafür mit einer Schrebergartenparzelle, wenige hundert Meter vom Wohnhaus entfernt, die ihr ermöglichen würde, ihren gewohnten Alltag weiter zu leben. Hanna bestellte einen Container und begann auszuräumen. Zwar lehnte sie Hilfe nicht generell ab, doch das meiste machte sie alleine. Ich glaube, es war ihre Art Abschied zu nehmen und er dauerte Wochen. Nach dem Container kam das Umzugsunternehmen. Die Arbeiter trugen Unmengen an Kartons und Kisten heraus; das winzige Haus spuckte alles aus, was in ihm war, und am Schluss befürchtete ich fast, es habe nun jeden Halt verloren und werde ohne das stützende Inventar in sich zusammensinken. Letztendlich - die Arbeit des Umzugsunternehmens war beendet - mietete Hanna einen Kleintransporter, um die restlichen Sachen selbst wegzuschaffen, Kleinode vielleicht, die sie keinem anvertrauen wollte. Ich sah sie im Garten und auf der Veranda werkeln; auch der Lieferwagen füllte sich.

Es dämmerte bereits, als ich aus dem Arbeitszimmer meines Mannes im zweiten Stock hinüber sah zu Hanna und im Zwielicht des beginnenden Abends begriff ich nicht gleich, was ich sah. Sie stand mit einem Spaten bei dem Apfelbaum und grub mit festen, energischen Stichen. Es hatte erst geregnet und die Erde war schmierig und schwer. Die schmale Gestalt stemmte ihr ganzes Gewicht mit einem Fuß auf den Spatenrand, hob den Stich aus, kippte die nasse Erde zur Seite und ging den nächsten Stich an. Sie hatte sich schon fast einen halben Meter in den Boden gegraben, als sie strauchelte und um ihr Gleichgewicht rang. Einen Moment stand sie reglos da, die Haare wirr im Gesicht; sie starrte nach unten, und ich begriff, dass der Spaten gebrochen war. Sie wischte mit dem Ärmel über ihre Stirn, warf beide Teile des Spatens zur Seite, kniete sich hin und grub mit den Händen weiter. Unfähig mich abzuwenden, verfolgte ich ihr Tun, bis sie etwas hervorhob, ein unförmiges Bündel, das sie aufnahm, um es zum Auto zu tragen, und ich glaubte - völlig unsinnig im zweiten Stock des Nachbarhauses hinter einem geschlossenen Fenster - einen widerwärtig beißenden, süßlichen Geruch wahrzunehmen. Ich floh.

Das liegt erst zwei Wochen zurück, und ich habe Hanna seit dem nicht mehr gesehen, aber am Tag danach ging ich noch einmal hinüber. Ich schlüpfte durch den kleinen Durchlass in der Hecke, die unsere Grundstücke von einander trennt, und ging zum Apfelbaum.  Der flache Stein mit der unregelmäßigen Oberfläche einer Miniaturlandschaft, mit Tälern, Hügeln, Flüssen und Berggipfeln lag an seiner Stelle, das Holzkreuz dahinter fehlte. Es roch nach frischer Erde. Langsam ging ich zurück. An der Mülltonne neben dem Gartentor lehnte der zerbrochene Spaten.

08.12.13
Sonja Meier