Ich war im Begriff
mich neu einzurichten, die Lieferung der Möbel verzögerte sich um Wochen. Drei
Monate lebte ich auf einer Baustelle, entnahm die Dinge des täglichen Bedarfs
verschiedenen Kisten, verstaute sie abends wieder in anderen und verbrachte die
Tage in Auseinandersetzungen mit Handwerkern und Raumausstattern und die Abende
mit suchen. Und dies alles neben meinem Job. Ich bin Geschäftsführerin eines
kleinen Modeateliers, zutreffender wäre allerdings Mädchen für alles. In meinen
Kompetenzbereich fällt die Preiskalkulation genauso wie der Kauf der Stoffe,
Kundenpflege, Werbung, Planung der Messetermine und der Einkauf des Klopapiers.
Während der Renovierungsarbeiten hatte mein Arbeitstag dreizehn Stunden.
Jetzt endlich der
Endspurt: das Mobiliar wurde geliefert,
ich fing an einzuräumen, neu zu ordnen, vieles wegzuwerfen, mich wieder zu
organisieren. Dazwischen platzte die Nachricht vom Erbe des Häuschens in
Niedersachsen, hinterlassen von meiner kinderlos gebliebenen Tante, eigentlich
meine Großtante, mütterlicherseits. In Kindertagen war es für ein paar Jahre
mein Feriendomizil gewesen; für ein Stadtkind ein Ort unvorstellbarerer
Freiheit, voll von Abenteuern, mit fremden Gerüchen, selbst gemachter Marmelade
und frischen, noch nestwarmen Frühstückseiern. Das lag über dreißig Jahre
zurück, und nun empfand ich nicht einmal Dankbarkeit für die Zuwendung, nur
Überdruss. Ich hatte mich auf mein neues Wohngefühl gefreut, auf die so sorgsam
wieder hergestellte Ordnung, auf endlich
unzerknitterte Kleidung und auf Schuhe, die sich nicht hartnäckig
einzeln in wechselnden Kappboxen verbargen. Ich hatte mich auf Kino, Konzert
und Theater gefreut, auf all das, was man mit Freunden unternimmt, wenn man
Zeit dazu hat. Nach drei Monaten Chaos wollte ich mich nicht auch noch mit dem
Verkauf einer abgewirtschafteten Immobilie in Niedersachsen befassen.
Aber ich musste wohl.
Ich verband den
ersten Besuch mit dem von Freunden in Hamburg. Ich freute mich auf die Stadt
und auf die alten Freunde.
„Ach, ziehst du
jetzt etwa auf’s Land?“ fragte Eva belustigt, als ich erzählte. „Dann müssen
wir Gummistiefel kaufen gehen“.
Wir standen in
Sarah Willmers Galerie und feierten den allerersten Verkauf eines von Evas
Bildern.
„Karin nimmt ein
Sabbatical“ grinste Jörg. „Sie vergisst für ein Jahr Mode und Modemachen und
bestellt die eigene Scholle.“
Ich wusste nicht
mal mehr genau, wo sich die Scholle befand, geschweige denn, wie sie aussah.
Mein letzter Besuch lag Jahrzehnte zurück. Ich fuhr am nächsten Tag los, noch
ein wenig verkatert von Evas Feier, fuhr über ebenes Land nach Süden, durch
Dörfer, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Zweimal meldete mein Navi, eine
Wegempfehlung könne nicht gegeben werden, aber nach knapp zwei Stunden
erreichte ich doch Emdachsen. Das Häuschen lag am westlichen Ortsende, an
ungeteerter Straße. Es war gänzlich zugewachsen von Efeu, wildem Wein, von Büschen,
Bäumen, vom Wildwuchs der Natur, die längst die Überhand gewonnen hatte. Die
Nachbarin gab mir den Schlüssel. Ich tastete mich den schmalen, Moos bedeckten
Weg entlang, schlängelte mich durch hüfthohe Brennnesseln, streifte durch
Spinnennetze und verfluchte meine Pumps. Die Steintreppe wies Frostlöcher auf,
die Haustür klemmte. Als ich mich dagegen stemmte, riss mein Top an einem
Holzspan. Im Stillen verfluchte ich auch das Top. Drinnen sah es aus wie
draußen: Verfall und Verlassenheit. Die wenigen Möbel trugen eine dicke
Staubschicht, vergilbte Bilder an den Wänden. Ärmlichkeit. Langsam ging ich
durch die kleinen Zimmer – Puppenstube, fiel mir ein. Ich sah die Tante vor
mir: klein und mager, mit dicken Brillengläsern in dem runden, freundlichen
Gesicht; Augen, die immer ein bisschen verwundert blickten und ein bisschen
schüchtern.
„Sie war das letzte
Vierteljahr im Heim“ sagte eine Stimme hinter mir. „Da ging’s einfach nicht
mehr“. Der Nachbar stand in der Tür. „Wir haben uns ein bisschen gekümmert.“
Ich dankte, sagte,
dass ich einen Makler beauftragen würde und ein Entsorgungsunternehmen, wenn
ich alles gesichtet hatte.
„Und die Hühner?“
fragte der Nachbar.
„Hühner??!“
„Jou, drei sind
noch da. Wir haben ja nicht gewusst, was Sie damit machen wollen; wir haben sie
halt gefüttert die Zeit.“
Ich ging nach
draußen, schlug mich ein weiteres Stück durch den Urwald und fand den kleinen
Hühnerhof hinter dem Haus. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden
aufgeweicht, und ich rutschte auf dem Hühnerkot aus und wäre fast gestürzt. Der
Nachbar fing mich auf. Er grinste. „Müssen Sie selber wissen, aber ich denk‘,
die Schuhe sind hier nicht gut.“
Ich sagte nichts.
Drei Hühner standen am Zaun und starrten mich an. Das erste legte den Kopf
schief und gackerte.
„Anna, Berta und
Dora“ sagte ich. „Mit C ist Tante Elsbeth nie ein Name eingefallen.“ Plötzlich
hatte ich einen Kloß im Hals. „Sie hat ihre Hühner immer alphabetisch benannt
und sie konnte sie auseinander halten.“
„Aber die sind alt.
Die legen schon lang nicht mehr. Wenn Sie wollen, dreh‘ ich ihnen die Krägen
rum. Für eine Suppe tun sie’s noch.“
„Nein.“ Der Kloß
steckte immer noch. Ich blickte auf den Urwald, blickte auf meine ruinierten
Schuhe und straffte mich. „Tante Elsbeth hatte keine Suppenhühner.“
Ich würde
Gummistiefel kaufen müssen.
Stierberg, 24.05.14
Sonja Meier
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