Mittwoch, 18. Juni 2014

Suppenhühner


Als ich von der Erbschaft erfuhr, war ich gerade im Stress. Ich hatte  meine Wohnung renoviert oder vielmehr renovieren lassen und das „lassen“ hatte mindestens soviel Arbeit, Ärger und Zeitaufwand gekostet, als hätte ich es selbst gemacht. Aber immerhin, das Ergebnis konnte sich sehen lassen: klare Linien, weiße Wände, weiße Türen, weiße Fliesen. Durch große Fenster der Blick über die Dächer der Stadt.
Ich war im Begriff mich neu einzurichten, die Lieferung der Möbel verzögerte sich um Wochen. Drei Monate lebte ich auf einer Baustelle, entnahm die Dinge des täglichen Bedarfs verschiedenen Kisten, verstaute sie abends wieder in anderen und verbrachte die Tage in Auseinandersetzungen mit Handwerkern und Raumausstattern und die Abende mit suchen. Und dies alles neben meinem Job. Ich bin Geschäftsführerin eines kleinen Modeateliers, zutreffender wäre allerdings Mädchen für alles. In meinen Kompetenzbereich fällt die Preiskalkulation genauso wie der Kauf der Stoffe, Kundenpflege, Werbung, Planung der Messetermine und der Einkauf des Klopapiers. Während der Renovierungsarbeiten hatte mein Arbeitstag dreizehn Stunden.
Jetzt endlich der Endspurt: das  Mobiliar wurde geliefert, ich fing an einzuräumen, neu zu ordnen, vieles wegzuwerfen, mich wieder zu organisieren. Dazwischen platzte die Nachricht vom Erbe des Häuschens in Niedersachsen, hinterlassen von meiner kinderlos gebliebenen Tante, eigentlich meine Großtante, mütterlicherseits. In Kindertagen war es für ein paar Jahre mein Feriendomizil gewesen; für ein Stadtkind ein Ort unvorstellbarerer Freiheit, voll von Abenteuern, mit fremden Gerüchen, selbst gemachter Marmelade und frischen, noch nestwarmen Frühstückseiern. Das lag über dreißig Jahre zurück, und nun empfand ich nicht einmal Dankbarkeit für die Zuwendung, nur Überdruss. Ich hatte mich auf mein neues Wohngefühl gefreut, auf die so sorgsam wieder hergestellte Ordnung, auf endlich  unzerknitterte Kleidung und auf Schuhe, die sich nicht hartnäckig einzeln in wechselnden Kappboxen verbargen. Ich hatte mich auf Kino, Konzert und Theater gefreut, auf all das, was man mit Freunden unternimmt, wenn man Zeit dazu hat. Nach drei Monaten Chaos wollte ich mich nicht auch noch mit dem Verkauf einer abgewirtschafteten Immobilie in Niedersachsen befassen.
Aber ich musste wohl.
Ich verband den ersten Besuch mit dem von Freunden in Hamburg. Ich freute mich auf die Stadt und auf die alten Freunde.
„Ach, ziehst du jetzt etwa auf’s Land?“ fragte Eva belustigt, als ich erzählte. „Dann müssen wir Gummistiefel kaufen gehen“.
Wir standen in Sarah Willmers Galerie und feierten den allerersten Verkauf eines von Evas Bildern.
„Karin nimmt ein Sabbatical“ grinste Jörg. „Sie vergisst für ein Jahr Mode und Modemachen und bestellt die eigene Scholle.“
Ich wusste nicht mal mehr genau, wo sich die Scholle befand, geschweige denn, wie sie aussah. Mein letzter Besuch lag Jahrzehnte zurück. Ich fuhr am nächsten Tag los, noch ein wenig verkatert von Evas Feier, fuhr über ebenes Land nach Süden, durch Dörfer, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Zweimal meldete mein Navi, eine Wegempfehlung könne nicht gegeben werden, aber nach knapp zwei Stunden erreichte ich doch Emdachsen. Das Häuschen lag am westlichen Ortsende, an ungeteerter Straße. Es war gänzlich zugewachsen von Efeu, wildem Wein, von Büschen, Bäumen, vom Wildwuchs der Natur, die längst die Überhand gewonnen hatte. Die Nachbarin gab mir den Schlüssel. Ich tastete mich den schmalen, Moos bedeckten Weg entlang, schlängelte mich durch hüfthohe Brennnesseln, streifte durch Spinnennetze und verfluchte meine Pumps. Die Steintreppe wies Frostlöcher auf, die Haustür klemmte. Als ich mich dagegen stemmte, riss mein Top an einem Holzspan. Im Stillen verfluchte ich auch das Top. Drinnen sah es aus wie draußen: Verfall und Verlassenheit. Die wenigen Möbel trugen eine dicke Staubschicht, vergilbte Bilder an den Wänden. Ärmlichkeit. Langsam ging ich durch die kleinen Zimmer – Puppenstube, fiel mir ein. Ich sah die Tante vor mir: klein und mager, mit dicken Brillengläsern in dem runden, freundlichen Gesicht; Augen, die immer ein bisschen verwundert blickten und ein bisschen schüchtern.
„Sie war das letzte Vierteljahr im Heim“ sagte eine Stimme hinter mir. „Da ging’s einfach nicht mehr“. Der Nachbar stand in der Tür. „Wir haben uns ein bisschen gekümmert.“
Ich dankte, sagte, dass ich einen Makler beauftragen würde und ein Entsorgungsunternehmen, wenn ich alles gesichtet hatte.
„Und die Hühner?“ fragte der Nachbar.
„Hühner??!“
„Jou, drei sind noch da. Wir haben ja nicht gewusst, was Sie damit machen wollen; wir haben sie halt gefüttert die Zeit.“
Ich ging nach draußen, schlug mich ein weiteres Stück durch den Urwald und fand den kleinen Hühnerhof hinter dem Haus. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht, und ich rutschte auf dem Hühnerkot aus und wäre fast gestürzt. Der Nachbar fing mich auf. Er grinste. „Müssen Sie selber wissen, aber ich denk‘, die Schuhe sind hier nicht gut.“
Ich sagte nichts. Drei Hühner standen am Zaun und starrten mich an. Das erste legte den Kopf schief und gackerte.
„Anna, Berta und Dora“ sagte ich. „Mit C ist Tante Elsbeth nie ein Name eingefallen.“ Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. „Sie hat ihre Hühner immer alphabetisch benannt und sie konnte sie auseinander halten.“
„Aber die sind alt. Die legen schon lang nicht mehr. Wenn Sie wollen, dreh‘ ich ihnen die Krägen rum. Für eine Suppe tun sie’s noch.“
„Nein.“ Der Kloß steckte immer noch. Ich blickte auf den Urwald, blickte auf meine ruinierten Schuhe und straffte mich. „Tante Elsbeth hatte keine Suppenhühner.“
Ich würde Gummistiefel kaufen müssen.

Stierberg, 24.05.14

Sonja Meier

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