Mittwoch, 18. April 2018

Wie ein Sohn seine Mutter erzieht

Als mein schwangerer Bauch auch für Außenstehende sichtbar wurde, sagte ich allen, dass ich ganz sicher ein Mädchen zur Welt bringen würde. Im Ultraschall war dann deutlich zu sehen, dass da ein Junge in mir heranwuchs. Zum Glück hatte ich noch fünf Monate Zeit, um mich auf diesen neuen Sachverhalt einzustellen.
Ich wollte meinen Sohn anders erziehen. Er sollte eine nicht näher von mir definierte „weibliche Seite“ entwickeln, die ich bei seinem Vater vermisste.
Die Prozedur der Geburt – eine Teamarbeit von Sohn und Mutter – dauerte nicht länger als drei Stunden. 
Sein Vater Kuno hatte der Geburt beigewohnt. Er war der erste, der unseren Sohn am Spätnachmittag in den Arm nehmen durfte. Wir freuten uns gemeinsam zwei Stunden.
Und während das Kind nach den Anstrengungen dieses Tages den restlichen Abend und die ganz Nacht durchschlief, verbrachte ich die Zeit stolz, glücklich und erleichtert im Krankenhaus. Schade war nur, dass ich nicht dabei sein konnte, als Kuno und unsere Freundinnen und Freunde an diesem denkwürdigen Abend bei uns zuhause auf die Geburt meines Sohnes anstießen. 
Niko wuchs heran, plapperte lange vor sich hin, hielt, auf dem Treppenabsatz vor unserer Haustüre stehend, lange Reden an Passanten, in einer Sprache, die wir nicht verstehen konnten. Hartnäckig weigerte er sich, das einfache Wort „Mama“ oder meinetwegen auch „Papa“ auszusprechen. Das erste verständliche Wort, das sein Mund formulierte, war „Bus“.
Ich drehte mich erstaunt im Auto nach ihm um und sah, wie ein Bus neben unserem Auto herfuhr. Ab da hob Niko, wann immer er einen Bus sah, seine Hand und ließ sie beim Aussprechen des Wortes Bus wieder herunter fallen. Da wir nahe am zentralen Busbahnhof lebten, boten sich ihm diese Gelegenheiten häufig. 
Damals beschlich mich eine Ahnung, dass das mit meinem Erziehungskonzept so eine Sache sei. 
Kurz vor Weihnachten lernte Niko zu laufen. Auf seinem Weihnachtstisch würde er einen kleinen, selbst geflochtenen Korbpuppenwagen finden, darin eine Stoffpuppe liegend. Mit Freude schob er von da an auf allen Spazier- und Einkaufsgängen seinen kleinen Wagen vor sich her. Der Puppe jedoch schenkte er keinerlei Aufmerksamkeit - es war ihm egal, ob sie im Wagen lag oder nicht.
Lange konnte ich verhindern, dass sein Opa dieses Spielzeug zu Gesicht bekam. Als er uns jedoch einmal besuchte und entdeckte, welchen Gefallen Niko am Kutschieren des Wägelchens gefunden hatte, rief der sonst so stille Mann überrascht aus: „Aber Niko, das machen doch nur Mädchen! Jungen spielen Fußball!“
Zunehmend verlor Niko das Interesse am Puppenwagen. Lag es an Opas Urteil oder an einem großen grünen Holzauto, das er zum zweiten Geburtstag von seiner Patin geschenkt bekommen hatte?

Nachdem wir in einen Vorort gezogen waren, mussten wir öfter mit dem Bus fahren, wenn wir in der Stadt etwas zu besorgen hatten. Bei einer Fahrt freundete sich Niko mit dem Busfahrer an. Der hatte Gefallen an dem kleinen Interessenten seiner Fahrkunst. Niko durfte bei jeder Fahrt vorn neben seinem Fahrersitz stehen bleiben und bekam alles erklärt, was ihn interessierte.
Diese Busfahrten inspirierten Niko, eine Buslinie mit einem Kreidestrich durch die ganze Wohnung zu ziehen und die Haltestellen mit einem Kreis zu markieren. Wenn er mit seinem grünen Auto die Linie zwischen Anfangs- und Endpunkt abfuhr, unterbrach er die Fahrt bei jedem Kreidekringel, um die jeweilige Haltestellen anzusagen. Dies gelang ihm bald fehlerfrei.
Perfektioniert wurde die Sache, als Niko alle Haltestellen als Ansagen auf seinen kleinen Kassettenrekorder aufnahm. So brauchte er bei den jeweiligen Haltestellen nur noch auf die Taste zu drücken.
Ein Jahr vor Schuleintritt fing er an, die Haltestellen in seiner Lautsprache auf Zettel zu schreiben. Vor dem Putzen sammelte er jeweils die Zettel ein, um sie später an der genau richtigen Stelle wieder aufzukleben.


Als der Winter kam, riet ich Kuno, seinem Sohn Schlittschuhe zu schenken, denn das Kind hatten einen enormen Bewegungsdrang, den es in die richtigen Bahnen zu lenken galt. Doch in diesem Winter froren weder fließende noch stehende Gewässer zu. Es war einfach nicht kalt genug.
Dafür verfeinerte Opa im Frühling die Techniken des Fußballspiels meines Sohnes mit viel Hingabe: das Toreschießen, Flanke rechts, Flanke links, den Kopfball. Ja, er begann auch schon mit dem Rückzieher, einer ziemlich komplizierten Art, den Ball anzunehmen und abzuschießen.
Und als Niko einmal mit kräftigem Schuss genau das Fenster des Nachbarn traf, das dadurch zerbarst, kannte Opas Stolz keine Grenzen mehr.

Nikos Wunsch, einem Fußballverein beitreten zu dürfen, steigerte sich nach seinem Schuleintritt ins Unermessliche. Ich überging dieses Begehren, bis mich eines Tages sein Pate ansprach. Niko habe sich mit der Bitte, er möge bei mir vorsprechen wegen eines Beitritts, an ihn gewandt, weil er auf dem direkten Weg bei seiner Mutter kein Gehör finde. Ich ließ mich – schweren Herzens – umstimmen. Eine Niederlage, wenn nicht sogar der entscheidende K.O.-Schlag für all mein Bemühen, Nikos Begeisterung auf Sportarten zu lenken, die weniger männerdominiert sind als Fußball.

Als nächstes überraschte mich mein schüchterner, einzelgängerischer Sohn damit, dass er - hinter meinem Rücken - im Hort der Schule eine Fußballmannschaft ins Leben rief. Ich erfuhr es erst Wochen später von seiner Hortnerin.
Bald merkte er, dass mein Widerstand gebrochen war und er jetzt in aller Offenheit agieren konnte. In unserer Wohnung wurde in Anwesenheit von neun Jungen im Alter zwischen sieben und zehn Jahren der FC-Großschwarzenlohe gegründet. Als erstes mussten ein Präsident, ein Trainer und ein Kassenwart gewählt werden. Letzterer hatte die monatlichen Beiträge der Mitglieder des Vereins einzutreiben, um gemeinschaftsbildendes Fußball-Outfit – Trikots und Stutzen – erwerben zu können. Dann wurde beschlossen, eine Vereinszeitung herauszubringen, von der drei Exemplare erschienen.

Bei einem Mittagessen teilte mir mein Sohn freudestrahlend mit, dass er es geschafft habe, ein Fußballmatch Schüler gegen Lehrer an der Waldorfschule zu organisieren. Das war insofern eine Glanzleistung, weil das Fußballspiel in der Waldorfpädagogik als eine Rohheit fördernde Sportart verpönt war. Der Verwalter konnte als Schiedsrichter gewonnen werden. Zum Match erschienen dann jene Lehrer, die sich damit als heimliche Fußballfreunde outeten und das anthroposophische Tabu brachen. 
Mit zehn Jahren schrieb Niko sein erstes Drehbuch – einen Krimi, der sich – selbstredend - im Fußballmilieu abspielte.
 -------------------------------------------------------------------------------------------
Neulich erzählte mir Nico  – jetzt 30jährig – ganz nebenbei, über ein Gespräch mit seiner Freundin. Beide würden gern zuhause bleiben, wenn ein Kind käme.

Na, wenigstens das !

Elisabeth Gollwitzer                                                                                                             April 2016                                                                                                                                     

ÜBERQUERUNG DES CHECKPOINTS VON BETHLEHEM NACH JERUSALEM


Um halb fünf Uhr am Morgen – dunkle Dämmerung liegt noch in den Straßen  - erreichen wir den Checkpoint an der zehn Meter hohen Betonmauer, die Bethlehem von Jerusalem, Palästina von Israel trennt. Gleich einem Raubtier-käfig, der oben und unten, rechts und links mit Gittern versehen ist, führt eine Rampe hinauf zum Übergang:  Palästinenser kommen zu Fuß, steigen aus Taxis oder Bussen und gehen durch die Gitter-Rampe nach oben.
Wir folgen ihnen und reihen uns – noch orientierungslos - hinter ihnen ein. Vor uns wartet schon ein Pulk von zwanzig Männern mittleren Alters, die Gesichter unbewegt, vielleicht weil sie vom frühen Aufstehen noch müde sind, vielleicht weil sie sich an das, was sie hier täglich erleben, gewöhnt haben, vielleicht weil Ungeduld und Rebellion nicht lohnen. Wir warten mit ihnen. 
Ich hatte schon zuvor von diesen Checkpoints gehört. Aber jetzt, da ich mich hier ins Geschehen eingelassen habe, kommt mir alles unwirklich vor. Ich bin innerlich wie gelähmt und frage mich, ob es uns zusteht, das Leid anderer Leute zu beobachten oder mit unserem Hiersein die Männer nur unnötig aufzuhalten?
Dann kommen kurz hintereinander zwei Busse an. Arbeiter aus Stadtteilen von Bethlehem und umliegenden Dörfern steigen eilig aus. Ihre Tritte erzeugen scharrende Geräusche und bringen die Rampe leicht ins Schwingen. Sie drängeln von hinten. Einige kaufen Arabic coffee, der ihnen von Händlern durch das Gitter gereicht wird. Wir stehen und stehen. Allmählich kehrt wieder Ruhe auf der Rampe ein und wir lassen die Szenerie und das vielstimmige Debattieren der Männer, deren Sprache wir nicht verstehen, auf uns wirken. 
Ich möchte viel mitkriegen, was ich nachher aufschreiben kann:
Ich bin jedoch damit beschäftigt, ob ich alles richtig mache. Auch die Männer haben sich auf das, was gerade geschieht, konzentriert. Sie regen sich nicht (mehr) über die Schikane und Ungerechtigkeit des Mauerbaus, der Checkpoints, die Willkür der israelischen Soldaten auf, die hier das Sagen haben und denen sie sich bei Strafe unterordnen müssen. Sie regen sich auf, wenn Mogler, die sich über das Gitter oben oder seitlich einen Platz weiter vorne in der Reihe, ergattern wollen.
Die Schlange vor uns wird nur langsam kürzer. Es dauert mehr als eine Stunde, bis wir das obere Ende der Rampe erreicht haben. 
Schnell muss es jetzt gehen, denn schnell dreht sich ein schmales drei Meter hohes Drehkreuz in einem sehr engen Gitterrund. Als sich ein Spalt auftut, springe ich hinein, mache ein paar Trippelschritte, und entkomme durch einen schnellen Schritt nach außen, ehe mir das Drehkreuz einen Schubs von hinten gibt. Können das alte und gebrechliche Leute überhaupt schaffen? Und wie bekommt man einen Koffer durch ein solch enges Drehkreuz?

Ich werde mit den anderen in eine dunkle nur sparsam mit Neonlicht erleuchtete Halle gespült. Viele jugendliche Soldatinnen und Soldaten mit ihren modern gestylten Frisuren stehen hier herum, mit ihren gelbgrünen Uniformern und hohen schwarzen Schnürstiefeln, einem Maschinengewehr, das lässig auf ihrem Rücken baumelt. Wir werden in den linken Gang gewiesen, müssen ein weiteres Drehkreuz passieren, müssen unsere Pässe herausholen, vorzeigen und sie wieder in unseren Taschen verstauen, müssen Metallteile ablegen, durch einen Köperscanner gehen und die abgelegten Teile wieder zu uns nehmen.
Einer von uns zeigt mit seinem Arm nach oben; und da steht in der Dunkelheit eine dunkle Gestalt, ihren großen Fotoapparat auf mich gerichtet.
Unbeeindruckt von unserem Hinaufsehen und Hinaufdeuten starrt das Auge des Objektivs weiterhin auf mich herab. 
Was machen die mit den Fotos? Wird es Schwierigkeiten bei der Ausreise aus Israel geben - mit Kofferkontrolle, langwierigen Befragungen, Beschlagnahmung oder gar Leibesvisitation, wie es die Palästinenser erleben, vorausgesetzt sie dürfen überhaupt ausreisen? Werde ich zu einem späteren Zeitpunkt wieder in dieses Land einreisen dürfen?
Ich eile weiter, um dem „Big Brother“ zu entkommen.
Wir durchqueren das letzte Drehkreuz und verlassen die Halle.
Jetzt sind wir sind frei! Ich merke, wie die Anspannung von mir abfällt.
Die Palästinenser rennen jetzt zu den wartenden Bussen. Manche stehen und rauchen schnell noch eine Zigarette, andere ziehen ihre Gürtel, die sie vorhin beim Körperscanner ausgezogen hatten, wieder in den Hosenbund. Jeden Tag das gleiche, über Wochen, Monate, Jahre.
Zwei junge Frauen – eine Engländerin und eine Finnin - die an den Wochentagen die Männer durch den Checkpoint begleiten, um etwaige Schikanen bei Menschenrechtsorganisationen anzuzeigen, können uns den Grund für das lange Warten erklären: Die israelischen Militärs hätten heute nur drei der zwölf vorhandenen Körperscanner geöffnet. Gefragt nach dem Warum, zucken die beiden Beobachterinnen die Schultern: Das machen die hier so nach Lust und Laune. Jeden Tag denken sie sich was anderes aus. So bleibt ihr Handeln unberechenbar.
Die Erlebnisse machen mich sprachlos – wie ich hier seit einigen Tagen sprachlos geworden bin in dem von Israel besetzten Palästina. Was ist es, was mich hier sprachlos macht?
In den ersten Tagen, als wir die alltäglichen abstrusen Dinge, deren Sinn wir nicht – noch nicht - verstehen konnten, fand ich immer neue Wörter, um meine Empörung zum Ausdruck zu bringen, wie „Das ist ja schrecklich, wie ungerecht, furchtbar“ oder „Das ist Schikane, Willkür, Machtmissbrauch“.
Doch diese Wörter nützten sich schnell ab, denn der ganze Alltag der Palästinenser ist durchdrungen von solch demütigenden Erfahrungen. Und so gab es keinen Sinn mehr, sie endlos zu wiederholen. Sie waren nutzlos, ausgelaugt, ausgekaut. Was zurückblieb, war eine gedemütigte, ohnmächtige Sprachlosigkeit.

Der Rückweg durch den Checkpoint dauert nicht länger als zwei Minuten.
Einen Augenblick bleiben wir bei einer Gruppe ganz alter Moslems, deren Haare von einem gehäkelten Käppchen bedeckt sind, stehen. Sie verharren teils stehend, teils knieend mit dem Kopf zum Boden gebeugt, auf der Rampe in ihr Gebet vertieft – im Augenblick unbeeindruckbar von dem, was um sie geschieht, von dem, was an weiteren Einschränkungen auf sie wartet.
Klein und schmächtig sind sie, gezeichnet vom Leben in diesem Land.

Unten auf dem Platz haben verschiedene Händler Verkaufstische mit Obst und Gemüse aufgebaut. Frauen aus meiner Gruppe warten vor dem Getränkestand. Ich giere nach einem kleinen arabischen Kaffee und erquicke mich Schluck für Schluck daran. Der Verkäufer tritt – nachdem er alle mit Kaffee versorgt hat - hinter seinem Tisch hervor, ein stattlicher Mann mittleren Alters mit wachen Augen und einem schön geschnittenen Gesicht, der uns erstaunlich selbstbewusst darum bittet, uns seine Geschichte erzählen zu dürfen.
Er arbeitete damals als 18jähriger Abiturient oft mit seinem Vater im Olivenhain der Familie. Eines Tages erschienen israelische Soldaten mit Maschinengewehren, Militärhelmen, schusssicheren Westen.
Sie erklärten den gesamten Hain für enteignet aus militärischen Gründen, befahlen ihn sofort zu verlassen. Sie drängten den protestierenden Vater mit ihren quergehaltenen Gewehren vom Feld. Ohnmächtig vor Wut hob er, der jugendliche Palästinenser, einen Stein von der Erde auf und warf ihn in Richtung der Soldaten. Sofort wurde er festgenommen, gefesselt und auf den Rücksitz eines Militärjeeps geschubst. Der brauste davon, den verzweifelten Vater zurücklassend.
Die nächsten acht Wochen verbrachte er – an Hände und Füße gefesselt - in einem Verlies unter der Erde. Luft und ein kleiner Lichtschein fielen durch eine schmale Öffnung oben unter der Decke ein. 
Weder wusste er, wie seine Eltern weiterleben konnten ohne ihn, ohne ihre Äcker, noch bekamen die Eltern Bescheid, wo sich ihr Sohn aufhielt und wie es ihm ging. 
Danach wurde er in ein „besseres“ Gefängnis verlegt. Nach 18 Monaten kam er frei. Ihm, der das Abitur gemacht hatte und Jura studieren wollte, (um Palästinenser vor Gericht vertreten zu können,) wurde – weil er inhaftiert war - jegliches Studium verweigert. Die Eltern, die durch die Enteignung ihren großen Olivenhain verloren hatten und dafür keinen Ausgleich bekamen, waren nach diesen Vorfällen gezeichnet. Er musste sie, seine Geschwister mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten.
Jetzt verkauft er täglich am Checkpoint und im Basar in Bethlehem Getränke, um sich, seine Frau und die vier Kinder ernähren zu können.
Die Augen des Mannes hatten sich während des Erzählens mit Tränen gefüllt. Einige von uns kehrten sich ab und weinten mit ihm.

Stufen des Abschieds

Frühling 
Das einzige Geräusch, das die Stille bricht, ist der regelmäßig puffende Ton des Sauerstoffapparats in der Ecke. Der alte Mann stützt sich mit seinen Handflächen auf das Sofa und versucht sich hochzurappeln. Immer wieder sackt er zurück. Dann greift er zu seinem Stock, umfasst mit beiden Händen den Knauf und zieht sich langsam daran  hoch. Mühsam schlurft er bis zum Fußende des Krankenbettes, dreht sich mit kleinen Trippelschritten um und blickt auf seine Frau, sieht das durchsichtige Röhrchen, das zur Nase führt, mit dem sie beatmet wird.
Sie hat die Augen geschlossen. Lang steht er da und es fällt ihm nichts anderes ein, als immer wieder „ach ja“, „ja, ja“ zu sagen. Nach einer Weile öffnet sie ihre Augen. Mann und Frau blicken sich an.
„Ich kann dir nicht mehr helfen“, sagt sie und später.
„Geh weg! - Sonst kann ich nicht sterben.“
Ich führe den Mann zurück zu seinem Platz auf dem Sofa. Sein Kopf sinkt auf seine Brust. Er wartet ergeben.                                                                                        
Eine Woche später stirbt die Frau mit einem Seufzer der Erleichterung. Er schaut zu, wie der Sarg hereingetragen, die Frau hineingelegt, der Deckel wieder geschlossen wird. Als sie den Sarg hinaustragen, wird er von einem erbärmlichen Schluchzen heimgesucht. 

Sommer
In seinem grau-gestreiften Schlafanzug sitzt der alte Mann auf der Eckbank am Küchentisch. Genüsslich beißt er in einen mit Butter und Honig bestrichenen Toast. Als er fertig ist, schaut er erst mich, dann die polnische Pflegerin Anna an und meint: „Ich hab so einen Schmarrn geträumt – ihr seid alle gestorben“ und halb empört, halb entschuldigend fügt er hinzu: „Das ist so ein unverschämter Schmarrn. So was kann man doch nicht träumen!“ Dabei blickt er zu mir herüber und ich fühle mich aufgefordert etwas zu sagen. Ich spinne seinen Gedanken weiter: „Manchmal kann man das, was man träumt, einfach nicht verstehen. Das ist bei mir auch so.“
Belustigt stellt er fest: „Du wirst mir den Schmarrn untergeschoben haben.“
Ich staune über seinen pfiffigen Versuch, Logik in die Sache zu bringen. Und wir lachen zu dritt. Nach einer Pause fällt ihm noch etwas ein: „Wenn ich wieder so was träume, stehe ich gleich auf, dass der Traum aufhört.“
Herbst 
Der alte Mann lebt jetzt im Altersheim. Ich besuche ihn zweimal in der Woche.
Hin und wieder beschwert er sich: „Meine Frau hat mich wieder nicht besucht!“  Und ich erkläre ihm: „Deine Frau kann Dich nicht besuchen. Sie ist doch gestorben.“ Er schaut mich stirnrunzelnd an, versteht nicht, was ich sage.
Als er einige Tage später wieder die fehlenden Besuche seiner Frau beklagt, verspreche ich:
„Wenn ich sie sehe, dann sag ich ihr, dass Du schon auf sie wartest. Sie soll dich ganz schnell besuchen kommen.“  Er lächelt. Aus seinen Augen blitzt Freude.

Winter
Eine kleine, zierliche Seniorin, die oft mit dem Rollstuhl unterwegs ist, tätschelt zärtlich die Backe des alten Mannes. Der Alte zeigt keine Regung. Da er aber ruhig bleibt und die Backe nicht entzieht, nehme ich an, es gefällt ihm. Zum Abschied wirft  ihm die Frau noch einen schmachtenden Blick zu. Mir erklärt sie: „Ich mag ihn doch so gern!“ - und saust sie mit ihrem Rollstuhl davon.

Mit seinem Rollstuhl dreht der Alte Runde um Runde im Karree eines Innenhofes. Eine stumm gewordene, gut gekleidete Seniorin mit rotumränderten Augen, den Oberkörper stark nach von geneigt, lenkt ihren Rollstuhl hinter den des Alten, umgreift mit ihren Händen  die Oberkante der Rückenlehne und er  zieht sie dann im Schlepptau hinter sich her. Manchmal lässt sie versehentlich los und bleibt zurück. Der Alte wartet dann, bis sie aufgeholt und sich erneut an seinen Rollstuhl angeschlossen hat.

Frühling 
Als die Sonne zum ersten Mal wieder die Welt wärmt, fahre ich den alten Mann im Park spazieren. Danach setze ich mich neben seinem Rollstuhl auf die Bank. Sein Gesicht ist an diesem Tag kummervoll und zerfurcht.  Die Arme springen ohne seinen Willen herum. So lege ich meine Hände auf seine Unterarme, bis sie sich beruhigt haben und still wie auf seinen Knien liegen bleiben.
Zu meinem Erstaunen fängt er an zu reden: „Das ist doch kein Leben, wenn man nichts mehr tun kann“ und nach kurzer Pause, “ich möchte sterben.“
Mit einem „Das kann ich verstehen“ pflichte ich ihm bei. Er fragt: „Und wie?“
Ich erzähle ihm ausführlich vom Sterben seiner Frau, egal, was er davon verstehen wird und was nicht. Die Beschreibung beende ich mit einem: „Du wirst die Art, wie du sterben kannst, finden. Da bin ich ganz sicher.“
Jetzt sitzt der Alte da, hält sein entspanntes Gesicht der Sonne entgegen und stellt fest: „Die Sonne ist ganz warm.“ Und nach einer Pause: „Wir zwei alten Rentner sitzen in der Sonne.“
Dann versinkt er wieder in sein endloses Schweigen.

Sommer

Wenn ich komme und den Alten begrüße, mit ihm rede, bewegt  er mit angestrengter Miene die Lippen - tonlos. Die Worte scheinen nicht mehr auffindbar und der eben ersonnene Gedankengang hat sich – kaum gedacht - schon wieder verabschiedet. Er schaut mich dann mit gerunzelter Stirn an.
Um ihn nicht zum Reden zu ermutigen, werde auch ich schweigsam. 
Ich hole dann seine Windjacke auf dem Schrank und fädle seine alterssteifen Arme in die Ärmel. Seinen Hut lege ich auf die Knie, rolle ihn in den Fahrstuhl, direkt vor einen großen Spiegel. Während uns der Fahrstuhl nach unten bringt, betrachtet er sich und mich im Spiegel, interessiert oder fragend. Dann nimmt er seinen Hut, drückt ihn auf seinen Kopf, schiebt und dreht ihn sie so lange, bis er mit seinem Bild im Spiegel zufrieden ist.


Herbst
Der Alte wird immer schwächer. Ab Mittag bleibt er im Bett.
Er spricht nicht mehr, sondern schaut mir in die Augen, bis er müde wird und einschläft. Dann nehme ich mein Buch aus der Tasche und beginne zu lesen. Wenn er die Augen öffnet, lege ich meine Hand auf seine Hand, bis ihm die Augen wieder zufallen.
Es sind friedliche Begegnungen ohne Anstrengung für ihn und für mich.

Winter
Eines Nachmittags - ich habe gerade mein Buch aufgeschlagen, um zu lesen –
fängt der Alte zu sprechen an. Ich verstehe nur bruchstückhaft, was er sagt:
… ich weiß nicht, was die machen bei dem Denkmal…
… ich hab das in die Wege geleitet … ich habe den Pflug angeschoben …
… wir haben schon genug getan … wie ein Kamel
… die kümmern sich wenig … die sollen sich jetzt drum kümmern ….
… es muss doch ein oder zwei geben, die sich darum kümmern
… so viel ist das auch nicht

… vor einer halben Stunde war er hier - die haben schon drauf gewartet 
… ich kenne hier keinen - ich bleib nicht hier
Ich wundere mich über seine Beredtheit an diesem Tag.

HEILIGER ABEND
Früh um 8.30 Uhr klingelt das Telefon:
Soeben sei der Alte - während er versorgt wurde – gestorben.
Als wir das Zimmer betreten, liegt er da, ganz spitz und blass sein Gesicht, friedlich,  seine dünnen Arme über seinem Körper verschränkt.
Während die Pflegerin die Kerze am Nachttisch entzündet, entschuldigt sie sich für ihre Tränen.

Elisabeth Gollwitzer                                                                                   Januar 2015