Mittwoch, 18. April 2018

Wie ein Sohn seine Mutter erzieht

Als mein schwangerer Bauch auch für Außenstehende sichtbar wurde, sagte ich allen, dass ich ganz sicher ein Mädchen zur Welt bringen würde. Im Ultraschall war dann deutlich zu sehen, dass da ein Junge in mir heranwuchs. Zum Glück hatte ich noch fünf Monate Zeit, um mich auf diesen neuen Sachverhalt einzustellen.
Ich wollte meinen Sohn anders erziehen. Er sollte eine nicht näher von mir definierte „weibliche Seite“ entwickeln, die ich bei seinem Vater vermisste.
Die Prozedur der Geburt – eine Teamarbeit von Sohn und Mutter – dauerte nicht länger als drei Stunden. 
Sein Vater Kuno hatte der Geburt beigewohnt. Er war der erste, der unseren Sohn am Spätnachmittag in den Arm nehmen durfte. Wir freuten uns gemeinsam zwei Stunden.
Und während das Kind nach den Anstrengungen dieses Tages den restlichen Abend und die ganz Nacht durchschlief, verbrachte ich die Zeit stolz, glücklich und erleichtert im Krankenhaus. Schade war nur, dass ich nicht dabei sein konnte, als Kuno und unsere Freundinnen und Freunde an diesem denkwürdigen Abend bei uns zuhause auf die Geburt meines Sohnes anstießen. 
Niko wuchs heran, plapperte lange vor sich hin, hielt, auf dem Treppenabsatz vor unserer Haustüre stehend, lange Reden an Passanten, in einer Sprache, die wir nicht verstehen konnten. Hartnäckig weigerte er sich, das einfache Wort „Mama“ oder meinetwegen auch „Papa“ auszusprechen. Das erste verständliche Wort, das sein Mund formulierte, war „Bus“.
Ich drehte mich erstaunt im Auto nach ihm um und sah, wie ein Bus neben unserem Auto herfuhr. Ab da hob Niko, wann immer er einen Bus sah, seine Hand und ließ sie beim Aussprechen des Wortes Bus wieder herunter fallen. Da wir nahe am zentralen Busbahnhof lebten, boten sich ihm diese Gelegenheiten häufig. 
Damals beschlich mich eine Ahnung, dass das mit meinem Erziehungskonzept so eine Sache sei. 
Kurz vor Weihnachten lernte Niko zu laufen. Auf seinem Weihnachtstisch würde er einen kleinen, selbst geflochtenen Korbpuppenwagen finden, darin eine Stoffpuppe liegend. Mit Freude schob er von da an auf allen Spazier- und Einkaufsgängen seinen kleinen Wagen vor sich her. Der Puppe jedoch schenkte er keinerlei Aufmerksamkeit - es war ihm egal, ob sie im Wagen lag oder nicht.
Lange konnte ich verhindern, dass sein Opa dieses Spielzeug zu Gesicht bekam. Als er uns jedoch einmal besuchte und entdeckte, welchen Gefallen Niko am Kutschieren des Wägelchens gefunden hatte, rief der sonst so stille Mann überrascht aus: „Aber Niko, das machen doch nur Mädchen! Jungen spielen Fußball!“
Zunehmend verlor Niko das Interesse am Puppenwagen. Lag es an Opas Urteil oder an einem großen grünen Holzauto, das er zum zweiten Geburtstag von seiner Patin geschenkt bekommen hatte?

Nachdem wir in einen Vorort gezogen waren, mussten wir öfter mit dem Bus fahren, wenn wir in der Stadt etwas zu besorgen hatten. Bei einer Fahrt freundete sich Niko mit dem Busfahrer an. Der hatte Gefallen an dem kleinen Interessenten seiner Fahrkunst. Niko durfte bei jeder Fahrt vorn neben seinem Fahrersitz stehen bleiben und bekam alles erklärt, was ihn interessierte.
Diese Busfahrten inspirierten Niko, eine Buslinie mit einem Kreidestrich durch die ganze Wohnung zu ziehen und die Haltestellen mit einem Kreis zu markieren. Wenn er mit seinem grünen Auto die Linie zwischen Anfangs- und Endpunkt abfuhr, unterbrach er die Fahrt bei jedem Kreidekringel, um die jeweilige Haltestellen anzusagen. Dies gelang ihm bald fehlerfrei.
Perfektioniert wurde die Sache, als Niko alle Haltestellen als Ansagen auf seinen kleinen Kassettenrekorder aufnahm. So brauchte er bei den jeweiligen Haltestellen nur noch auf die Taste zu drücken.
Ein Jahr vor Schuleintritt fing er an, die Haltestellen in seiner Lautsprache auf Zettel zu schreiben. Vor dem Putzen sammelte er jeweils die Zettel ein, um sie später an der genau richtigen Stelle wieder aufzukleben.


Als der Winter kam, riet ich Kuno, seinem Sohn Schlittschuhe zu schenken, denn das Kind hatten einen enormen Bewegungsdrang, den es in die richtigen Bahnen zu lenken galt. Doch in diesem Winter froren weder fließende noch stehende Gewässer zu. Es war einfach nicht kalt genug.
Dafür verfeinerte Opa im Frühling die Techniken des Fußballspiels meines Sohnes mit viel Hingabe: das Toreschießen, Flanke rechts, Flanke links, den Kopfball. Ja, er begann auch schon mit dem Rückzieher, einer ziemlich komplizierten Art, den Ball anzunehmen und abzuschießen.
Und als Niko einmal mit kräftigem Schuss genau das Fenster des Nachbarn traf, das dadurch zerbarst, kannte Opas Stolz keine Grenzen mehr.

Nikos Wunsch, einem Fußballverein beitreten zu dürfen, steigerte sich nach seinem Schuleintritt ins Unermessliche. Ich überging dieses Begehren, bis mich eines Tages sein Pate ansprach. Niko habe sich mit der Bitte, er möge bei mir vorsprechen wegen eines Beitritts, an ihn gewandt, weil er auf dem direkten Weg bei seiner Mutter kein Gehör finde. Ich ließ mich – schweren Herzens – umstimmen. Eine Niederlage, wenn nicht sogar der entscheidende K.O.-Schlag für all mein Bemühen, Nikos Begeisterung auf Sportarten zu lenken, die weniger männerdominiert sind als Fußball.

Als nächstes überraschte mich mein schüchterner, einzelgängerischer Sohn damit, dass er - hinter meinem Rücken - im Hort der Schule eine Fußballmannschaft ins Leben rief. Ich erfuhr es erst Wochen später von seiner Hortnerin.
Bald merkte er, dass mein Widerstand gebrochen war und er jetzt in aller Offenheit agieren konnte. In unserer Wohnung wurde in Anwesenheit von neun Jungen im Alter zwischen sieben und zehn Jahren der FC-Großschwarzenlohe gegründet. Als erstes mussten ein Präsident, ein Trainer und ein Kassenwart gewählt werden. Letzterer hatte die monatlichen Beiträge der Mitglieder des Vereins einzutreiben, um gemeinschaftsbildendes Fußball-Outfit – Trikots und Stutzen – erwerben zu können. Dann wurde beschlossen, eine Vereinszeitung herauszubringen, von der drei Exemplare erschienen.

Bei einem Mittagessen teilte mir mein Sohn freudestrahlend mit, dass er es geschafft habe, ein Fußballmatch Schüler gegen Lehrer an der Waldorfschule zu organisieren. Das war insofern eine Glanzleistung, weil das Fußballspiel in der Waldorfpädagogik als eine Rohheit fördernde Sportart verpönt war. Der Verwalter konnte als Schiedsrichter gewonnen werden. Zum Match erschienen dann jene Lehrer, die sich damit als heimliche Fußballfreunde outeten und das anthroposophische Tabu brachen. 
Mit zehn Jahren schrieb Niko sein erstes Drehbuch – einen Krimi, der sich – selbstredend - im Fußballmilieu abspielte.
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Neulich erzählte mir Nico  – jetzt 30jährig – ganz nebenbei, über ein Gespräch mit seiner Freundin. Beide würden gern zuhause bleiben, wenn ein Kind käme.

Na, wenigstens das !

Elisabeth Gollwitzer                                                                                                             April 2016                                                                                                                                     

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