Donnerstag, 28. November 2013

BAUMRINGEN

Wenn ich ein Vöglein wäre, würde ich Dinge sehen, die ich so niemals sehen kann. Ich könnte den Wind zwischen meinen Federn spüren, elegant in den Wolken schweben, dabei Melodien zwitschern, wundervolle Welten entdecken oder einfach nur fliegen, fliegen, fliegen... Irgendwann würde ich mir einen Ort suchen, mich ins sanfte Gras gleiten lassen, mir ein einladendes Gehölz mit schützendem Bewuchs suchen, mich niederlassen um ein Nest zu bauen. Wenn ich es will. Oder einfach weiter fliegen.

Ich bin aber kein Vogel, ich bin sein Gegenüber und stehe hier, mitten im Wald. Tief verankert, geben mir meine Wurzeln Halt. Aus dem Erdreich ziehe ich meine Energie. Das Federvieh in seiner ganzen Vielfalt spürt das und landet gerne in meinen weiten Verzweigungen. Meist kommen sie luftig aus der Höhe, wippen vergnügt auf und nieder, knüpfen Kontakte, trällern vergnügt und bringen mit ein Stück Leben von der weiten Welt mit. Seltener kommen auch welche heran stolziert. Ich denke da an den albernen Gockel und den eitlen Pfau. Ich muss nicht jedermanns Freund sein. Ein kurzes Rascheln mit meinem Kleid genügt und schon huschen sie davon.

In jungen Jahren suchten meine Nähe eher so Gesellen wie Bachstelze, Steinschmätzer, Feldlerche, Goldammer, Wiesenpieper oder diese Hänflinge. Lästig fand ich allerdings die Klappergrasmücken. Lustig und lebensfroh waren sie alle miteinander, wie auch Rotkehlchen und Spatz. Viel Spaß hatten wir zusammen, es war immer etwas los. Eines hatten alle diese jungen, flatterhaften Möchtegern Herrn der Lüfte gemeinsam: sie wollten vögeln. Viele habe ich in hohem Bogen unter lautem Protest davongejagt.

Bewundert, meist aus der Ferne, habe ich lange den wunderschönen Fischreiher. Elegant und selbstbewusst kommt er des Weges. Eine tolle Ausstrahlung hat er. Irgendwann wurde mir klar, dass auch er nur ein Kranich ist. Und die wissen ja nicht was sie wollen. Ziehen hierhin, ziehen dorthin und nirgends sind sie zuhause. Oder der kräftige, wunderschöne Adler, der seine Freiheit zu fliegen genießt. Freiheit bedeutet ihm sehr viel. Seine Vielseitigkeit und seine innere Stärke habe ich stets bewundert. Meist wenn er flog, gelandet ist er nie bei mir.

Einige Blätterwechsel später kamen die an Nestbau Interessierten zu mir. Ich hatte eine beträchtliche Höhe und die Reife dazu erreicht und das, was ich zu bieten hatte, ließ sich sehen. Ich bin eine recht anpassungsfähige und gesunde Kiefer. Warum nicht zulassen, dass sich jemand bei mir einnistet? Mein immer grünes Gehölz hat einiges zu bieten.

Zunächst klopfte der Specht an. Ein passabler Handwerker, der sogleich auch seinen Werkzeugkoffer auspackte. Aber den ganzen Tag das Gehämmere? Das ging mir durch Harz und Wurzeln und verletzte meine empfindsame Rinde zu sehr. Außerdem soll der Nachwuchs Nesthocker sein. Und wer will sich schon über lange Zeit blockieren?

Danach gurrte sich ein Tauberich heran. Schön und trotzdem nicht abgehoben. Das wundersame rein weiße Gefieder passte zu ihm. Gerne verkündete, säuselte und girrte er sinnreiche Sprüche. Nicht immer waren wir einer Meinung und meine Belange stießen auf Taubheit. Da half auch die Liebe und Verbundenheit nicht.

Dann doch lieber Meister Amsel mit seinem schwarzem Gefieder, einem braunen Blick und solidem Wesen. Und der vor mir, hatte nicht nur einen besonderen Dialekt, sondern war auch ein besonders stattliches Exemplar. Hätte ich besser hin geschaut. Ein Nichtsnutz war er, der seine Brut woanders deponierte. Zum Kuckuck!

Was war ich sauer. Aber im saurem Boden kann ich überleben oder wie jetzt, in die Jahre gekommen, in leicht kalkigem. Auch Liebes- und Wassermangel konnte ich wegstecken. Aber beschissen haben mich einige. Und ich habe geblutet. Getröstet hat mich der Uhu. Er ist heute noch mein bester Freund.

Dann kam der Elstermann. Immer wieder. Von oben, von rechts, von links. Er umwarb mich auf subtile Art. Geheimnisvoll und attraktiv beobachtete er mich, kam mir aber nie zu nahe. Das schwarze Gefieder passt zu seiner Art, weil es dunkel und dennoch schön ist. Es ist nicht so schwarz, wie die der anderen Rabenvögel. Die Federn schwarz-weiße. Auch er ist ein wenig in die Jahre gekommen.

Von Anfang an sagte er, dass er unabhängig und frei sein wolle, aber nicht in die Ferne schweifen würde, wie der Adler. Er gehöre zu den Elstern die alleine leben. Von Nestbauern hatten meine Zweige die Nase voll. So ließ ich mich drauf ein, trotz unken des Uhu, der mich wegen seiner diebischen Ader warnte.

Geistreich und gesellig ist der Elstermann und gerne sehe ich mir das Sammelsurium seiner glänzenden Gegenstände an, die er immer wieder in sein Nest schleppt. Manchmal bin ich froh, dass er sein Nest nicht bei mir hat. Es würde mich verbiegen. Und doch hätte ich ihn gerne bei mir.

Viele harte Jahreszeiten liegen nun hinter mir. Um mich herum ist es licht geworden. Die einen in meiner Nachbarschaft sind verheizt worden, andere haben sich zum Hampelmann machen lassen. Einen hat der Blitz getroffen, manche sind einfach abgestorben. Auch ich habe einige Kämpfe hinter mir. Fremdkörper und andere Parasiten haben meine Kraft geschwächt. Teile meiner Äste habe ich absterben lassen und abgeworfen, um zu überleben. Nun bin ich nicht mehr astrein, dafür ist mein Stamm um einiges breiter. Mein Anblick war einmal schöner. Aber auch das hat seine Vorteile: Ich muss nicht mehr so viel Vogelvieh abschütteln.

Der Elstermann kommt jetzt schon seit zig Baumringen nach wie vor an sammelfreien Tagen zu mir. Beschissen hat er mich noch nie. Gut arrangiert haben wir uns. Er hat seine Freiheit und ich meinen Standort.

Seit kurzem taucht der Papagei bei mir auf. Was hat diesen Paradiesvogel hierhin verschlagen? Aus einer fremden Welt kommt er und spricht in fremder Sprache. Denke ich an ihn, kommen mir Piraten in den Sinn. Wo mag er herkommen, der Exot? Amazonas, Brasilien, Rio …? Er bringt mein Harz zum Fließen bis in die tiefste Wurzelspitze. Wenn er auf mir landet, wird mir ganz anders. Mein Kieferduft betört ihn, an meinen Zapfen knabbert er. Er lockt mit der Fremde, weckt Sehnsucht in mir, lädt mich ein ihm zu folgen. Eine neue Welt entdecken? Ich blicke auf meine Wurzeln, die verlässlichen, die mich stützen und halten. Wie soll das gehen? Ich bin hier verankert. Weg von hier? Weg von meinem Leben?

Da hebt das bunte Gefieder ab. Wie ein Regenbogen umfließt er mich. Es entsteht eine Bö, ein Wind, nein ein Sturm, ein Sog. Das Erdreich gibt nach. Meine gekrümmten Wurzeln bewegen sich, lockern sich, strecken sich. Aus Lehm wird Sand. Treibsand. Er rieselt durch meine Wurzeln. Hilfe, ich verliere meinen Halt. Ich verliere den Boden unter den Füßen. Ich schlage mit meinen Ästen wie mit Flügeln, höre den Elstermann, krarrrr, krarrrr. Er umkreist mich, flattert und sagt nicht: Bleib! Der Uhu schweigt. Da hebe ich ab. Gewinne Höhe. Amazonas, Rio, Brasilien… Ich komme.

Wenn ich ein Vöglein wär‘, würde ich fliegen, fliegen, fliegen …

© Frau Gunkelberg  2013

Samstag, 26. Oktober 2013

Jardin perdu

Selbst den so geliebten Park hatten sie ihm genommen. Es waren nun andere Bäume, die er durch die Buntglasscheibe anstarrte, die, Wand hoch und beinahe zwei Meter von dem den Gang begrenzenden Geländer entfernt, Stämme und Kronen, Sträucher und Blumenrabatten verfremdete. Panzerglas sei es, hatte man ihm gesagt. Unzerstörbar. Färbung und Struktur des Glases schufen eine bis dahin unbekannte, wunderliche Distanz zu der Welt dort draußen, die nicht mehr war wie vorher und alles war schlechter geworden, seit sein Engel ihn verlassen hatte. Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen. Sie hatte einfach überreagiert, sie, die sonst so lässige, die coole, unbeschwerte. Sabrina! Nicht Herrscherin seines Vorzimmers war sie gewesen, sie hatte es beseelt, hatte mit ihrer Jugend und ihrem Charme Leben und Wärme hineingebracht. Ihre zierliche und doch so weibliche Gestalt mit den geschmeidigen Bewegungen, ihre grünbraunen Augen, die Grübchen in den Wangen, wenn sie lachte, das Stakkato ihrer Absätze,  ihr Trällern am Morgen beim Kaffeekochen, der Hauch von Parfum - ein wenig süß und ein wenig herb, nie zu schwer -, der noch im Raum hing wie eine Erinnerung, wenn sie ihn schon verlassen hatte, all das war zum erfreulichsten Teil seines Alltags geworden.
Mein Gott, und eigentlich war doch gar nichts passiert! Dass er sie berührt hatte, das konnte doch mal vorkommen; sie kam ihm nahe beim Reichen der Akten, um die er gebeten hatte, dass es ihr Busen gewesen war, nun ja …, dass man seinen Handabdruck sah – nur geschuldet der ungemein zarten, empfindlichen Haut ihres Dekolletés. Aber sie hatte geschrien, hoch und schrill und laut und war aus dem Büro gestürzt, den Gang entlang; das Stakkato ihrer Absätze überschlug sich. Ein Kollege aus dem Büro gegenüber erschien an der Tür, wollte wissen, was geschehen war. Er war zu keiner Antwort fähig. Noch heute erinnerte er sich mit heißer, brennender Scham an das Gespräch mit dem Behördenleiter. Man hatte ihn geschont, wollte glauben, was er vortrug. Ein peinliches Versehen, ein Missgeschick, natürlich. Und doch traf ihn die härteste Strafe. Er hatte sich leise, stotternd, händeringend, dann schriftlich in aller Form bei ihr entschuldigt, dennoch: Sabrina Zinnerersuchte um Versetzung; dem wurde selbstverständlich stattgegeben.
Ihre Nachfolgerin hieß Gertrude Butterhoff, maß einen Meter siebenundsechzig bei einem Gewicht von dreiundneunzig Kilogramm, trug Birkenstock und roch nach Zigaretten, Schweiß und Leberwurst. Auch sie war nicht Herrscherin seines Vorzimmers – dazu fehlten ihr Fachkenntnisse und Ausstrahlung gleichermaßen – aber sie füllte es aus. Nicht nur ihre Person beanspruchte Raum, auch die benötigte Verpflegung tat es. Zwar nutzte sie durchaus die Kantine des Amtes, aber das reichte nicht. Sie kam ihm vor wie einmenschlicher Mähdrescher. Ununterbrochen mahlten ihre Kiefer; zwischen Akten, Schriftstücken, Tastatur und Telefon verschwanden Berge von Pommes frites, Pizzateilen, Wurstbroten (Leberwurst, manchmal auch Knoblauchsalami), Hähnchenschenkeln und Bratwürsten. Er war Ästhet und er war Vegetarier und er litt unsäglich, doch trug er es mit sovielWürde, wie er nur aufbringen konnte und betrachtete es als eine Art Sühne für sein Tun. Nur einmal stieß er an die Grenzen seiner Duldsamkeit. Als bei einer kleinen Geburtstagsfeier im Kollegenkreis die Sprache auf die gequälte Kreatur in der Massentierhaltung kam – er hatte das Thema angestoßen – und sie kauend einwarf, sie sehe kein Leid, da sie Nutztiere nicht als leidfähige Wesen sondern als ihre Nahrungsmittel betrachte, krampfte sich sein Magen zusammen und er fühlte eine Woge des Abscheus, nein es war mehr als das, es war blanker, abgrundtiefer Hass, der in ihm aufstieg, mit einer Heftigkeit, die ihm den Atem nahm, und er musste den Raum verlassen, um seine Beherrschung wiederzuerlangen. Er spürte die Blicke seiner Kollegen imRücken. Danach ertrug er ihre Anwesenheit mit verbissenem Schweigen. Er schauderte, wenn ihre Gestalt sich über seinen Schreibtisch beugte, ihm zugewandt, der mächtige Busen vor seinem Gesicht. Er hielt die Luft an, bis sie das Zimmer wieder verlassen hatte. Selbst die Akten rochen nach Essen und kaltem Rauch. Er wurde zum Frischluftfanatiker.
Manchmal, wenn Zahlen, Akten und Sauerstoffarmut ihn ermüdet hatten, gönnte er sich eine Pause und verließ sein Büro, um am Ende des Ganges auf den schmalen Balkon hinauszutreten, der als einer von dreien, Geranien geschmückt, die Rückfront des Ämtergebäudes zierte. Was ihm liebe Gewohnheit seit Jahren war, wurde zur täglichen, zwingenden Notwendigkeit, um das Unerträgliche ertragen zu können. Er genoss den Blick auf den Park und das Wechselspiel seinerFarben. Nie hatte er sich entscheiden können, wann er ihm am besten gefiel: im Frühjahr, wenn die Baumkronen voller Verheißung in den unterschiedlichsten Grüntönen leuchteten – im Mai hatte er dreizehn verschiedene Nuancen gezählt (die Blutbuche eingerechnet) -, im Sommer, wenn das dunkel gewordene Grün die bunten Blumenrabatten am Eingang betonten oder im Herbst, wenn der Farbrausch der Blätter noch einmal alles überstrahlte, bevor der Winter die bloße Form in Szene setzte. Auch das liebte er. Er fing an, den Bäumen Ziffern zuzuweisen. Die Sicheltannen ganz vorne trugen die eins, die mächtige Blutbuche war die neun und die drei Eichen gegenüber, knorrig und hochgewachsen, bezifferte er mit sieben, während die Winterlinde als markantester Baum hinter dem kleinen Weiher die sechs verkörperte. Auch Birken, Robinien, Ahorn, Zypressen und Eiben wurden beziffert. Dazwischen änderte er ihre Benennung. Da die Ziffern nicht für alle Baumarten im Park reichten, blieben in manchen Monaten die Tannen ziffernlos, weil nun die schlanke Zypresse die eins bekam, und weil die fröhliche Birke auch mal die sechs sein wollte, musste die Linde im August leer ausgehen, ebenso wie die Eichen, als der Ginkgo die sieben begehrte. Er stellte sich vor, wie die Bäume darüber tuschelten. Manche lästerten und schimpften, während andere sich brüsteten. Aber die Erde, die alles trug, alles hielt, alles versorgte, die demgemäß die mächtigste der Ziffern trug, die Null, was er auch nie änderte, schwieg dazu, einvernehmlich wie ihm schien. Nur manchmal kicherte sie leise.
Dann wurde auch dieses Refugium bedroht. Es war ein Dienstagnachmittag gegen halb drei, als er den Zigarettenstummel auf dem Balkonboden entdeckte. Er erstarrte, Schweiß brach ihm aus beim Anblick des himbeerroten Lippenstiftrestes am Filter. SIE bevorzugte diesen Farbton. Manchmal hing ein Rest am unteren Rand ihrer Schneidezähne. Nicht hier! Nicht in seinem Allerheiligsten! Er roch kalten Rauch, Schweiß und Leberwurst. Steifbeinig verließ er den Balkon und lehnte sich zitternd an die Wand, bevor er zu seinem Büro zurück ging und die Tür zum Vorzimmer aufriss. Frau Butterhoff, erschrocken durch das unerwartete Geräusch, drehte sich zu ihm um, während sie in die Hot-dog-Semmel biss und Ketchup spritzte quer über den Schreibtisch. Was dann geschah, konnte er später nicht mehr sagen. Seine Hand war schneller als sein Kopf, als sie zu dem Messer griff, das aus ihrer Einkaufstasche ragte und den Preis noch trug – 67,50 €, es war ein sehr gutes Messer – und damit zustieß. Es traf die Halsschlagader und das Preisschild baumelte noch daran, als Frau Butterhoff mit einem matten, röchelnden Schrei schwer über den Aktenhunt stürzte, Teller und Glas mit sich reißend, während ihr Blut pulsierend Akten und Schriftstücke rot färbte. Von der offenen Tür hinter ihm kam ein Laut.
„Ketchup“ sagte er zu dem Kollegen aus dem Nachbarbüro, der mit kalkweißem Gesicht und offenem Mund den Türgriff umklammerte. „Ketchup. Ketchup.“
Eine Hand legte sich ruhig und bestimmt auf seine Schulter, während er noch einmal zu den verfremdeten Bäumen jenseits der Glasscheibe hinüberblickte. „Kommen Sie, Herr Breuer. Die Therapeutin wartet .

22.09.13
Sonja Meier


Bild: Jardin Perdu von Jürgen Durner, der uns freundlicherweise erlaubt hat, sein Bild auf unserem Blog zu veröffentlichen



















Donnerstag, 26. September 2013

Die fröhliche Frau

Sie wachte von selbst auf, noch vor dem Weckerläuten, und wie immer, wenn das passierte, freute sie sich darüber, als sei ihr etwas Besonderes gelungen, als habe sie dem Wecker, diesem lästigen Gesellen, der gleich mit den Pieptonintervallen  beginnen würde, ein Schnippchen geschlagen. Immerhin fasste sie heute nicht mehr automatisch nach links, wie sie es die letzten beiden Morgen getan hatte. Sie kicherte bei dem Gedanken vor sich hin. Wie unverrückbar Gewohnheiten waren! Montagmorgen war Hans-Hermann nach München zu einem Seminar  gefahren:  Bilanzbuchhaltung  unter Berücksichtigung Europäischen Rechts.  So trocken, hatte sie gesagt, dass Brandgefahr bestand. Drei Nächte schlief sie nun allein. Trotzdem hatte sie an sich halten müssen nicht wieder hinüber zu fassen; diese mechanische Geste des Weckens, Bestandteil des morgendlichen Rituals seit so vielen Jahren. Er war schweigsam gewesen bei der Abreise, ob aus Konzentration oder aus leisem Groll wegen Sonntagabend wusste sie nicht, vielleicht beides.
Sie waren mit einem seiner Kollegen und dessen Frau im Theater gewesen. „Hamlet“. Sie verabscheute das Stück und war nur ihrem Mann zuliebe mitgegangen. Dass die Inszenierung das blutige Mittelalterspektakel in der Chefetage eines Konzerns angesiedelt hatte und die Protagonisten im letzten Akt nur noch beschmutzte Unterwäsche und Krawatten trugen, machte es ihr nicht leichter. Sie habe Hamlet einmal, erzählte sie später beim Studieren der Speisekarte im Restaurant heiter, als Kindertheater gesehen. Das habe ihr nicht so den Appetit verdorben, der Gedanke an Sojasauce lasse sie jetzt schaudern, ginge es den anderen auch so? Einen Moment lang hatte Schweigen geherrscht und Hans-Hermann warf ihr später vor, die Frau seines Kollegen, eine große Shakespeare-Verehrerin, die auch die Auswahl des Stückes getroffen hatte, beleidigt zu haben. Und außerdem fuhr er fort, machst du dich mit deinem Kindertheater lächerlich. Da kannst du mit Lena hingehen, wenn sie alt genug ist. Eine Großmutter allein im Kindertheater ist lachhaft. Sie hatte ihn einen Spießer genannt, und der Abend endete in Disharmonie. Obwohl sie sich über seine Borniertheit ärgerte, bedauerte sie den Streit am nächsten Morgen und war ihm gegenüber besonders aufmerksam, aber er hatte geschwiegen, beim Frühstücken betont interessiert die Zeitung gelesen und sich dann etwas frostig verabschiedet. Er konnte nachtragend sein, aber bis heute Abend würde er es vielleicht vergessen haben.
Sie streckte sich wohlig, verschränkte die Arme unter dem Nacken und blinzelte in die Sonne, deren Strahlen durch das Laub des Fliederbaumes ein Muster fliegender Licht- und Schattenpunkte auf die Wand ihr gegenüber zauberten und dort, wo sie den geschliffenen Rand des Spiegels trafen, glitzernde Reflexe in allen Regenbogenfarben setzten. Sie hatte überstundenfrei, ihre Tochter Christin war mit Mann und Kind verreist, also stand auch kein Oma-Dienst an und so hatte sie sich eigentlich Hausarbeit vorgenommen, aber der Tag war so schön. Sie sprang, ohne die ziependen Rückenmuskeln zu beachten, aus dem Bett, machte Katzenwäsche wie in Kindertagen und setzte sich mit der Zeitung zum Frühstücken auf die Terrasse, barfuß, ungeschminkt und ungekämmt. Sie schmunzelte beim Gedanken an Frau Meinhardt, die Nachbarin zur Linken, die auch für den Brötchenkauf am Samstag das große Make-up auflegte und deren Staubsauger nun deutlich vernehmbar brummte. Ausgerechnet heute war die auch zu Hause. Sie erinnerte sich an das verkniffene Lächeln der Nachbarin, als sie einmal beim Fensterputzen auf der Terrasse von der Leiter rückwärts in den Eimer mit dem Putzwasser gestiegen war. Sie hatte ihn nicht umgeworfen sondern war mit ihrem linken Fuß exakt in die Mitte des Eimers getreten und musste über diesen Zufall so lachen, dass sie einen Schluckauf bekam. Bei ihrem Rückzug in die Wohnung hatte sie eine nasse Spur bis ins Badezimmer hinterlassen und dann Mühe gehabt, Hans-Hermann zu beruhigen, der auf der Suche nach ihr die Terrasse vom Arbeitszimmer aus betreten und dabei den Eimer übersehen hatte, über diesen gestolpert war und ihn dabei umgeworfen hatte. Auf der Suche nach einem Putzlappen wäre er auf ihrer nassen Spur beinahe gestürzt, und er fluchte so laut, dass Frau Meinhardt herüber rief, ob sie helfen könne.
Diese scheinheilige Zicke! Marianne atmete auf, als der Staubsauger verstummte und widmete sich ihrem Frühstück. Das letzte ohne Hans-Hermann. Sie hatte die drei Tage Alleinsein so genossen, dass sie beinahe ein schlechtes Gewissen verspürte. Drei Tage Freiheit ab zwölf Uhr mittags. Sie hatte sich mit einer alten Schulfreundin zum Stadtbummel getroffen, den Botanischen Garten besucht und sich gestern Abend „Jenseits von Afrika“ gegönnt, ohne das resignierte Seufzen ihres Mannes  beim Aufreißen der Taschentuchpackung  ignorieren zu müssen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, faltete die Zeitung zusammen, räumte das Geschirr aufs Tablett und trug es in die Küche, wobei sie auf dem Weg sorgfältig einem Paar grauer Wildlederpumps  und dem halb gefüllten Wäschekorb auswich, während sich auf der Terrasse die Spatzen lautstark um die Krümel zu streiten begannen. Aus dem Küchenfenster sah sie den Postboten vorbei radeln. Sie schlüpfte rasch in ihre Sandalen und lief hinaus. Die vier Stufen vor der Haustür nahm sie in zwei Sätzen und hüpfte auf den Steinfliesen bis zum Briefkasten, sorgfältig darauf achtend, wie in Kindertagen immer eine Fuge zu treffen. Sie lächelte bei der Erinnerung an die oft gewonnenen Hüpfwettkämpfe mit den Nachbarskindern, meist dotiert mit Erdbeerdrops und dem Recht das nächste Spiel zu bestimmen.
 „Schönen juten Morgen, Frau Richter, das nenn‘ ich jute Laune!“
Sie hatte, ganz auf den Weg konzentriert, Herrn Schmolenske übersehen, der mit seinem Dackel vor ihrem Gartentor stand und sie zufrieden musterte.
„Ich hab‘ schon oft zu Ihrem Mann jesacht, Herr Richter, hab‘ ich jesacht, Herr Richter, mit Ihrer Frau ham Se sich die Jugend ins Haus jeholt. Ob Mutter oder Oma, die is‘ noch so jung wie bei der Hochzeit. Wo is‘ er überhaupt? Seit drei Tagen hab‘ ich ihn nich‘ mehr aus’m Haus jeh‘n seh’n.“
„Auf Tagung“. Sie fuhr sich ein wenig verlegen durch das Haar, nahm die Post aus dem Kasten und beeilte sich ins Haus zurück zu kommen, um weiteren Fragen zu entgehen. An der Haustür warf sie einen Blick auf die Umschläge: zwei Rechnungen, ein Brief vom Finanzamt , einer von der Versicherung. Bestimmt eine weitere Widrigkeit im unendlichen Streit um die Begleichung der letzten Handwerkerrechnung für die Behebung eines Wasserschadens vom vorletzten Jahr. Sie verharrte auf der letzten Treppenstufe und mit einem Mal freute sie sich aus tiefstem Herzen auf die Rückkehr ihres Mannes. Sie sah sein ernstes, ein wenig strenges Gesicht mit der schwarz gefassten Brille, sah ihn konzentriert am Schreibtisch sitzen, wie er es oft abends noch tat, sorgfältig einen Brief nach dem anderen abarbeitend. So nah war ihr dieses Bild, dass sie glaubte, seine Anwesenheit zu fühlen und den Duft seines Haares zu riechen. Beinahe hätte sie die Hand ausgestreckt. Und plötzlich packte sie die Sorge. Was, wenn ihm etwas passiert wäre, wenn er einen Unfall hätte? Wenn er nicht nach Hause käme? Sie starrte auf ihre Hand, in der sie die Briefe hielt und die sie nun in Heftigkeit zur Faust geballt hatte. Wie dumm! Aus den Augenwinkeln sah sie Schmolenske, der händereibend am Zaun stand und ihr nachblickte.
Sie straffte sich und betrat ruhigen Schrittes das Haus, legte die Post, nicht ohne sie etwas glatt zu streichen, auf die Konsole im Flur, berührte mit leichter Hand das kleine Holzkreuz neben dem Spiegel, das ihr vor Jahrzehnten ihre Großmutter aus Südtirol mitgebracht hatte und das sie seitdem hütete wie einen Schatz, und plante den Tag. Für abends wollte sie ein leichtes Fischgericht zubereiten;  und dazu vielleicht einen trockenen Soave. Hans-Hermann würde sich freuen. Rasch begann sie aufzuräumen. Beim Leeren des Wäschekorbes fiel ihr Blick auf den Schauspielführer, der, noch mit Lesezeichen versehen, auf der kleinen Frisierkommode im Schlafzimmer lag. Etwas abwesend trug sie ihn zum Bücherregal. Ach ja, ein Dessert könnte sie auch noch machen. Vanilleeis mit pürierten Waldbeeren, das ging schnell und passte gut zum Hauptgang. Den Teller würde sie mit gezogenen Fäden heißer Schokolade verzieren. Und eigentlich, dachte sie, während sie das Buch in die Lücke zwischen Opern- und Wanderführer stellte, ist Hamlet gar nicht so schlimm.

18.08.13

Sonja Meier

Foto Copyright @ Fürtherin

Montag, 19. August 2013

Abschied

Halbmond am Himmel
Graublau der See
Dunkel der Glockenschlag
Zeit, dass  ich geh‘.

von Sonja Meier

Urlaubselfchen

Urlaub
Ist Auszeit
Körper und Geist
Suchen die abhanden gekommene
Seele

Paradiesisch
Die Ruhe
Unter den Bäumen
Die Grillen zirpen mir
Lieder

Urlaub
Ist Auszeit
Und die Seele
Schüttelt ihre Flügel aus
Unbeschwert


Unterwegs
Zu sein
Bedeutet nicht immer
Ankommen zu wollen am
Ziel


Wenn
Der Weg
Das Ziel ist
Was ist dann das

Gasthaus


von Sonja Meier

Sonntag, 7. Juli 2013

Wie kommentiere ich einen Blog, wenn ich nicht angemeldeter Nutzer bin?

Hallo liebe Mitschreiber und Mitleser,

wir haben mittlerweile schon viele Lesezugriffe aber nach wie vor kaum Kommentare. Vielleicht liegt es auch daran, dass man denkt, man müsse sich anmelden um zu kommentieren. Es gibt aber auch die Funktion anonym zu kommentieren. Wie das geht, wollte ich Euch hier zeigen:

Ihr klickt auf: Keine Kommentare (oder wenn welche vorhanden sind, steht da die Anzahl der Kommentare). 

Dann erscheint folgendes Fenster:

Um zu beweisen, dass es sich bei dem Kommentar nicht um einen automatisch erstellten Eintrag eines Computers ist, wird die Eingabe eines Codes verlangt, der in einer komischen Schreibschrift dargestellt ist. Ihr tragt diesen einfach ein in das Feld bei: Geben Sie die beiden Wörter ein. Dann auf Veröffentlichen drücken und der Beitrag erscheint dann. 

Viel Spaß beim zahlreichen Kommentieren.



Donnerstag, 4. Juli 2013

Elfchen von Lina Liebherz

Orange
der Regenschirm
leuchtet über mir
ich schöpfe neue Hoffnung -
Sommerzeit.


Grau
der Himmel
Regen fällt herab
ich seh Rasen atmen.
Hoffnungsgrün.


Einsam
die Frau
Trauer unterm Regenschirm
der Regenschirm leuchtet orange
himmelwärts

Montag, 1. Juli 2013

Drei kurze Enden


Ich glaube, sagte sie nach einem Blick auf die Uhr, ich muss mal lüften. Die Luft steht, findet ihr nicht? Die Gäste begannen sich zu verabschieden.

 

 

Das war’s sagte der Punkt, als er vom Ausrufezeichen geschluckt wurde.

 

 

Sie legte ihre Koffer ins Auto, nahm die letzten Scheine aus der kleinen roten Dose in der Küche, sammelte Handtasche, Brille und Smartphone ein, verließ das Haus und warf die Schlüssel in die Restmülltonne.

 

09.06.13

Sonja Meier


Ein Ende

Eigentlich hasste sie diese Musik, aber das durfte sie nicht sagen; es klang so ungebildet. Er würde wieder die Stirn runzeln wie damals. Sie erinnerte sich an seinen verwirrtenBlick, als sie bei der Mondscheinsonate, die aus diskret eingebauten Lautsprechern auf seiner Terrasse erklang, gesagt hatte: „Tanzen kann man darauf nicht. Hast du nur so was?“ Das machte natürlich der Altersunterschied, jedenfalls auch.

Er liebte diese Musik, sie verstand sie nicht. Die getragenen Töne langweilten sie. Aber gut, das eine oder andere Opfer musste man bringen. Schließlich hatte alles seinen Preis. Sie gähnte verstohlen und warf einen Seitenblick auf ihre Uhr. Immer noch mindestens eine Stunde. Na ja. Sie betrachtete die Mauern, efeubewachsen, darüber nur Himmel. Noch war es hell, aber die verblassenden Farben ließen die Dämmerung ahnen. Vögel sangen; sie hätte nicht sagen können welche. Ihre lauten Stimmen klangen schrill, als lägen sie in einem erbitterten Wettstreit mit den Musikern. Die Leute neben ihr schienen versunken in die schmelzenden Töne der Streicher. Bernhard hatte gesagt, es sei kein typisches Stück für den Komponisten. Warum wusste sie nicht mehr. Sie gähnte wieder unauffällig. Immerhin würden sie noch eine Kleinigkeit essen gehen, darauf hatte sie bestanden, und dann … Sie dehnte sich leise lächelnd. Ihre Garderobe war sorgfältig gewählt für diesen Abend; das schmale, lange Kleid schmeichelte ihrer Figur, das klare Rot betonte die gebräunte Haut, ihre dunkles Haar und ihre tiefbraunen Augen. Langsam schlug sie die Beine übereinander, der Seitenschlitz rutschte weit über ihr Knie. Sie würde alles in die Waagschale werfen müssen, denn die Beziehung entwickelte sich nicht so, wie sie es wünschte. Nun gut …

Sie fröstelte. Wind war aufgekommen. Sie blickte nach oben, sah dunkle Wolken, wo eben noch blassblaue Dämmerung gewesen war und zog die Schultern hoch. Auch das noch! Die Steinmauern hielten den Klang der Instrumente, darüber tobten die Elemente. Eine Windbö fuhr pfeifend ins Efeu, dumpfes Grollen mischte sich in die Musik. Unruhe breitete sich im Publikum aus. Ein grelles Licht zuckte über den Mauern, beinahe gleichzeitig übertönte der Donner das Orchester, und ein Sturzbach ergoss sich über Musiker und Publikum. Alle flohen.  Panikartig rannten die Menschen zum Ausgang, suchten einen Unterstand, Schutz vor der Sintflut, die das Wasser in Sekundenschnelle zentimeterhoch stehen ließ.

Sie war sofort nass bis auf die Haut, folgte Bernhard, der sie Richtung Tor zerrte, stolperte, ein Absatz brach. Sie wäre beinahe gestürzt. Ihr Haar klebte in nassen Strähnen im Gesicht, das Make-up zog schwarze Schlieren über Wange und Kinn. Jemand öffnete Seitentüren, und sie flüchteten in einen kahlen, hohen Raum. Kalt war es hier, aber wenigstens hatten sie Schutz vor dem tobenden Gewitter. Sie zitterte vor Kälte und Angst.

„Mein Gott“ sagte Bernhard, während er ihr mit ritterlicher Geste sein triefendnasses Jackett über die Schultern legte. „Die Instrumente! Wie schrecklich!“.

 

09.06.13

Sonja Meier


Dienstag, 18. Juni 2013

Herzklau

Ich fliege, ich schwebe. Welten rauschen an mir vorbei. Sonne, Mond und Sterne. Dabei fliegen nicht sie, sondern ich.
Kleine, goldene Punkte aus dem Nichts, aus dem All, aus der Unendlichkeit. Wachsen. Wachsen. Größer. Schneller – Husch vorbei. Hier, da, hin und weg. Bin ich. Meine Augen blinzeln.

Ich kenne das Bild vom Bildschirmschoner. Sterne entstehen und vergehen. In der Mitte, in der rechten, in der Linken Ecke des 24ig Zollers, der Unendlichkeit. Anfang und Ende. Wo fängt es an, wo hört es auf. Husch und schon vorbei, mit Lichtgeschwindigkeit.

Ich schaue hinaus, zurück. Egal aus welchem Bullauge ich aus meiner Kapsel hinaus glotze. Wie der Bulle auf der Wiese. Glotz. Glotz. Kau, Kau. Ich kann ihn nicht finden, meinen Heimatstern. Weg, zu weit weg bin ich.
Schwerelos bin ich hier drin. Leicht, so leicht. Mein Körper schwebt, doch mein Herz ist schwer, so schwer wie die gewichtigen Sterne um mich herum. Angestrahlt von der Sonne, reflektiert vom Mond.
Wie war das mit dem Brechungsindex, schießt es mir durch den Kopf? Hier bricht nix! Oh Gott mir wird schlecht. Will nicht brechen, nicht abbrechen.
Weiter, weiter durch die Milchstraßen ohne Kühe, ohne grün.
Nur schwarzweiß, hell dunkel.
Hin und weg.
Kein Tag, keine Nacht.
Orientierungslos.
Ich brauch was Festes. Festen Boden unter den Füßen. Festes Essen. Suche das Firmament ab. Da, ne grünblaue Kugel mit zwei Monden, 2 Sonnen, lächelt mich an.

Zoom mich hin, dock mich an. Erdanziehung greift, Kompression läuft, werde 3G schwerer, kleiner, fester, enger.
Willkommen im Körper! Gelandet, gestrandet.
Verdammter Traum, nicht auf dem Berg! Liege ihm zu Füßen. Rappel mich auf. Körper funktioniere! Wie mühsam.
Beschwer dich nicht. Du wolltest es so.
Rappel mich auf. Um mich Wald, regennasser Wald. Nass die Stufen. Beine go. Stufe um Stufe in Fels gehauen. Bedeckt mit Erde. Blätter ölig, faulig. Eng und dunkel ist es hier. Lunge pumpt. Herz pocht. Tock. Tock. Tock. Weiter in klammer Enge. Lichtpunkt oben, da oben. Felsen und Grün statt matschiger Blätter und Fäulnis.
Stehen bleiben in Sonne, in Licht. Stillstand. Nur Äußerlich und doch Stille. Ohr links brumm, rausch. Ohr rechts summ, kling. Eine Biene, tatsächlich eine Biene. Weit weg ein Motor im Leerlauf. Leerstand. Sinn hier, Sinn da, sinnlos.
Nichts außer dem Pochen meines Herzens. Es pocht, stolpert, hüpft hinaus, stolpert, fällt vom Felsen. Freier Fall. Weg.
Ich bleibe oben auf dem Berg. Es pocht in mir, ohne mein Herz, wie herzlos…
Es plumst in die Schubkarre mit dem roten Griff. Kollert hin und her, kommt zur Ruhe, pocht vor sich hin.

Da kommt ER wider Zeit noch Raum aus dem Nichts. Was macht er hier? Nimmt die Schubkarre und schiebt sie weg im Sauseschritt. Und ich steh hier oben in 3G ohne Herz. So schwer. Herzklau.
Wächst so etwas nach, kommt es wieder? Kommt ER wieder? Will nach Hause. Will ich das? Mein Heimatstern, den gibt’s nicht mehr. Was will ich hier?

Erdenschwere loslassen, losmachen. Beam mich weg. Beam mich hin, in meine Kapsel, im Nirgendwo. Tschüss Josefstern. Mittendrin zwischen den Welten.
Mir ist wieder leicht und gar nicht schwer. Lass außen alles an mir vorbei ziehen. Nur beobachten, nichts verändern, nichts anfassen.

Poch, poch. Der Raum um mich wird hell und bunt. Da ist es wieder bei mir, mein Herz. Ich verschenks an meine Seele. Höhenflug, ich bin so frei. Ausruhen darf ich mich jetzt...

© Frauke Gunkelberg, Foto Akire

Der Fichtenwald

Er zog die Tür hinter sich zu, und als er das Klicken des Schlosses hörte, erinnerte er sich, keinen Schlüssel eingesteckt zu haben. Es nieselte noch leicht. Luft! Etwas ziellos wandte er sich nach links. Rechts stand der Opel, stark verbeult, das Ende der Stoßstange stak in der schlammigen Pfütze davor. Auch so etwas!
Er vermied es hinzusehen und schritt fast automatisch aus, dem Weg folgend. Regentropfen fielen auf seine Brille. Putz sie endlich einmal, würde Hilde sagen. Kein Wunder, dass du nie was siehst. Er hatte, statt die Herdplatte zurück auf eins zu stellen, auf sechs geschaltet. Die Spiegeleier waren schwarz gewesen, und die Küche hatte so geraucht, dass auch die Stunde lüften den Gestank nicht ganz vertreiben konnte.
Er zog die Luft in tiefen Zügen ein, genoss die Stille, genoss den Geruch von nassem Holz und Pilzen, genoss sogar den Regen, der von den Zweigen troff und in seinen Kragen tropfte. Sekundenlang starrte er die feuchten Schlieren auf seiner Regenjacke an.
Sie hatte ihm Butterbrote hingestellt, wortlos, mit klappernden Tellern, hatte den Raum ebenso wortlos verlassen, ein wenig langsam und schwerfällig, wie es ihre Art war. Er hatte die grauen Strähnen ihres Haares angestarrt und die Laufmasche an ihrem linken Strumpf, die als kleine, blasse Rinne vom Rocksaum zur Ferse führte, hatte dann den Blick gesengt. Von oben wummerten Bässe. Jörg! Am Morgen war die Polizei da gewesen, zwei Beamte vom Rauschgiftdezernat, und hatten nicht nur die  Zimmer des Sohnes durchsucht, sondern auch die Nebenräume des Hauses, hatten seine geliebte kleine Werkstatt auf den Kopf gestellt, ohne zu sagen, was sie suchten. Danach wummerten die Bässe noch lauter.
Er folgte dem Weg aus dem lichten Buchenwald hinaus ins offene Tal. Letzte Regentropfen fielen aus den Wolken, die bleigrau, einem Gebirge gleich, über dem Grund hingen und die Wipfel des Fichtenschlags streiften, der als dunkelgrüne, leise rauschende Wand vor ihm aufragte. Die Wolkendecke brach auf und ein schmaler Lichtstreif fiel in das Dunkel, beleuchtete für einen Moment den nadelbedeckten, moosigen Boden unter den Bäumen. Eine Amsel sang über ihm. Er zögerte kurz, wandte sich ab und folgte dem Weg weiter über die Wiesen, vorbei an dem Jägerstand, leicht aufwärts. Das Licht hatte sich jetzt verändert, die Wolken trieben in wechselnden Formationen. Eine Fratze schien ihn zu verhöhnen, eine weiße Gestalt winkte ihm, bevor sie zum Hundekopf wurde.
Jörg hatte den Wagen, als der Unfall passierte, ohne seine Erlaubnis gefahren. Angeblich war er dem Nachbarshund, dieser widerlichen Töle, die ihre Haufen immer vor sein Gartentor setzte, ausgewichen. Die Versicherung verweigerte nun die Begleichung des Schadens, da der Sohn nicht hätte fahren dürfen. „Nur, weil du zu geizig warst, ihn in die Police zu nehmen“, hatte Hilde gesagt. „Du weißt doch, wie der Junge Autos liebt“. Von oben hatten Bässe gewummert, laut wie Motoren.
Er beobachtete das Licht- und Schattenspiel im Gras, hob den Blick nach Osten, wo Nebel aus dem Grund aufzusteigen begannen. Als zarte Schleier hoben sie sich vor dem dunklen Hintergrund der Bäume. Er lauschte dem Abendgesang der Vögel, sog ihn in sich auf. Ganz oben stand er jetzt und mit weitem Atem genoss er den freien Blick, bevor er abwärts zu gehen begann, dem Waldrand zu, wo ihn die Fichten mit ihrem Rauschen begrüßten, dicht an dicht, noch dunkel vom Regen mit glitzernden Wassertropfen auf den Nadeln, feierlich wie ein Spalier ihm zu Ehren. Er zögerte nicht mehr, sondern trat – ohne einen Blick zurück zu tun – mit einem leichten Lächeln durch die schmale Öffnung, welche die tiefen Äste ihm gewährten, und die sich hinter ihm , ganz leise knackend, wieder schloss.
Am 25. November 2012 schloss die Kriminalpolizei Bayreuth die Akte Anton B. unerledigt ab.

08.06.13

Sonja Meier

Donnerstag, 13. Juni 2013

Criminale kommt nach Nürnberg und Fürth


Hallo liebe Mitschreiber und Mitleser,

ich habe zufällig entdeckt, dass wir im nächsten Jahr ein großes Krimifestival bei uns begrüßen dürfen.

Mehr dazu findet Ihr hier:

http://www.nordbayern.de/nuernberger-nachrichten/kultur/morderische-geschichten-1.2912582?searched=true


Mittwoch, 12. Juni 2013

Kleine Fingerübungen zum Thema Ende

ENDE 1

Als de Prüfling Peter C. gebeten wurde, sein Jackett zu öffnen, und der Aufsichtsbeamte ein Smartphone mit Wörterbuchprogramm fand, war das das Ende des Staatsexamens für 
Herrn C.


ENDE 2

Wenn Frau Gerlinde O., die bevorzugt Fisch aß, mit Gräten im Hals kämpfte, in Atemnot kam, hustete, japste und ihr dabei Tränen aus den Augen liefen, dachte ihr Gatte Max jedes Mal, das sei ihr Ende.
War es aber nie.


ENDE 3

Les jeux sont faits! Rien ne va plus. Schluss, Ende, Aus für alle Glücksversuche. Mit bebendem Herzen wurde auf eine magische Zahl gesetzt. Alles hängt in der Schwebe, alles ist möglich. Es knistert, wenn die Zeit still steht.

Dann saust die Glückszahl wie ein Fallbeil in die Spielerrunde.

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

Ein Ende

Es gab kein Entrinnen. Jeder Gottesdienstbesuch musste im Jahr der Konfirmationszeit in einem Karteikärtchen  dokumentiert werden. Es war blassrosa und wies alle Sonntage des Kirchenjahres in fein säuberlicher Rubrik auf. Marlene hatte Schwierigkeiten, deren komplizierte Namen überhaupt zu entziffern.  Einer hieß tatsächlich Estomihi, ein anderer Laetare und die vielen Sonntage nach Trinitatis, die wollten ja überhaupt nicht aufhören. Nur den 1. bis 4. Advent kannte Marlene. Aber das war ja noch lange hin. Oh, mein Gott! Hinter jedem Sonntag war ein Kästchen platziert für die Unterschrift des verantwortlichen Pastors. Es gab kein Entrinnen. Bei Krankheit des Konfirmanden mussten die Eltern eine Entschuldigung beibringen. Marlene wusste, ihre Eltern würden einen Schummelversuch schon im Keim ersticken. „Und in den Ferien, wenn ich verreise?“
„Du findest überall eine protestantisch – lutherische Kirche. Von einer Konfirmandin erwarte ich Pflichtgefühl und Treue zu unserer Kirche!“, sagte Pastor Bosswitz in dem ihm eigenen markanten Tonfall, der keinen Einwand zuließ.
Auf der Vorderseite des Kontrollkärtchens war ein Lamm abgebildet. Es lag am Boden und hielt trotzdem noch eine Fahne mit Kreuz hoch.
„Und wenn ich es verliere? Wer glaubt mir dann ohne das Kärtchen?“, fragte sich Marlene.

Der Gottesdienst näherte sich der Predigt. Marlene saß zwischen ihren Eltern und der dicken Berta. Sie durfte die dicke Berta so nennen, weil ihre Eltern das auch ganz selbstverständlich taten. Dort zu sitzen war schlimm für Marlene, weil die Eltern links von ihr immer anmahnten, dass sie kräftig und überzeugend mitsingen sollte, nicht nur so zimperlich rumpiepsen. Und rechts roch die dicke Berta aus ihrem schweren braunen Mantel heraus nach Mottenkugeln. Außerdem sang sie sehr laut, so laut wie falsch. Pastor Bosswitz stand mittlerweile auf der Kanzel. Jetzt würde er loslegen und lange, lange reden. Marlene sackte leicht zusammen. Was tun? Zu Reinhard rüberschauen, was für ein süßer Lockenkopf, aber an seinem Hals drückte sich ein knallroter Pickel aus dem Hemdkragen. Reinhard bekam in der letzten Zeit immer mehr Pickel. Schade. Hinter ihm feixte Marlene der freche Ingo zu, kleine witzige Faxen machte er und beim letzten Konfiunterricht hatte er zweimal Teufel gesagt, wo doch Jesus die Antwort gewesen wäre. War der wirklich so frech oder vielleicht nur dumm, auch wenn er aus Berlin kam, wo alle Schnodderschnauzen hatten?
Herr Pfarrer Bosswitz erzählte in seiner Predigt etwas über den Kleinmut, der die Menschen plage, und wurde dabei immer lauter. Seine Augen riss er auf, sein Mund wurde breiter, ein tiefer Schlund, aus dem der Kleinmut hochgeschleudert wurde und das große Leid, das wir nur durch Gottvertrauen ertragen können und deshalb ist der Kleinmut etwas Böses, er erhöht unser Leiden nur, Kleinmut ist das Verzagen Gott gegenüber und das hat unser Herr nicht verdient, denn er weiß, warum wir leiden müssen. Er allein! Bosswitz rief das alles schnarrend in den Raum und klopfte dabei rhythmisch mit den Fingern auf die Holzkanten der Kanzel.
Soweit hatte Marlene die Sache schon verstanden, das Schlimme war nur, dass sie bei Kleinmut nicht an Sünde oder Verfehlung dachte, sondern sich ein Kleinmut als ein putziges kleines Tierchen mit Fell vorstellte. Das Kleinmut, so dachte Marlene unerschrocken weiter,  war eine natürliche Verwandte des Großmuts und am Ende der Kette stand das Mammut. Marlene versammelte die ganze Tierfamilie der Muts um sich und überstand die Predigt auf diese Weise recht gut. Aber das ganze Abendmahl musste noch ausgehalten werden. Ätzend langweilig war es, bis Bosswitz immer die ganze Geschichte heruntergeleiert hatte, in der Jesus seinen Leib und sein Blut als Essen und Trinken anbot. Das war weder Sprechen noch Singen. Es klang immer, als wollte Bosswitz was und könne aber nicht. Erst das schwungvolle Lied von den Töchtern Zions auf den Zinnen von Jerusalem würde nachher wieder etwas Luft schaffen nach diesem merkwürdig schmierigen Sprechsingen.
Aber das mit dem Blut! Marlene schauderte jedes Mal, wenn der Pastor die Leute aus dem Kelch trinken ließ. Das war ja dann eigentlich Blut. Wenn der Bosswitz selbst trank, hing seine große Nase über dem Kelch und aus der Nase wuchsen Haare raus. Der Blutvortrinker. Wenn früher Großmuts oder Mammuts gefangen und dann geschlachtet wurden, schoss das Blut dieser mächtigen Tiere wie in Fontänen aus ihnen heraus. Die schönen Stammesjünglinge badeten nackt in dem Blutsturz, weil das unverwundbar machte. Eij, diese Jungs waren wirklich schön, sie hatten keine Pickel. Das Blut lief in hübschen Rinnsalen an ihren braunen muskulösen Gliedern herunter, wow. Und die Frauen stellten sich mit Schüsseln unter die Fontänen und fingen das Blut auf. Später machten sie dann Blutsuppe daraus. Eine Wahnsinnsaction war das, wenn man die Mute erlegt hatte. Die Kleinmute aber wurden wie Haustiere behandelt, Schmusetierchen, weil sie so süß waren und ihr Fell so schön glänzte. Niemand dachte deshalb daran, Kleinmute zu schlachten. Wenn Groß- und Mammute leergelaufen waren und das Blut nur noch in Lachen auf dem Dorfplatz stand, kamen die Kleinmute angetrippelt und leckten ein wenig davon. Da lachten selbst hartgesottene Krieger.
Marlene musste auch lachen, aber sie hörte sofort damit auf, denn die dicke Berta neben ihr piekste sie mit einem strengen Blick.
Mittlerweile war auch schon der Segen zu hören. Bosswitz hob schon die Arme, die langen schwarzen Talarärmel schwankten in der Luft „Gehet hin in Frieden!“. Das hieß endlich: Wir können gehen. Das war der Abpfiff beim Fußballspiel nach 90 Minuten.
Jetzt gab’s dann paniertes Schnitzel mit Pommes, rote Früchtegrütze und nachmittags durfte sie ins Freibad. Das Wetter war toll und Dieter und Ingo waren sicher auch im Bad. 
Ach ja, Bosswitz muss noch das Kärtchen unterschreiben.  

von Wilfried Christel


Foto Copyright @ Fürtherin

Wondraschs Schmerz

Wondrasch hüpft mit gestreckten Beinen die Treppe hinunter, als wolle er für eine Nummer als Stelzenmann trainieren. Freunden aber erzählt er bereitwillig, dass er so die Schmerzen beim Biegen des Kniegelenks verhindere; an eine Operation denke er noch nicht, schließlich sei er erst 70. Ruhephasen gönnt er sich wenig, höchstens für kurze Massagen schmerzender Stellen. Man dürfe, so Wondrasch, wenn sich der Schmerz melde - und sei er noch so stechend und alarmierend  - , ihm nur wenig bis keine Aufmerksamkeit schenken, sonst blase er sich nur zu einer Schimäre auf, zu einem Ungeist, den man aus der Flasche gelassen habe. Er, Wondrasch, halte immer gleich dagegen, in kleinen Dosierungen belaste er die in Frage kommende Körperstelle, dann steigere er deren Einsatz systematisch, peinigende Körpersignale ignorierend.
Kein Doktor?
Aber woher denn, kein Doktor!
Kein Googeln nach Krankheiten?
Oh nein, doch kein Googeln.
Schmerzen, so Wondrasch weiter, seien ungebetene Gäste, die es mit scharfem Blick zu verwarnen gelte.
Husch husch, euch will hier keiner.
Wondrasch also der alte Indianer, dessen Kiefermuskeln signalisieren, dass er keinen Schmerz kennt?
Aber so starr wirkt er nicht. Er spielt gerne, lacht und schäkert, hat kein aufgeblasenes autoritäres Gehabe, wie es die Stammeshäuptlinge der Indianer schon allein ihrer Würde wegen besitzen müssen. So wächst die Neugierde nach der Frage, wo Wondrasch diese sehr eigene Schmerztherapie denn herhat.
„Das ist so gewachsen“, sagt er zögerlich und sucht Worte, um mehr Zeit für eine Erklärung herauszuholen.  „Ich spielte als Junge allein und in der Bande fast nur draußen. Die gefährlichen Stellen waren die reizvollsten:  Bäche mit Steilufern, hohe Bäume, Steinbrüche als Wildwestlandschaft, Hohlwege mit Geröll und Schotter. Da war bei Verletzungen keine Zeit für’s  Jammern. Das Blut rasch mit Spucke wegwischen, ein wie magisches Wegstreichen des Schmerzes von geschundenen Knochen und Muskeln. Das Gesicht durfte man schon ein wenig verzerren, ein bisschen Humpeln oder Beinnachziehen waren auch erlaubt – aber nur im ersten spontanen Reflex! Stöhnte man öfter, so hieß es ‚Mach bloß kein Markus!‘ . Zuhause übte ich mich erst recht in entspannten, normalen Bewegungen. So gab es keine blöden Fragen. Abends im Bett hob ich neugierig mit dem Fingernagel den Grind an, der auf der Wunde juckte. Dann blitzte die zartrosa Haut der Heilung auf. Ohne Verband, ohne Jodtinktur und anderes Tamtam war sie einfach eingetreten. Ich ahnte es, das funktionierte nur, weil ich sie nicht erfleht, ihr nicht nachgewimmert hatte. Vielleicht war es so“, gickerte Wondrasch und seine Augen blitzten vor Lachen.

Warum soll ich es leugnen, dass ich Wondrasch beneide, dass ich mich auch etwas schäme, wenn ich beim nächsten Herzstechen den Infarkttod vor Augen sehe, während Wondrasch Angst und Schmerz schon mit seinem Blick vertreiben kann. Ich traue mich nicht zu fragen, was er mit dem Schmerz tat, als seine Frau plötzlich starb.

Aber ich stelle mir vor, wie er an ihrem Totenbett saß und lange in das Loch starrte, das sich als schwarzer Abgrund vor ihm auftat.

Und jetzt sehe ich es genau: Er starrte so lange und intensiv in die Kluft, bis sie sich mit kühlem, dunklen Wasser gefüllt hatte.


Dann stieg Wondrasch in dieses tiefe stille Wasser  und schwamm ,  und  schwamm……

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

Willkommen im reizenden Glockenbachtal


Einfach draufloslaufen, die Freiheit liegt so nah, fast vor den Toren der Stadt. Auf geht’s! „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!“ Was brauch ich eine Karte? Dieser Weg da lädt mich einfach ein, Schilder und Routenlenker gibt’s in der Stadt genug, hier Gottseidank nur Grün, Bäume, Stege, Pfade, verwunschene Senken, Schleichwege, die durch’s Unterholz mäandern. Wie doch die Natur immer wieder den Kopf durchschütteln kann! Dieser Buchenstamm ist eindeutig ein Elefantenbein, Vorhut einer monströsen Herde. Auf dem Bein des Urtiers, nein, bitte nicht – ein Schild: Pfeil nach links der Streuobstweg nach Partelstein. Im rechten Winkel Pfeil nach unten, nach unten? Okay, rechts unten nach Wirkelbach. Ich nehm‘ den dritten Weg, den ohne Richtungsschild. Ich will, dass heute alle Wünsche für mich offen bleiben. Lauf deinem Geheimnis nach! Sowas ist geil.
Gefühlte vier Kilometer weiter nagelt mich ein Totempfahl fest, der in zwanzig Winkelvarianten nach Glockenbach weist. So wie früher auf den Marktplätzen die Nostalgiewegweiser die Weite der verlorenen Heimat im Osten wachhielten: Danzig 732 km, Königsberg in Preußen 849 km, 975 km nach Memel, Kattowitz oder Oels.
Jesus, es gibt keine unausgeschilderten Wege mehr!
Ich bestreite ja nicht, dass es Schilder geben muss. Eines mit „Vorsicht Abgrund“ oder „Müllhalde – Besteigen auf eigene Gefahr“ erfüllt schon einen Zweck, aber meine Freiheitssehnsucht, „die Gedanken sind frei“, ein bisschen Vision – Quest im fränkischen Wald halt. Ich brauche sie, ich bestehe auf der Magie des unbeschilderten Weges. Auch wenn der Heimatverein Quendelbach in mühevoller Kleinarbeit den Tonscherbenweg im Königswald neu ausgeschildert hat. Ich mag auch keine Hinweistafel, auf der breit dargelegt wird, dass hier einmal eine Burg stand, die die Leuchtenberger 1368 an die Hennensteiner übergeben mussten und die dann 1440 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Ganz zu schweigen vom Peter-Handke-Gedächtnisweg, dem Kohlberger Skulpturenweg oder dem Lyrikpfad, auf dem alle 300 Meter in Stein gemeißelte Reime die Sonnenkraft, den Wuchs der Pflanzen und das Alter alter Steine besingen. Und den Jakobsweg mit seiner Muschel mag ich schon gar nicht, überall ist Jakobsweg, Deutschland ist bis Spanien ein Jakobsweg. I don’t like, can’t smile.
Wo bin ich?
Schließlich lande ich auf einem Kräuterriecheventweg mit Sportparcours in Glockenbach, wo ich garantiert nicht hinwollte.
Der Freiheitsraub dauerte 19 km und ich bin unangemessen müde. Was ist los mit meinem Kreislauf? Und warum bin ich so depressiv?
In mir blinken Warntafeln auf: „Follow me!“ In roten Buchstaben auf blauem Schirm „Kein Alkohol, keine Kohlehydrate nach 17.00 Uhr mehr!“, gefolgt in flottem Pink auf Lila „Frustrationsseminar im Maria-Bernstein-Centre buchen!“

Willkommen im reizenden Glockenbachtal!

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

Montag, 10. Juni 2013

Tor auf, Tor zu

Frisch gedruckter Führerschein. 1. Fahrt mit neuem Käfer in die Garage. Kotflügel vorne rechts. Quietsch. Kotflügel hinten links. Quietsch. Motor aus. Tor zu.
Foto Copyright @ Fürtherin

August -Oktober

Tina ausgezogen, Bernd bleibt bei seinem Vater im Haus. Umzug in meine neue, alte Wohnung mit Lisa und Hund. Lisa zieht aus, der Hund stirbt. Ich bin alleine.
Foto Copyright @ Fürtherin

Nonnenbunker


Ich stehe neben der hölzernen Schulbank stramm. Meine rechte Hand liegt ordentlich auf der abgeschrägten Tischplatte. Nur mein Zeigefinger fährt in klitzekleinen Kreisen über das eingeritzte Herz.
Fräulein Pritorious steht hinter ihrem Pult und tippt immer wieder auf das Heft vor ihr. Mein Heft. Eine sechs. In Englisch. Wieder.
Über und hinter ihr an der Wand hängt am hölzernen Kreuz ihr toter Jesus. Ihr Mund geht auf und zu. Worte mit Spucke angereichert werden aus dem Vulkanschlund heraus gespeiht. Sie fallen vor der ersten Schulbank ins Nichts. Ich bin mitten drin, im Stummfilm.
Eine dunkelblond, melierte Haarsträhne löst sich aus ihrem Dutt. Unverschämt. Energisch streicht sie sich mit der Linken die Knopfleiste ihrer Twinset Jacke über ihre flache Brust gerade. Ob sie, wie die Nonnen hier im Mädchengymnasium, ihre Brüste platt an den Körper bindet?
Ein Knall! Mit der flachen Hand hat sie auf mein Heft geschlagen.  Ihre roten Bäckchen vibrieren, als wollten auch sie ausbrechen. Mit einem energischen Ruck wird die vorwitzige Haarsträhne lang und glatt gezurrt und an Ort und Stelle wieder in den Haarclips eingeklemmt.

Wie in Zeitlupe bücke ich mich herunter, löse meinen Ranzen vom Haken, packe Buch und Stifte hinein, schultere ihn, schlängle mich durch die Reihen und  im hohen Bogen am Pult vorbei. Nie wieder betrete ich diesen Nonnenbunker.

Sonntag, 9. Juni 2013

Dann doch

Letzte
Tage, Stunden,
Minuten, Sekunden. Abschieden
folgen Ankünfte, Enden werden
Anfänge














Foto Copyright @ Fürtherin

Prüfung

Die Spannung lässt nach, die letzten Buchstaben kratzen sich in das billige Papier.

Kopf leer, Körper müde, die verkrampften Finger finden Ruhe.

Abschluss geschafft.
Foto Copyright @ Fürtherin

Regentropfen

Tropf, tropf, schwerer Regenguss, tropf, tropf, tropf...

Der letzte Regentropfen versickert sicherheitshalber noch in der trockenen Erde, damit die heiße Augustsonne ihn nicht noch in Dunst auflöst.
Foto Copyright @ Fürtherin

Ein Ende

Tock, tock, tock, Gong...... 
Aufstehen, Hände falten, verbeugen. 
Den Raum verlassen, ihn mit Verbeugung verabschieden. 
Gehen. Ein bis zwei Runden um das Zendo herum. 

Liebgewonnene Routine in der völligen Stille. Diese endet heute jäh mit dem Gong. 

Jeder nimmt das, was er am ersten Tag an seinen Platz drapiert hat wieder mit. Unruhe die diesem Ort unwürdig erscheint. Die Schleier sind gefallen, die Achtsamkeit, die man tagelang trainiert hat, stürzt in ein Zivilisationsloch. Auf einmal ist die Ruhe weg. Der Kokon in dem man tagelang fern der Welt lebte, bekommt böse Risse. Die Welt und der Lärm dringt ein, erreicht den Kopf, macht Töne hörbar, für die man noch nicht bereit ist. Man wirft Blicke die die Hülle weiter aufsprengen. Die Neugierde dringt ein und man verlässt sich und seine eigene Welt, den eigenen, schwer zurück erkämpften Mikrokosmos. In einem schreit es, man will da nicht raus. Eine Woche vorbei? Die Gedanken schlagen wieder Purzelbäume. Wie wird Morgen früh das Abgeholt werden? Es klopft das schlechte Gewissen von hinten an die Schulter, dass man keinen einzigen Gedanken an die Lieben daheim verschwendet hat. Will ich den Abend ruhig abschließen oder will ich mich unter die Menschen mischen, die ich nur auf einer anderen Ebene kennengelernt habe. Einer, die mir bisher völlig fremd war. Das neue Gemeinschaftsgefühl, das sich aufgebaut hat über Berührung und ohne Worte wird zerbrechen. Spätestens nach dem Frühstück. 

Der Abend in Gesellschaft ist schön und traurig zugleich. Heiterkeit, ein Geburtstag, sogar eine Gitarre. Aber da ist auch eine Traurigkeit, denn ein paar Menschen, die man heute Abend doch nicht trifft, weil sei die letzte Ruhe vor der Welt gewählt haben, macht sich breit.

Nähe, Wärme, Menschlichkeit die man von völlig fremden Menschen bekommen hat, die man aber nun wieder gehen lässt, schleichen sich weg. Katerstimmung wie bei einer Klassenfahrt, weil Morgen alles vorbei ist. Nur, dass die Klasse sich danach noch hat, die Gruppe hier aber in alle Windrichtungen verstreut sein wird. Der Austausch der Telefonnummern, der zu vereinzelten Kontakten führt, die sich nicht aufrecht erhalten lassen werden. Man weiß es, tut es aber trotzdem, weil man damit versucht, den Moment, die Stille, die Gefühle, die Geborgenheit festzuhalten. Der Versuch damit ein Stück in den Alltag zu retten. Man lernte viel über sich und die Anderen. Der Intuition zu folgen, den richtigen Moment zu finden. Loszulassen und im ich zu schweben und im Gegensatz zu sonst mal 100 % man selbst zu sein und keine Rolle zu bedienen.


Tock, tock, tock, Gong.....

Foto Copyright @ Fürtherin

Donnerstag, 16. Mai 2013

Lesen! 2013

Hallo,

vielleicht habt Ihr schon von Lesen! dem Fest für die Literatur in Fürth gehört.

Na, wenn das mal nichts für uns ist? Hier einige Infos darüber. Vielleicht sieht man sich ja bei der ein oder anderen Veranstaltung auf diesem großen Lesefest.

Hier der Link zur Veranstaltung:
http://www.fuerth.de/Home/Leben-in-Fuerth/kultur/LESEN/Stoebern-blaettern-schmoekern-LESEN.aspx

Und hier der Link zum Programmheft:

http://www.fuerth.de/Portaldata/1/Resources/lebeninfuerth/dokumente/2013/LESEN_2013_WEB.pdf

Viel Spaß Euch!

Mittwoch, 15. Mai 2013

Wie funktioniert so ein Blog eigentlich?

Hallo liebe Kursteilnehmer,

nachdem die ersten Artikel online sind, hier eine kleine Hilfefunktion für all diejenigen, die mit Blogs bisher nichts am Hut hatten. Wenn Fragen an mich herangetragen werden, werde ich jedesmal eine kleine Hilfe als Artikel veröffentlichen. Auf der rechten Seite findet Ihr die Artikel im Bereich: Hilfe.

Hier als erstes eine kleine Anleitung, wie Ihr die Artikel kommentieren könnt.

Unter jedem Artikel (nennt sich Post im Blog) gibt es die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen. Wenn es noch keine Kommentare gibt, dann heißt es dort einfach "Keine Kommentare", wenn dort schon welche hinterlegt sind, steht da 1 Kommentar oder eben die Anzahl der Kommentare. Einfach darauf klicken und die Kommentare werden angezeigt.

Wenn Ihr einen neuen Kommentar machen möchtet, geht das wie folgt. Hier der letzte Absatz von einem Post als Bild und die Anleitung dazu.

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Dann geht es wie folgt weiter:



Und schon können alle lesen, was Ihr über den Artikel denkt, oder was Ihr dem Autor mitteilen wollt.
Ich hoffe, Ihr kommt damit klar. Falls nicht, lasst es mich wissen.

Zum Üben könnt Ihr mir ja mal einen Kommentar nach diesem Post hinterlassen.

Viel Spaß!

Dienstag, 14. Mai 2013

DER Moment


Aus gegebenen Anlass, auch wenn die Freude von vor einem Jahr fast vergessen scheint:

Der Moment der Momente im Leben eines Fürthers war nun gekommen. Der
16.04.2012, ein historischer Tag.
In der tpyischen - es passiert ja doch nicht Körperhaltung - sitzt man
zusammen in der Kneipe und wartet darauf, dass die Dresdner den
Düsseldorfern eins auf die Mütze geben. Keiner rechnet so wirklich
damit. Der Aufstieg ist ganz nah und doch irgendwie so
unwahrscheinlich weit weg. Man wird noch viel dafür tun müssen.
Man rechnet mit einem Abend bei gemütlichem Grüner Bier und versucht die
Fernsehteams - 5 an der Zahl - die einem ständig vor der Nase tanzen, in
gänzlich fränkisch stoischer Ruhe zu ignorieren.

6. Minute:
Das 1. Tor fällt! Für Dresden! Kurze Fassungslosigkeit, aufspringen,
Jubel. Seliges Grinsen in den Gesichtern.  Eine neue Runde Bier. Ein
kleines Pflänzchen der Hoffnung keimt auf. Die Stimmung wird
ausgelassener und bierseliger. Die Halbzeitpause steht bevor, eine
gewissen Entspanntheit macht sich breit, weil die Dresdner sich gar
nicht so schlecht schlagen.

44. Minute:
Ein Gegentor!!! Düsseldorf gleicht aus. Entsprechende Flüche werden
laut. Der kleine Fußball-Kritiker der im Hinterkopf eines leidgeprüften
Fürthers seit jeher dort wohnt wird wieder wach und sagt laut: Hab ich's
nicht gesagt, dass wird doch wieder nichts.

Nach der Pause, das Spiel läuft zusammen mit den Übertragungskameras an.
Die Gäste stimmen Gesänge an um sich zu motivieren. Wenn Dresden auf's
Tor zustürmt werden Dynamo, Dynamo-Rufe laut, ein Schlachtruf, den man
in Fürth sicher aus diesen Mündern noch nie vernommen hat.

70. Minute:
Doch, tatsächlich, das 2:1 für Dresden. Beginnender Ausnahmezustand. Aus
dem kopfhängenden Hoffnungskeim ist ein mittelgroßer Ableger gewachen.
20 Minuten bis zum Aufstieg. Bangen, warten, hoffen, fiebern.

89. Minute:
Die letzte Minute bricht an. Die Versammelten zählen von 60 runter. Da,
doch noch 2 Minuten Nachspielzeit. Nochmal zittern. Es liegt Spannung
greifbar in der Luft, ein Streichholz und die Kneipe würde lichterloh
brennen. 5, 4, 3, 2, 1 Schlusspfiff!!!

Jeder schreit, jubelt, hüpft. Man umarmt was greifbar ist, auch wenn man
den Menschen am Nebentisch nicht kennt, ihn nicht leiden kann oder gar
verstritten ist. In dem Moment alles egal. Man schaut fassungslos in die
Kameras, die den Moment live übertragen, das interessierte
Fußballdeutschland ist live dabei. Man spürt, der Jubel kam automatisch,
glauben tut's noch keiner. Das: Is des etz werkli woahr? Ist die Frage
der Fragen. Mit der Gewissheit kommen die Tränen. "Mir hams" Nie mehr 2.
Liga, nie mehr, nie mehr! Allächt, des is nach der Geburd von meim Sohn
der schenste Momend in meim Lebm... Hört man einen Mann in die Kamera
sprechen.

Männer weinen ganz offen, als wäre es das selbstverständliches von der
Welt. Eine Welle der Freude schwappt über, alle stehen auf Stühlen und
Bänken und als draußen die Menschenmenge zu hören ist, die aus allen
Ecken auf die Straße drängen, gibt es kein halten mehr. Keine Distanz
zwischen den Menschen. Für diesen Moment sind alle gleich, alle nur froh
und gelöst, der Bankdirektor im Arm des Müllmanns.

Goar schee is....