Montag, 19. Dezember 2016

Papier


Schreibzeit! Von 20.00 Uhr bis 21.00 Uhr wird geschrieben. Jawohl! Die Geschichte muss endlich zu Papier. Weiß und blank liegt es vor mir, nun nicht wirklich weiß, umweltfreundlich-recyclinggrau und liniert, aber unberührt rein, so lächelt es mich einladend an. Ich setze mich aufrechter hin, spiele mit dem Stift, drehe ihn langsam zwischen Mittelfinger und Daumen hin und her. Da fängt der Heizkörper an zu schlagen, ein hartes, metallenes Bing! Kurz darauf ein weiteres, lauteres, dann das nächste. Ich zähle die Sekunden zwischen den Bings: eins, zwei, drei, Bing! Nach vier Bings ein Bing-bing. Mein Gott, ist das nervtötend. Ich stehe auf, drehe kurz und schnell das Ventil nach rechts, links, nochmal etwas nach rechts. Das Bing! wird zum Knackgeräusch. Also setze ich mich wieder an den Schreibtisch und ziehe die Kappe vom Stift. Das weiße, unberührte Papier blickt aufmunternd zu mir auf.
Der Titel! Ich bin unschlüssig. Na ja … dann – dann nehme ich eben einen Arbeitstitel: Gefühle. Ist schließlich die Aufgabe. Also, der Anfang. Der erste Satz ist wichtig. Eigentlich weiß ich ja, was ich erzählen will, ich sehe die Protagonisten, den Ort der Handlung, sogar, dass die Sonne scheint (noch!). Aber dieser erste Satz! Rotwein. Die Inspiration des Geistes. Ich lege den Stift wieder weg und gehe zum Weinschrank. Die Domina oder den Schwarzriesling oder doch lieber einen Südfranzosen? Nein, lieber etwas Geradliniges, die Domina. Tiefes Dunkelrot, aber ohne blaue Reflexe, dezenter Duft nach Johannisbeeren, vollmundig, ein wenig Kirsche im Abgang. Wunderbar. Ich stelle das Glas auf das Bord über dem Schreibtisch und greife wieder nach dem Stift. Das leere, recyclingweiße Papier blickt mich auffordernd an.
Also der erste Satz. Vielleicht so: Nun hatte sie die Ananas doch vergessen! Aber wie heißt die, die das denkt, die Zerstreute, Abgelenkte? Ein weicher Vorname muss es sein, hell, keinesfalls Dagmar etwas oder Marianne. Sigrid eventuell oder Eva oder Elfi. Elfi ist gut, eine zarte Frau, die beschützt werden will, Ende vierzig, Anfang fünfzig, nicht sehr selbstständig. Er, das Gegenstück, ein zur Ironie und Jähzorn neigender Tyrann, deutlich älter als sie, Herr im Haus. Unbedingt ein dunkler Name, Hubert, Rudolf? Nachdenklich genieße ich einen Schluck Rotwein, stehe auf und hole mir die Zeitung. Die Todesanzeigen sind ein Quell von Namen aller Generationen.  Alfred, Ekel Alfred, zu albern; Lothar, Wendelin, Johannes? Johannes hat eine gewisse Schwere, nicht schlecht …Ha! Im Kapitalmarkt inseriert jemand um ein Darlehen von 50000.--€ für ein Jahr. Sicherheiten nach Absprache. Das stinkt doch zum Himmel!
Also, die Namen. Johannes oder doch lieber Hubert. Hubert – kann ich schließlich immer noch ändern. Ich schreibe drei Sätze, sie sind schlecht. Ich streiche sie wieder, fange nochmal an, aber es will nicht werden. Die Personen sträuben sich, wollen nicht agieren, werden starr und blass und seltsam fremd. Ich streiche wieder durch, wende das Blatt und greife nach dem Rotwein. Das Glas ist leer, jetzt schon, unfassbar! Das  leere Papier starrt mich mahnend an. Ich male einen Kelch an seinen Rand, langer Stiel, halb gefüllt. Nein! Kein weiteres Glas Rotwein. Zuviel Alkohol stört die Fokussierung der Gedanken. Schokolade! Nobelbitter mit Chili und doch noch einen winzigen Schluck Rotwein, nur weil es so gut zusammenpasst. Ich lasse die Schokolande langsam im Mund schmelzen, genieße ihre Schärfe und male Blüten an den Papierrand, dann eine kleine Katze, ganz leicht in einem Zug, ohne abzusetzen. Sie kneift mir ein Auge zu. Der Kater auf dem Sofa wittert Konkurrenz, streckt sich, macht einen respektablen Buckel und tatzt geschmeidig näher. Ein kurzer, abschätzender Blick und schon sitzt er auf dem Papier, das mich unter dem Katzenfell vorwurfsvoll anglotzt. Der Kater schnurrt ungerührt und ich male noch ein paar Blümchen an den Rand. Vielleicht sollte die Beziehung doch nicht so alt sein und die Protagonisten jünger, noch nicht in Routine erstarrt und es ist ein unwirtlicher November. Novembergrau, ideal für Trennung und Abschied. Befreiung? Das geht im November genauso. Ich bade Schokolade in meinem Mund in Rotwein, male Haus, Baum und Strichmännchen auf den Papierrand und streichle mit der Linken den Kater, der sich jetzt auf dem Papier zusammengerollt hat. Das glotzt nun nur mehr einäugig, dafür unverhohlen drohend. Du drohst mir?! Das sollst du mir büßen! Was glaubst du, was du bist, du windiger Fetzen? Du bist nicht länger weiß! Ich kritzle Linien, Kreise, Schraffuren, Wellen, alles kreuz und quer und schön schwarz. Dann zerreiße ich den Fetzen, zerknülle die Teile zu zwei Kugeln. – Da Kater, spiel sie zu Tode!! Der bewegt sich nicht und schaut mich kryptisch an. Oder sehe ich da einen Tadel in den graugrünen Augen? Vor mir kichert das leere Schokoladenpapier.

17.11.16
Sonja Meier

Die besten Jahre

Alt sind wir geworden, beide; die besten Jahre
Vergangenheit. Deine weißen Stichelhaare auf Stirn und Flanke,
Graue Fäden in meinem schütter werdenden Haar.
Aber manchmal, wenn du deine Mähne schüttelst, wie früher
Auf dem Weg zur Höhe, dort, wo die einsame Kiefer stand,
Wächterin am Tor des hohen Himmels,
Da fühl‘ ich es wieder - das Leben und deine Kraft
Unter mir im Galopp, unbändig, jung,
im Dreitakt der Freiheit!
Verbunden waren wir, ja verwachsen; ich vertraute dir
Blind, wenn der Wind mir die Tränen in die Augen trieb und
Was ich dachte, tatest du, ehe es zu Ende gedacht.
Damals gehörte uns die Welt, gehörte uns das Gras
Unter deinen Hufen, gehörte uns der Himmel und alles,
Was dazwischen lag, im Sommer unserer Leben.
Später, in dem Jahr, in dem ich entschied,
Deinen Sattel wegzugeben, fällten sie die Kiefer auf der Höhe;
Alt soll sie gewesen sein und morsch.
Und heute, wenn ich mich manchmal noch, einem Übermut folgend,
Auf deinen bloßen Rücken setze, vorsichtig nun und ein wenig fragend,
Sagst du: mach‘ es gnädig und bedenke die Futterzeit.


20.09.16
Sonja Meier