Als die Großmutter das Zimmer betritt, sitzt die junge Frau
auf dem Bett, im Arm ein kleines Bündel. Behutsam streicht sie über den Kopf
ihres Neugeborenen. Der Vater blickt stolz und zärtlich auf Mutter und Kind.
Warmer herbstlicher Sonnenschein fällt durch die großen Fenster und legt sich
leuchtend auf diese Szene. Nach den Aufregungen der Nacht ist Ruhe eingekehrt,
die die neu hinzugekommene Großmutter mit einschließt. Alle sprechen
rücksichtsvoll gedämpft. Niemand würde hier ein böses Wort sagen.
Die Wehen der Mutter hatten am Abend eingesetzt: Das Kind
war bereit, seine bisherige Heimat, in der es von einer befruchteten Eizelle zu
einem vollkommenen Menschlein herangereift war, zu verlassen. Der Weg blieb ihm
zunächst durch die Nabelschnur verwehrt, die sich um den Hals gelegt hatte, bis
der Arzt eingriff und ihm half, „das Licht der Welt zu erblicken.“ Danach
drückte er dem frischgebackenen Vater eine Schere in die Hand und bat ihn, die
Nabelschnur zu durchtrennen. Dies sei eine symbolische Handlung, denn als Vater
trage er nun die gleiche Verantwortung für das Kind wie die Mutter. Beherzt
schnitt der Vater die Nabelschnur durch. Danach war ihm kurze Zeit übel.
Die Anwesenheit eines gesunden neugeborenen Kindes
überstrahlt jetzt alles und rückt die vergangenen Befürchtungen und Ängste, die
Anstrengungen und Schmerzen der Mutter in den Hintergrund. Das Neugeborene –
drei Kilo schwer, fünfzig Zentimeter lang – dämmert vor sich hin ohne zu ahnen,
dass es an diesem Nachmittag zur Hauptperson geworden ist. Von ihm geht eine
erstaunliche Faszination aus, die die neue Drei-Generationen-Familie in seinen
Bann zieht. Die Blicke der Erwachsenen streifen immer wieder mit warmem
Wohlwollen über den mit weichen dunklen Haaren bedeckten zierlichen Kopf.
Später reicht die Mutter das Kind behutsam weiter an die
Großmutter. Als diese das federleichte Bündel in den Armen hält, stellt sie
erstaunt fest: „Ich wusste gar nicht mehr, dass Neugeborene so klein sind!“
Zart sind die Finger wie Blumenstängel, die Ärmchen nicht dicker als kleine
Äste.
„Das Jäckchen, das ich gestrickt habe, ist ja viel zu groß
geraten.“ Die Schwiegertochter meint beruhigend: „Das macht nichts. Das Kind
wird schon noch hineinwachsen.“
Wie einen kostbaren Schatz birgt die Großmutter das
Neugeborene in ihren Armen. Fast senkrecht schmiegt sich der zarte, winzige
Körper an den knochigen der alten Frau. Die Wärme und der Geruch des kleinen
Wesens entzücken sie.
Ehrfürchtige Gedanken kommen ihr in den Sinn: „Dieser kleine
Erdenbürger ist bereits jetzt mit allem ausgestattet, was er zu Leben brauchen
wird: die inneren Organe und der Mund, um sich am Leben zu erhalten, Hände und
Füße, um die Welt zu erobern, Augen, Ohren und die Haut, um Erfahrungen mit der
Welt zu machen, und das Gehirn, mit dem es lernen wird, diese Erfahrungen zu
speichern, zu ordnen. Es wird sprechen lernen, um sich anderen Menschen
mitteilen zu können.“
Wenn das Kind sein Gesicht verzieht und unruhig wird –
„Vielleicht weil sich der kleine Körper an die traumatischen Erlebnisse der
Nacht erinnert“ – streicht ihm die Großmutter mit dem Zeigefinger über die
zarte, samtweiche Haut am Arm auf und ab, spricht flüsternd auf das Kind ein,
bis es sich beruhigt hat und weiterdämmern kann.
Die Erfahrungen mit dem Neugeborenen rufen in ihr die
Erinnerungen an die Geburt ihres eigenen Sohnes vor 32 Jahren wach, an die
furchtbaren Schmerzen während der Geburt – sie holte mit dem Fuß aus und traf
die Hebamme – und danach an das große Staunen und das überwältigende
Glücksempfinden , wie ein wohliges Eingesponnensein in eine lichte Welt.
Hin und wieder blickt die Großmutter hinüber zum neuen
Elternpaar, sieht, wie es sich an dem zauberhaften Kind nicht sattsehen kann.
Sie traut ihrem Sohn zu, dieses kleine Wesen, so wie es ist, anzunehmen, es so
zu lieben, wie er von seinem Vater geliebt worden ist. Die Schwiegertochter
kennt sie seit mehreren Jahren. Beide werden sie gute Eltern sein. Da braucht
sie sich keine Sorgen zu machen.
Die Zeit im Zimmer schleicht vorsichtig wie auf Samtpfoten
dahin. Es war, als müsste jede Minute dieses Tages bis zum letzten Tropfen
ausgekostet werden. Vater, Mutter und die Großmutter würden die Erinnerung an
diesen Tag als Schatz in sich aufbewahren.