Mittwoch, 10. Januar 2018

Einen Tag nach der Geburt

Als die Großmutter das Zimmer betritt, sitzt die junge Frau auf dem Bett, im Arm ein kleines Bündel. Behutsam streicht sie über den Kopf ihres Neugeborenen. Der Vater blickt stolz und zärtlich auf Mutter und Kind. Warmer herbstlicher Sonnenschein fällt durch die großen Fenster und legt sich leuchtend auf diese Szene. Nach den Aufregungen der Nacht ist Ruhe eingekehrt, die die neu hinzugekommene Großmutter mit einschließt. Alle sprechen rücksichtsvoll gedämpft. Niemand würde hier ein böses Wort sagen.

Die Wehen der Mutter hatten am Abend eingesetzt: Das Kind war bereit, seine bisherige Heimat, in der es von einer befruchteten Eizelle zu einem vollkommenen Menschlein herangereift war, zu verlassen. Der Weg blieb ihm zunächst durch die Nabelschnur verwehrt, die sich um den Hals gelegt hatte, bis der Arzt eingriff und ihm half, „das Licht der Welt zu erblicken.“ Danach drückte er dem frischgebackenen Vater eine Schere in die Hand und bat ihn, die Nabelschnur zu durchtrennen. Dies sei eine symbolische Handlung, denn als Vater trage er nun die gleiche Verantwortung für das Kind wie die Mutter. Beherzt schnitt der Vater die Nabelschnur durch. Danach war ihm kurze Zeit übel.

Die Anwesenheit eines gesunden neugeborenen Kindes überstrahlt jetzt alles und rückt die vergangenen Befürchtungen und Ängste, die Anstrengungen und Schmerzen der Mutter in den Hintergrund. Das Neugeborene – drei Kilo schwer, fünfzig Zentimeter lang – dämmert vor sich hin ohne zu ahnen, dass es an diesem Nachmittag zur Hauptperson geworden ist. Von ihm geht eine erstaunliche Faszination aus, die die neue Drei-Generationen-Familie in seinen Bann zieht. Die Blicke der Erwachsenen streifen immer wieder mit warmem Wohlwollen über den mit weichen dunklen Haaren bedeckten zierlichen Kopf.

Später reicht die Mutter das Kind behutsam weiter an die Großmutter. Als diese das federleichte Bündel in den Armen hält, stellt sie erstaunt fest: „Ich wusste gar nicht mehr, dass Neugeborene so klein sind!“ Zart sind die Finger wie Blumenstängel, die Ärmchen nicht dicker als kleine Äste.
„Das Jäckchen, das ich gestrickt habe, ist ja viel zu groß geraten.“ Die Schwiegertochter meint beruhigend: „Das macht nichts. Das Kind wird schon noch hineinwachsen.“

Wie einen kostbaren Schatz birgt die Großmutter das Neugeborene in ihren Armen. Fast senkrecht schmiegt sich der zarte, winzige Körper an den knochigen der alten Frau. Die Wärme und der Geruch des kleinen Wesens entzücken sie.

Ehrfürchtige Gedanken kommen ihr in den Sinn: „Dieser kleine Erdenbürger ist bereits jetzt mit allem ausgestattet, was er zu Leben brauchen wird: die inneren Organe und der Mund, um sich am Leben zu erhalten, Hände und Füße, um die Welt zu erobern, Augen, Ohren und die Haut, um Erfahrungen mit der Welt zu machen, und das Gehirn, mit dem es lernen wird, diese Erfahrungen zu speichern, zu ordnen. Es wird sprechen lernen, um sich anderen Menschen mitteilen zu können.“

Wenn das Kind sein Gesicht verzieht und unruhig wird – „Vielleicht weil sich der kleine Körper an die traumatischen Erlebnisse der Nacht erinnert“ – streicht ihm die Großmutter mit dem Zeigefinger über die zarte, samtweiche Haut am Arm auf und ab, spricht flüsternd auf das Kind ein, bis es sich beruhigt hat und weiterdämmern kann.

Die Erfahrungen mit dem Neugeborenen rufen in ihr die Erinnerungen an die Geburt ihres eigenen Sohnes vor 32 Jahren wach, an die furchtbaren Schmerzen während der Geburt – sie holte mit dem Fuß aus und traf die Hebamme – und danach an das große Staunen und das überwältigende Glücksempfinden , wie ein wohliges Eingesponnensein in eine lichte Welt.

Hin und wieder blickt die Großmutter hinüber zum neuen Elternpaar, sieht, wie es sich an dem zauberhaften Kind nicht sattsehen kann. Sie traut ihrem Sohn zu, dieses kleine Wesen, so wie es ist, anzunehmen, es so zu lieben, wie er von seinem Vater geliebt worden ist. Die Schwiegertochter kennt sie seit mehreren Jahren. Beide werden sie gute Eltern sein. Da braucht sie sich keine Sorgen zu machen.


Die Zeit im Zimmer schleicht vorsichtig wie auf Samtpfoten dahin. Es war, als müsste jede Minute dieses Tages bis zum letzten Tropfen ausgekostet werden. Vater, Mutter und die Großmutter würden die Erinnerung an diesen Tag als Schatz in sich aufbewahren.   

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