Montag, 6. Juni 2016

Verwandlungen

Das mit den Namen war Susi natürlich sofort aufgefallen. Sie hatte schon immer ein Auge für Skurrilitäten – sie, die selbst etwas Koboldhaftes an sich hatte mit ihrer schmalen Gestalt, den kurzen, karottenroten Haaren und dem immer lachbereiten Mund.  Wir kannten uns schon seit Uni-Zeiten und die Jahre schienen spurlos an ihr vorübergegangen zu sein. Sie war unverändert geblieben bis hin zu dem auffallend breiten, erhaben gearbeiteten Ring an ihrem linken Mittelfinger, mit dem sie so gerne spielte und der – wie damals – die Farbe je nach Intensität der Berührung änderte. Ihr Wunschring sei das, hatte sie stets augenzwinkernd erklärt. Dass Susi nun als mobile Reserve an unsere Schule gekommen war, war ein schöner Zufall. Sie lebte in einer bunteren Welt als wir übrigen Zeitgenossen und immer entdeckte sie das Komische einer Sache. So amüsierte sie sich königlich über das nervöse Zucken der Mundpartie unseres Schulleiters, der tatsächlich Haase hieß – mit zwei a allerdings – und eine Vorliebe für Rohkost hatte. Waren seine Ohren nicht ungewöhnlich groß und schmal? Und die Frontzähne auffallend lang? Die Handarbeitslehrerin, eine junge, ungemein zierliche Person mit lebhaftem Temperament und großem Mitteilungsbedürfnis hieß Zeisig und ihre helle, ständig irgendwo zwitschernde Stimme klang, da hatte Susi Recht, wie die des gefiederten Namengebers. Sie amüsierte sich auch über den Hausmeister der Schule, Herrn Malte Mücke, der eine solche Landplage war, dass selbst ich manchmal Mordgedanken hegte; Susi schenkte mir zum Geburtstag eine Fliegenklatsche.

Den größten Spaß aber hatte sie an der Kollegin Dorothea Mietz. Die Biologielehrerin, eine stattliche Mittfünfzigerin mit ordentlich onduliertem, graugesträhntem Haar, vollen Wangen, massigem Doppelkinn und Augen von so blassem Grünbraun, dass sie gelb wirkten, war bei Schülern und Kollegen gleichermaßen unbeliebt. Sie besaß eine träge Üppigkeit, die gemütlich hätte wirken können, wäre nicht ihr prüfender, beinahe stechender Blick gewesen. Auf wen immer sie diese gelben Augen richtete, der fühlte sich bedrängt. Dorothea war eine Einzelgängerin, hielt stets Distanz zu den anderen und konnte ausnehmend übellaunig sein. In ihren Unterrichtsstunden herrschte jedoch disziplinierte Ruhe; ein langer Blick aus ihren Augen genügte, auch den lautesten Klassenclown zur Raison zu bringen. Mit uns Kollegen kam sie leidlich aus, sah man von Steffi Zeisig und dem Hausmeister ab, die Dorothea verabscheute, was beide aber, so glaube ich, gar nicht bemerkten. Susi nannte Dorothea immer die Miesekatze. Wir machten uns hinter ihrem Rücken über sie lustig, alberten herum und benahmen uns nicht viel anders als unsere pubertierenden Schüler.

Nach den Weihnachtsferien fiel uns eine gewisse Veränderung an ihr auf. Sie schien noch ungnädiger geworden zu sein und manchmal lächelte sie böse, so dass man ihre spitzen Eckzähne sah. Außerdem hatte ihre Stimme einen so durchdringenden, schrillen Klang angenommen, dass sie schmerzte. Hin und wieder gab sie leise, rollenden Kehlgeräusche von sich, die wohl Zufriedenheit ausdrückten. Außerdem, vielleicht eine Folge der Wechseljahre, wuchs ihr ein Damenbart, der sie aber nicht zu stören schien, und sie wurde immer träger.

An einem frühen Nachmittag im Januar fand ich sie zusammengerollt und leise schnarchend auf dem Besuchersofa des Besprechungszimmers.  Sie erwachte, als ich die Tür etwas unnötig laut schloss und starrte mich aus unergründlichen gelben Augen an. Dann gähnte sie ungeniert und kratzte sich hinter dem Ohr. Erstaunlich behände für ihr Gewicht rollte sie sich vom Sofa, dabei rutschte ihr Rock etwas hoch und für einen Moment blitzte etwas graumeliert Felliges darunter hervor. Ich murmelte eine Entschuldigung und verließ hastig den Raum. Was für eine merkwürdige Person!
Am nächsten Tag – ich war schon sicher, dass mir meine Phantasie einen Streich gespielt hatte – fehlte Steffi Zeisig. Ihre Klasse im Handarbeitsraum  blieb verwaist, ihr Platz im Lehrerzimmer leer. Zu Hause war sie nicht, niemand wusste irgend etwas. Die Suche und alle Ermittlungen blieben erfolglos. Sie war einfach unauffindbar. Nur ein paar Federn lagen vor ihrem Schrank im Lehrerzimmer und ich glaubte mich vage an den fedrigen Schmuck zu erinnern, den sie die letzten Tage getragen hatte. Dorothea Mietz sah zufrieden aus. Leise rollten ihre Kehlgeräusche.

Die Mundpartie des Rektors zuckte im Rekordtempo - die unbesetzte Stelle machte ihn im Gegensatz zu den Schülerinnen unglücklich – und sie drohte vollends zu entgleisen, als drei Wochen später der Hausmeister Mücke verschwand; spurlos kann man sagen, nicht einmal Federn blieben zurück. Diesmal sah nicht nur  Dorothea zufrieden aus. Herr Mücke war sehr unbeliebt gewesen. Aber es lagen nun eine gewisse Spannung in der Luft und Verwirrung, nur Susi lächelte ihr Koboldlächeln und Dorothea schien noch dicker geworden zu sein.

Und dann kam es Schlag auf Schlag. Innerhalb der nächsten vier Wochen verschwanden Ronny Raatz aus der 7b, Lisa Bien aus der 8a, Jonas Hecht und David-Lion Wurm aus der 8b, Felix Krauthahn aus der 8c und Till Meislein aus der 9b. Sie blieben unauffindbar. Lisa hinterließ eine Sammlung Bonbonpapierchen, von Felix blieb ein schäbiges Lederarmband und von Till ein unter seinen Sitz geklebtes Pornoheft minderer Qualität. Ein paar Kinder wurden aus der Schule genommen und Susi bemerkte, gedankenverloren an ihrem Ring spielend, dass die gelichteten Reihen das Unterrichten erleichterten. Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Leider erkrankten drei Lehrkräfte. Siglinde Lammarsch und Hanna Igelhaut litten unter nervösen Magenbeschwerden und Hans-Detlev Falter an nicht zu kontrollierenden Zuckungen der Schultergelenke. Rektor Haases Tick verschlimmerte sich. Seine Bewegungen wurden ruckartiger, sein Gang hoppelnd. Die Mundpartie zuckte ohne Unterlass. Einmal traf ich ihn im Lehrerzimmer, die Augen gerötet, nervös an einer Möhre kauend. Frau Reitersperger, die Sekretärin, die ihr Missfallen stets durch lautes Schnauben kundgetan hatte, lief immer lauter klappernd durch die Gänge; war sie in Eile, hörte man deutlich einen Dreitakt. An einem schwülen Julinachmittag fand ich die beiden Referendare Udo Finkenstein und Anette Möller-Taubeschön auf dem Dachrand des Fahrradunterstandes hockend, unten stand Dorothea Mietz, angespannt schweigend nach oben starrend. Sie warf mir einen missmutigen Blick zu und verließ wortlos den Schulhof.

Das Schuljahr endete mit einem letzten Verlust – eine der Putzfrauen, Frau Olm, ertrank auf dem Heimweg in alkoholisiertem Zustand  im nahegelegenen Bach – und mit Susis Abschied. Das Kultusministerium hatte ihren Einsatz in Altötting angeordnet, was sie mit heiterer Gelassenheit  hinnahm, wie jede Veränderung in ihrem Leben. Am Tag nach der kleinen Ausstandsfeier fand ich ihren Ring, mit dem sie so gerne spielte, in meinem Schrankfach. Ich rief sie an, aber ihr Handy-Anschluss war nicht erreichbar. Ich wollte den Ring auf dem Heimweg in ihrem Briefkasten werfen, doch als ich das Haus im Drudenweg erreichte, fand ihn zugeklebt. Auch ihr Klingelschild war entfernt. Die Nachbarn wussten nichts. Ein wenig ratlos ging ich nach Hause.

Das ist jetzt fast drei Monate her und das neue Schuljahr hat in seinen Rhythmus gefunden. Alles geht seinen Gang, die beiden Referendare ergänzen das Lehrerkollegium, die Schülerzahlen sinken nicht weiter. Rektor Haase sieht erholt und gelassen aus, Frau Reitersperger hat zu ihrem maßvollen Zweitakt zurückgefunden und schnaubt nicht mehr. Nur Dorothea Mietz sieht schlecht aus. Sie ist abgemagert und etwas schreckhaft geworden. Haase, immer voller Mitgefühl für sein Kollegium, regte schon einen Antrag auf vorzeitigen Ruhestand an, mindestens aber eine längere Kur. Ob Susi in Altötting ist, weiß ich nicht. Ich konnte sie nicht mehr erreichen und an die Schule wollte ich den Ring nicht schicken. Ich habe kräftigere Finger als sie und der Ring passt mir nicht, aber weil er ein schönes Erinnerungsstück ist, trage ich ihn an einem Lederbändchen um den Hals – jedenfalls manchmal. Und wenn ich in Gedanken mit ihm spiele, verfärbt er sich. Vielleicht … aber ich will meine Gedanken hüten. Der neue Hausmeister heißt Hundt und manchmal denke ich, er hat ein Auge auf Dorothea geworfen.

27.05.16
Sonja Meier

Stoff für Legenden

Der Alte stand mit seinem Urenkel am Rand der riesigen Ebene. Seine vier Augenpaare, von denen eines bereits erblindet war, blickten ins Grenzenlose, seine sieben noch verbliebenen Beine zitterten leicht. Der Urenkel, der es eilig hatte, wieder in heimische Gefilde zu kommen, räusperte sich: „Großväterchen ... warum bleibst du eigentlich jeden Tag an derselben Stelle stehen? Ich begleite dich ja gern auf deinen Spaziergängen, aber ... hier gibt es doch absolut nichts zu sehen. Komm, lass’ uns nach Hause gehen.“
„Absolut nichts“, wiederholte der Alte mit dumpfer Stimme. „Du hast vollkommen recht, mein Kleiner. Und doch ...“ Er bedeutete dem Jungen, näher zu kommen. „Und doch befand sich hier einst das Reich deiner Vorväter. Du siehst hier nur Leere, doch ich erblicke vor meinem geistigen Auge die verlorene Heimat. Genau hier, wo wir jetzt stehen, befand sich einst das prächtige, makellose Netz der Königin Aruna. Von hier aus konnte sie alles überschauen - die Gespinste ihrer Untertanen, die Kokons mit den Jungen, die beutereichen Gebiete nahe der Großen Helle...
Sie war eine gute und gerechte Königin, die ihre Prinzgemahle nur höchst selten auffraß. Unter ihrer Herrschaft hatten wir ein sorgloses Leben. Wir erneuerten unsere Netze stetig, unsere ausgebauten Verkehrswege suchten ihresgleichen, und einige waghalsige Eroberer drangen mit ihren Webkünsten in nie zuvor erreichte Tiefen hinunter. Beute gab es immer genug, und feindliche Stämme wagten sich kaum je in unsere Nähe. Es war eine Zeit, in der Kunst und Kultur gedeihen konnten, und keiner von uns ahnte, dass unserem Glück und unserem Frieden solch ein grausames Ende bevorstand.“
Der Alte schwieg, seine Augen schimmerten im trüben Licht.
„Was ist denn passiert, Großväterchen?“, wollte der Junge wissen. „Zu Hause spricht niemand über diese Zeit, und wenn man fragt, wird man nur böse angestarrt. Bitte erzähl’ es mir, sonst tut es keiner.“
Die Mundwerkzeuge des Alten bewegten sich eine ganze Weile lautlos, bevor er heiser krächzend fortfuhr: „Ich war damals jung, unbekümmert - und verliebt. Meine Auserwählte war Ilara, die schönste der vielen Töchter von Königin Aruna. Wir hatten uns gerade erst unsere Liebe gestanden, und da sie so freundlich gewesen war, mich nach unserer ersten Vereinigung am Leben zu lassen, hatte ich mir geschworen, ihr für den Rest meines Lebens treu zu folgen.
An jenem schwarzen Tag begann das Verhängnis mit einem entfernten Summen, das unsere Behausungen erzittern ließ. Königin Aruna sammelte unter Hochdruck ihre Gefolgsleute um sich und ordnete Gefechtsbereitschaft an. Ich erinnere mich noch an ihren flammenden Appell: „Tapfere Arachniden! Egal, wie zahlreich die feindlichen Horden auch sein mögen, steht fest zusammen, dann werden wir siegen!“
Der Rest ihrer Ansprache ging im lauter werdenden Dröhnen unter. Dann sahen wir das Monster.“
Der Alte hielt inne und atmete eine Weile schwer. bevor er weiter erzählte: „Es war unermesslich groß, schimmerte silbrig und brüllte ohrenbetäubend. Es war ein Feind, der unsere schlimmsten Alpträume bei weitem in den Schatten stellte. Zunächst stürzte sich das Ungetüm auf unsere Gespinste bei der Großen Helle und fraß einfach alles, was ihm vor sein grässliches Maul kam. Es war unersättlich.
Unter unserem Volk brach Panik aus, alles rannte schreiend durcheinander. Meine Prinzessin Ilara rief: „Wir müssen fliehen! Mutter! Hier können wir nicht siegen!“
Doch unsere tapfere Königin war bereits mit ihrer Leibwache losmarschiert, um sich der Bestie in den Weg zu stellen. Bald verschwand sie hinter aufgewirbelten Staubwolken - wir sahen sie niemals wieder.
Ich selbst stolperte in blinder Hast meiner Prinzessin hinterher, die selbst vor Tränen kaum etwas sehen konnte. Zusammen mit einem mageren Häuflein unserer Freunde erreichten wir schließlich die Kolonien im Reich der Dämmerung, deren Bewohner - entfernte Verwandte, die in ärmlichen Verhältnissen lebten - uns eher widerwillig aufnahmen.
Noch lange, nachdem das Monster verstummt und verschwunden war, saß uns das Entsetzen in den Gliedern. Erst nach geraumer Zeit konnten Ilara und ich uns entschließen, den Ort des Grauens wieder aufzusuchen. Beim Anblick der blendend weißen Leere wurde uns klar, dass es für uns kein Zurück mehr gab.“
Der Junge stand eine Weile still und schaute über die Ebene. Dann atmete er einige Male tief durch und sagte: „Was für eine schreckliche Geschichte. Aber Großväterchen - lass’ uns jetzt nach Hause gehen, du musst dich ausruhen. Komm ... im Reich der Dämmerung sind wir wenigstens sicher.“

Die junge Frau schenkte ihrem Mann noch Kaffee nach. Dann reichte sie ihm die Zuckerdose und sagte mit einschmeichelnder Stimme: „Liebling ...?“
Der Mann stöhnte leise und lachte dann: „Was soll ich machen? Rasen mähen? Hecke schneiden? Schränke rücken? Ich kenn’ doch den Tonfall.“
Die Frau begann zu schmollen, und so dauerte es eine Weile, bis sie ihr Anliegen zur Sprache brachte: „Weißt du, Liebling, wir haben doch letztes Jahr die Waschküche renoviert, Wie wäre es, wenn wir uns heuer den Heizkeller vornähmen?“


von Pia Winkler

Pias Limericks 2

Ein Kurarzt aus Bad Reichenhall
fand seine Methode genial:
Er piekste die Kranken
in Beine und Flanken
und heilte damit Haarausfall.


Die Stücke von Friedrich von Schiller
sind schon ab und zu Stimmungskiller.
Doch seid nicht gemein
und räumt es ruhig ein:
Die „Glocke“ ist fraglos ein Knüller!


Es war so ein Typ namens Peter
nicht größer als anderthalb Meter.
Er rief: „Ich bin kurz,
doch ist mir das schnurz!
Dann werd’ ich halt Stelzenvertreter!“


Ein Autobesitzer aus Neuss
vergötterte seinen Rolls Royce.
Er pflegte den Karren
mit Tee aus Zigarren
und pries den Effekt des Gebräus.


Ein Forscher am Ende der Welt,
der hatte zum Forschen kein Geld.
Er übte sich schlicht
im Nahrungsverzicht
und schlief auch bei Schneesturm im Zelt.


Ein Mädchen, genannt Aschenbrödel,
das hatte genug vom Gerödel.
Trotz Erbsen und Linsen
gewann sie den Prinzen.
Zur Hochzeit gab’s Braten mit Knödel.


Es sollte ein Junge aus Polen
dem Vater ein Kellerbier holen.
Er kehrte nicht wieder
und sang grölend Lieder –
da musst’ ihn der Papa versohlen.


Ein Biertrinker muss auf der Wies’n
beim Biertrinken andauernd niesen.
Nach vier, fünf, sechs Maß
ruft er: „Irgendwas
fängt an, mir den Spaß zu vermiesen!“


Es färbte ein Hase ein Ei
und malte darauf allerlei
mit Tusche und Feder –
das kann ja nicht jeder!
Doch Ostern war lang schon vorbei.

von Pia Winkler