Samstag, 26. Oktober 2013

Jardin perdu

Selbst den so geliebten Park hatten sie ihm genommen. Es waren nun andere Bäume, die er durch die Buntglasscheibe anstarrte, die, Wand hoch und beinahe zwei Meter von dem den Gang begrenzenden Geländer entfernt, Stämme und Kronen, Sträucher und Blumenrabatten verfremdete. Panzerglas sei es, hatte man ihm gesagt. Unzerstörbar. Färbung und Struktur des Glases schufen eine bis dahin unbekannte, wunderliche Distanz zu der Welt dort draußen, die nicht mehr war wie vorher und alles war schlechter geworden, seit sein Engel ihn verlassen hatte. Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen. Sie hatte einfach überreagiert, sie, die sonst so lässige, die coole, unbeschwerte. Sabrina! Nicht Herrscherin seines Vorzimmers war sie gewesen, sie hatte es beseelt, hatte mit ihrer Jugend und ihrem Charme Leben und Wärme hineingebracht. Ihre zierliche und doch so weibliche Gestalt mit den geschmeidigen Bewegungen, ihre grünbraunen Augen, die Grübchen in den Wangen, wenn sie lachte, das Stakkato ihrer Absätze,  ihr Trällern am Morgen beim Kaffeekochen, der Hauch von Parfum - ein wenig süß und ein wenig herb, nie zu schwer -, der noch im Raum hing wie eine Erinnerung, wenn sie ihn schon verlassen hatte, all das war zum erfreulichsten Teil seines Alltags geworden.
Mein Gott, und eigentlich war doch gar nichts passiert! Dass er sie berührt hatte, das konnte doch mal vorkommen; sie kam ihm nahe beim Reichen der Akten, um die er gebeten hatte, dass es ihr Busen gewesen war, nun ja …, dass man seinen Handabdruck sah – nur geschuldet der ungemein zarten, empfindlichen Haut ihres Dekolletés. Aber sie hatte geschrien, hoch und schrill und laut und war aus dem Büro gestürzt, den Gang entlang; das Stakkato ihrer Absätze überschlug sich. Ein Kollege aus dem Büro gegenüber erschien an der Tür, wollte wissen, was geschehen war. Er war zu keiner Antwort fähig. Noch heute erinnerte er sich mit heißer, brennender Scham an das Gespräch mit dem Behördenleiter. Man hatte ihn geschont, wollte glauben, was er vortrug. Ein peinliches Versehen, ein Missgeschick, natürlich. Und doch traf ihn die härteste Strafe. Er hatte sich leise, stotternd, händeringend, dann schriftlich in aller Form bei ihr entschuldigt, dennoch: Sabrina Zinnerersuchte um Versetzung; dem wurde selbstverständlich stattgegeben.
Ihre Nachfolgerin hieß Gertrude Butterhoff, maß einen Meter siebenundsechzig bei einem Gewicht von dreiundneunzig Kilogramm, trug Birkenstock und roch nach Zigaretten, Schweiß und Leberwurst. Auch sie war nicht Herrscherin seines Vorzimmers – dazu fehlten ihr Fachkenntnisse und Ausstrahlung gleichermaßen – aber sie füllte es aus. Nicht nur ihre Person beanspruchte Raum, auch die benötigte Verpflegung tat es. Zwar nutzte sie durchaus die Kantine des Amtes, aber das reichte nicht. Sie kam ihm vor wie einmenschlicher Mähdrescher. Ununterbrochen mahlten ihre Kiefer; zwischen Akten, Schriftstücken, Tastatur und Telefon verschwanden Berge von Pommes frites, Pizzateilen, Wurstbroten (Leberwurst, manchmal auch Knoblauchsalami), Hähnchenschenkeln und Bratwürsten. Er war Ästhet und er war Vegetarier und er litt unsäglich, doch trug er es mit sovielWürde, wie er nur aufbringen konnte und betrachtete es als eine Art Sühne für sein Tun. Nur einmal stieß er an die Grenzen seiner Duldsamkeit. Als bei einer kleinen Geburtstagsfeier im Kollegenkreis die Sprache auf die gequälte Kreatur in der Massentierhaltung kam – er hatte das Thema angestoßen – und sie kauend einwarf, sie sehe kein Leid, da sie Nutztiere nicht als leidfähige Wesen sondern als ihre Nahrungsmittel betrachte, krampfte sich sein Magen zusammen und er fühlte eine Woge des Abscheus, nein es war mehr als das, es war blanker, abgrundtiefer Hass, der in ihm aufstieg, mit einer Heftigkeit, die ihm den Atem nahm, und er musste den Raum verlassen, um seine Beherrschung wiederzuerlangen. Er spürte die Blicke seiner Kollegen imRücken. Danach ertrug er ihre Anwesenheit mit verbissenem Schweigen. Er schauderte, wenn ihre Gestalt sich über seinen Schreibtisch beugte, ihm zugewandt, der mächtige Busen vor seinem Gesicht. Er hielt die Luft an, bis sie das Zimmer wieder verlassen hatte. Selbst die Akten rochen nach Essen und kaltem Rauch. Er wurde zum Frischluftfanatiker.
Manchmal, wenn Zahlen, Akten und Sauerstoffarmut ihn ermüdet hatten, gönnte er sich eine Pause und verließ sein Büro, um am Ende des Ganges auf den schmalen Balkon hinauszutreten, der als einer von dreien, Geranien geschmückt, die Rückfront des Ämtergebäudes zierte. Was ihm liebe Gewohnheit seit Jahren war, wurde zur täglichen, zwingenden Notwendigkeit, um das Unerträgliche ertragen zu können. Er genoss den Blick auf den Park und das Wechselspiel seinerFarben. Nie hatte er sich entscheiden können, wann er ihm am besten gefiel: im Frühjahr, wenn die Baumkronen voller Verheißung in den unterschiedlichsten Grüntönen leuchteten – im Mai hatte er dreizehn verschiedene Nuancen gezählt (die Blutbuche eingerechnet) -, im Sommer, wenn das dunkel gewordene Grün die bunten Blumenrabatten am Eingang betonten oder im Herbst, wenn der Farbrausch der Blätter noch einmal alles überstrahlte, bevor der Winter die bloße Form in Szene setzte. Auch das liebte er. Er fing an, den Bäumen Ziffern zuzuweisen. Die Sicheltannen ganz vorne trugen die eins, die mächtige Blutbuche war die neun und die drei Eichen gegenüber, knorrig und hochgewachsen, bezifferte er mit sieben, während die Winterlinde als markantester Baum hinter dem kleinen Weiher die sechs verkörperte. Auch Birken, Robinien, Ahorn, Zypressen und Eiben wurden beziffert. Dazwischen änderte er ihre Benennung. Da die Ziffern nicht für alle Baumarten im Park reichten, blieben in manchen Monaten die Tannen ziffernlos, weil nun die schlanke Zypresse die eins bekam, und weil die fröhliche Birke auch mal die sechs sein wollte, musste die Linde im August leer ausgehen, ebenso wie die Eichen, als der Ginkgo die sieben begehrte. Er stellte sich vor, wie die Bäume darüber tuschelten. Manche lästerten und schimpften, während andere sich brüsteten. Aber die Erde, die alles trug, alles hielt, alles versorgte, die demgemäß die mächtigste der Ziffern trug, die Null, was er auch nie änderte, schwieg dazu, einvernehmlich wie ihm schien. Nur manchmal kicherte sie leise.
Dann wurde auch dieses Refugium bedroht. Es war ein Dienstagnachmittag gegen halb drei, als er den Zigarettenstummel auf dem Balkonboden entdeckte. Er erstarrte, Schweiß brach ihm aus beim Anblick des himbeerroten Lippenstiftrestes am Filter. SIE bevorzugte diesen Farbton. Manchmal hing ein Rest am unteren Rand ihrer Schneidezähne. Nicht hier! Nicht in seinem Allerheiligsten! Er roch kalten Rauch, Schweiß und Leberwurst. Steifbeinig verließ er den Balkon und lehnte sich zitternd an die Wand, bevor er zu seinem Büro zurück ging und die Tür zum Vorzimmer aufriss. Frau Butterhoff, erschrocken durch das unerwartete Geräusch, drehte sich zu ihm um, während sie in die Hot-dog-Semmel biss und Ketchup spritzte quer über den Schreibtisch. Was dann geschah, konnte er später nicht mehr sagen. Seine Hand war schneller als sein Kopf, als sie zu dem Messer griff, das aus ihrer Einkaufstasche ragte und den Preis noch trug – 67,50 €, es war ein sehr gutes Messer – und damit zustieß. Es traf die Halsschlagader und das Preisschild baumelte noch daran, als Frau Butterhoff mit einem matten, röchelnden Schrei schwer über den Aktenhunt stürzte, Teller und Glas mit sich reißend, während ihr Blut pulsierend Akten und Schriftstücke rot färbte. Von der offenen Tür hinter ihm kam ein Laut.
„Ketchup“ sagte er zu dem Kollegen aus dem Nachbarbüro, der mit kalkweißem Gesicht und offenem Mund den Türgriff umklammerte. „Ketchup. Ketchup.“
Eine Hand legte sich ruhig und bestimmt auf seine Schulter, während er noch einmal zu den verfremdeten Bäumen jenseits der Glasscheibe hinüberblickte. „Kommen Sie, Herr Breuer. Die Therapeutin wartet .

22.09.13
Sonja Meier


Bild: Jardin Perdu von Jürgen Durner, der uns freundlicherweise erlaubt hat, sein Bild auf unserem Blog zu veröffentlichen