Hier in diesem kleinen Ort mit dem wunderlich slawisch
geprägten Namen Wüsteneutzsch war er dann doch wieder auf seinem Heimathof
gelandet, als die Odyssee aus Wehrdienst, sechsjährigem Kriegseinsatz und Gefangenschaft
vorüber war, - der junge Rudel. Gerade mal 27 Jahre alt, hatte er fast ein
Drittel seines Lebens dem Volk oder besser dem Führer seines Volkes opfern
müssen.
Angeschlagen, verwundet, aber noch so weit gesund, dass er Lebensmut
aufbringen konnte, wollte er das Anwesen der Familie wieder hochbringen. Mit
seiner Hanne werde er schon die Ärmel aufkrempeln. Die fremdelte zwar noch mit
ihm, der ja als Ehepartner die längste Zeit gar nicht bei ihr hatte sein
können, aber das würde sich schon noch geben, wenn es aufwärts ging. Mit gerade
mal zwanzig war sie von Rudel geschwängert worden und erlebte ihn dann nur noch
bei wenigen kurzen Heimaturlauben. Die meiste Zeit musste sie allein die kleine
Tochter aufziehen, mit der Schwiegermutter auskommen lernen, die Fremdarbeiter
in der Landwirtschaft anleiten und, und, und......, sie, die ja aus der Stadt
stammte und keinerlei Erfahrung mit so einem Hof hatte.
Wüsteneutzsch liegt in der Leipziger Bucht, wo für uns
Westler der Osten beginnt, obwohl man ja noch in Mitteldeutschland ist. Aber
hier wird das Land so flach und der Horizont öffnet sich so schrankenlos weit, dass
du immer eine Einladung ins endlose Nirgendwo spürst, zumal der Wind und die in
hohem Bogen gestaffelten Wolken dich noch zusätzlich dorthin ziehen. Es gibt
nur kleine Baum- und Buschgruppen in mächtigen Feldarealen, Wege und Straßen
scheinen sich zu verlieren und die
kleinen Orte heißen Lennewitz, Tollwitz, Mücheln oder Kreypau und könnten in
ihrer Backsteingeometrie jederzeit woanders in diese Ebene hingewürfelt werden.
Das junge Paar hatte wenig Abwechslung bei all der Arbeit
eines Neustarts, der unter völlig neuen gesellschaftspolitischen und
ökonomischen Bedingungen geschehen sollte, die noch keiner wirklich
durchschaute. Ich weiß aus Berichten nur von einem Luxus, den sie sich
regelmäßig gönnten, dem Kinobesuch im benachbarten Kreisstädtchen. Ob die DEFA
damals so kurz nach dem Krieg schon Filme produzierte, ist mir unbekannt. Dann
müssen sie sich wohl sowjetische Filme angetan haben, mit denen die
Besatzungsmacht ihre Zone sicher versorgte, oder es gab aus dem alten
Deutschland doch auch ein paar ideologisch unbedenkliche Produktionen. Egal,
die Hauptsache war ihnen wohl, überhaupt ins Kino gehen zu können.
Ich stelle mir vor, wie sie rannten und sich lachend
sputeten, weil sie wegen der Arbeit spät dran waren. Im Laufen wurden sie trotz
vorheriger Mattigkeit wieder frisch und stark, wie es sich für junge gesunde
Leute gehört. Auf dem Heimweg war endlich Gelegenheit für Ruhe und Entspannung.
Sie redeten über den Film, über die Kinobesucher, die sie kannten oder nicht;
jetzt war endlich etwas Zeit für offene Fragen, Zweifel und spontane Äußerungen
und natürlich für Träume, Annäherung. Rudel umarmte Hanne, sie spürten ihre
Körper, sie wollten das. Sie leisteten sich ein Schlendern und ließen ihre
Blicke in die weite Landschaft gleiten. Das allein reichte schon aus, um ihre
Seele zu glätten und ihre Stimmen weich zu machen. Aber ein noch schöneres
Geschenk war es, dass von dem sich verdunkelnden unendlich weiten Horizont eine
Melodie zu ihnen herschwang, kaum hörbar, aber in ihrem Rhythmus deutlich zu
spüren: Wei-ter, wei-ter, wei-ter-gehen. Und es dauerte nicht lange und sie
glaubten ganz fest, dass sie die politischen Umwälzungen, die tiefen Verunsicherungen
aushalten werden, dass ihr Fleiß eine feste Grundlage sein könnte, dass Hannes
Fremdeln nach so langer Kriegstrennung wie von alleine schwinden werde. Rudel
spürte plötzlich, dass sie ihre Ängste, die sie immer wieder schüttelten,
überwinden werde, und Hanne glaubte, dass er seine aggressiven und cholerischen
Ausbrüche einstelle. Plötzlich stand sogar unausgesprochen für sie fest, dass
sie noch ein Kind zeugen wollten.
Aber in den Jahren, die kamen, wurde es nicht leichter für
sie, im Gegenteil, ihre Lebensbedingungen wurden härter und belastender als sie
es sich jemals vorgestellt hatten.
Sieben Jahre mühten sie sich.
Dann mussten und wollten sie gehen. In den Westen. Bereit,
einen weiteren Neustart zu versuchen.
Den Osten und seinen Himmel, den weiten, ließen sie hinter
sich.