Donnerstag, 11. August 2016

WEITER HIMMEL

Hier in diesem kleinen Ort mit dem wunderlich slawisch geprägten Namen Wüsteneutzsch war er dann doch wieder auf seinem Heimathof gelandet, als die Odyssee aus Wehrdienst, sechsjährigem Kriegseinsatz und Gefangenschaft vorüber war, - der junge Rudel. Gerade mal 27 Jahre alt, hatte er fast ein Drittel seines Lebens dem Volk oder besser dem Führer seines Volkes opfern müssen. 

Angeschlagen, verwundet, aber noch so weit gesund, dass er Lebensmut aufbringen konnte, wollte er das Anwesen der Familie wieder hochbringen. Mit seiner Hanne werde er schon die Ärmel aufkrempeln. Die fremdelte zwar noch mit ihm, der ja als Ehepartner die längste Zeit gar nicht bei ihr hatte sein können, aber das würde sich schon noch geben, wenn es aufwärts ging. Mit gerade mal zwanzig war sie von Rudel geschwängert worden und erlebte ihn dann nur noch bei wenigen kurzen Heimaturlauben. Die meiste Zeit musste sie allein die kleine Tochter aufziehen, mit der Schwiegermutter auskommen lernen, die Fremdarbeiter in der Landwirtschaft anleiten und, und, und......, sie, die ja aus der Stadt stammte und keinerlei Erfahrung mit so einem Hof hatte.

Wüsteneutzsch liegt in der Leipziger Bucht, wo für uns Westler der Osten beginnt, obwohl man ja noch in Mitteldeutschland ist. Aber hier wird das Land so flach und der Horizont öffnet sich so schrankenlos weit, dass du immer eine Einladung ins endlose Nirgendwo spürst, zumal der Wind und die in hohem Bogen gestaffelten Wolken dich noch zusätzlich dorthin ziehen. Es gibt nur kleine Baum- und Buschgruppen in mächtigen Feldarealen, Wege und Straßen scheinen sich zu verlieren  und die kleinen Orte heißen Lennewitz, Tollwitz, Mücheln oder Kreypau und könnten in ihrer Backsteingeometrie jederzeit woanders in diese Ebene hingewürfelt werden.

Das junge Paar hatte wenig Abwechslung bei all der Arbeit eines Neustarts, der unter völlig neuen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Bedingungen geschehen sollte, die noch keiner wirklich durchschaute. Ich weiß aus Berichten nur von einem Luxus, den sie sich regelmäßig gönnten, dem Kinobesuch im benachbarten Kreisstädtchen. Ob die DEFA damals so kurz nach dem Krieg schon Filme produzierte, ist mir unbekannt. Dann müssen sie sich wohl sowjetische Filme angetan haben, mit denen die Besatzungsmacht ihre Zone sicher versorgte, oder es gab aus dem alten Deutschland doch auch ein paar ideologisch unbedenkliche Produktionen. Egal, die Hauptsache war ihnen wohl, überhaupt ins Kino gehen zu können.

Ich stelle mir vor, wie sie rannten und sich lachend sputeten, weil sie wegen der Arbeit spät dran waren. Im Laufen wurden sie trotz vorheriger Mattigkeit wieder frisch und stark, wie es sich für junge gesunde Leute gehört. Auf dem Heimweg war endlich Gelegenheit für Ruhe und Entspannung. Sie redeten über den Film, über die Kinobesucher, die sie kannten oder nicht; jetzt war endlich etwas Zeit für offene Fragen, Zweifel und spontane Äußerungen und natürlich für Träume, Annäherung. Rudel umarmte Hanne, sie spürten ihre Körper, sie wollten das. Sie leisteten sich ein Schlendern und ließen ihre Blicke in die weite Landschaft gleiten. Das allein reichte schon aus, um ihre Seele zu glätten und ihre Stimmen weich zu machen. Aber ein noch schöneres Geschenk war es, dass von dem sich verdunkelnden unendlich weiten Horizont eine Melodie zu ihnen herschwang, kaum hörbar, aber in ihrem Rhythmus deutlich zu spüren: Wei-ter, wei-ter, wei-ter-gehen. Und es dauerte nicht lange und sie glaubten ganz fest, dass sie die politischen Umwälzungen, die tiefen Verunsicherungen aushalten werden, dass ihr Fleiß eine feste Grundlage sein könnte, dass Hannes Fremdeln nach so langer Kriegstrennung wie von alleine schwinden werde. Rudel spürte plötzlich, dass sie ihre Ängste, die sie immer wieder schüttelten, überwinden werde, und Hanne glaubte, dass er seine aggressiven und cholerischen Ausbrüche einstelle. Plötzlich stand sogar unausgesprochen für sie fest, dass sie noch ein Kind zeugen wollten.

Aber in den Jahren, die kamen, wurde es nicht leichter für sie, im Gegenteil, ihre Lebensbedingungen wurden härter und belastender als sie es sich  jemals vorgestellt hatten.
Sieben Jahre mühten sie sich.

Dann mussten und wollten sie gehen. In den Westen. Bereit, einen weiteren Neustart zu versuchen.

Den Osten und seinen Himmel, den weiten, ließen sie hinter sich.  

von Wilfried Christel