Donnerstag, 2. Januar 2014

30 Jahre


Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Hanna das Häuschen nicht gehörte. Ich glaube, niemand aus unserer Nachbarschaft hatte das gewusst. Hanna gehörte zu dem Haus, als wäre sie Teil davon. Sie lebte dort seit über dreißig Jahren, lange bevor wir hier eingezogen und damit zu Nachbarn geworden waren. Ich erinnere mich noch an die vollständige Familie Klein, an die beiden Söhne und die Tochter Sabine, alle damals noch Schüler und ziemliche Rabauken, die mit ihren Freunden und wilden Spielen Leben in unsere brave, etwas verschlafene Siedlung brachten. Walter Klein war um einiges älter als seine Frau, ein stiller, zurückhaltender Mann, bei der Post beschäftigt und freundlich zu jedermann. Wie die ganze Familie in dem winzigen Haus Platz finden konnte, war uns immer ein Rätsel gewesen. Von außen sah es so puppenstubenhaft aus, dass wir oft Witze über die Raumaufteilung machten, denn außer den fünf Personen lebte dort auch einiges Getier. Anfangs hielten die Kleins sogar noch Hühner, die wir manchmal durch die offene Verandatür hinein- und heraus stolzieren sahen. Walter behauptete immer, sie lieferten drinnen ihre Eier ab. Es gab Häschen für die Kinder, zwei Katzen wegen der Mäuse und in der Regel mindestens einen Hund. Auch der Garten der Kleins war winzig, maximal zweihundert Quadratmeter, genutzt als Obst- und Gemüsegarten. Am Zaun standen ein Johannis- und ein Stachelbeerstrauch, sogar ein Apfelbäumchen wuchs dort. Zwischen Sträuchern und Baum stand ein schlichtes Holzkreuz, in das Namen geschnitzt waren, und im Laufe der Jahre kamen immer wieder welche dazu. Starb eines der kleineren Haustiere, wurde es von allen betrauert und dort begraben. „Zecki“, „Pippi“ und „Rudi“ hatten so ihren Frieden gefunden, und ein flacher Stein mit unregelmäßiger Oberfläche, die ihn wie eine Miniaturlandschaft aus Tälern, Hügeln, Flüssen und einzelnen Berggipfeln erscheinen ließ, sicherte die Grabstelle vor Räubern. Die Familie hatte nie über Reichtümer verfügt. Walter fuhr damals einen alten Opel, der ihn allerdings überleben sollte. Hanna hatte kein Auto. Sie reparierten am Haus fast alles selbst. Es war damals schon alt, ein Sparhäuschen aus den Vierziger Jahren, und es gab immer Erneuerungsbedarf. Die Kleins pflegten es liebevoll, strichen die Fensterläden, ja sogar die Fassade regelmäßig, und der üppige Blumenschmuck lenkte von seiner Ärmlichkeit und Beschränktheit ab.

Nach dem Auszug der Kinder lebten Hanna und Walter allein darin. Die drei zogen rasch nacheinander aus, Sabine als letzte, vor ca. zehn Jahren denke ich. Sie nahm das verbliebene Kaninchen mit und ließ ihre Eltern mit einer alten, zahnlosen Katze und zwei Hunden im Häuschen zurück. Für Hanna und Walter muss der Gewinn an Raum und Ruhe der pure Luxus gewesen sein;  sie werkelten wochenlang in allen Zimmern, renovierten und breiteten sich aus. Mein Mann und Walter hielten engeren Kontakt als wir Frauen. Die beiden trafen sich manchmal zu einem Sonntagsspaziergang mit Abschlussbier im „Waldheim“, lösten die Weltprobleme und planten die Zukunft. Die Kleins sparten damals, so erzählte es mir Martin, um mit Beginn von Walters Ruhestand einmal richtig groß Urlaub zu machen und in einem Wohnmobil durch Südosteuropa zu touren. Aber Walter erlebte seinen Ruhestand nicht. Den letzten Arbeitstag feierte mit seinen Kollegen lange, ausgiebig und mit viel Alkohol. Ich erinnere mich noch an die Nacht, in der er volltrunken – eigentlich unvorstellbar bei diesem ruhigen, gemäßigten Mann - weit nach Mitternacht nach Hause kam und über den Berg Altmetall stolperte, den sie tags zuvor zur Abholung neben dem Gartentor aufgeschlichtet  hatten; das heißt, er stolperte nicht darüber, er fiel praktisch hinein, und es gab ein solches Getöse, dass wir in den Betten standen und Martin hinunter ging, um nachzusehen. Er half Hanna ihn ins Bett zu bringen, aber weil es nicht möglich war, den schweren Körper die Treppe hinauf zu hieven, packten sie ihn schließlich auf das Sofa im Wohnzimmer, lagerten seinen Kopf etwas höher, deckten ihn zu und ließen ihn allein.
Am nächsten Tag war Walter tot. Er starb an einer Gehirnblutung und Hanna trauerte ein halbes Jahr aus tiefstem Herzen, bevor ihre praktische Art und ihr angeborener Lebensmut sie langsam wieder aufrichteten. Nach und nach, mit Hilfe ihrer Kinder, die sich rührend um sie kümmerten, fand sie in ihren Alltag zurück und lebte allein mit Mona, der Hovawart-Hündin, die eigentlich Walters Hund gewesen war, in dem kleinen Haus. Sie sagte mir einmal, alles darin, jeder Schrank, jeder Stuhl, jedes Bild, jeder Nagel in der Wand, trage seine Handschrift und manchmal habe sie das Gefühl, er sei nur kurz fortgegangen und würde in einer Stunde - wie früher jeden Tag - wieder in seinem Sessel sitzen. Ich habe Hanna nie etwas ausräumen sehen, auch Jahre später nicht, und ihre Tochter erzählte mir bei einer Gelegenheit, dass die Sachen ihres Vater noch genau dort waren, wo sie sich vor seinem Tod befunden hatten. Nichts wurde verändert. Hanna lebte mit ihnen und auf diese Art und Weise wohl auch mit ihrem Mann. Sie schaffte sich noch einen zweiten Hund an, versorgte ihr Zuhause mit Fleiß und Umsicht und betreute bei Bedarf ihren Enkel, der ein Jahr nach Walters Tod auf die Welt kam. Sie kam gut zurecht und ich glaube, dass die geliebte Umgebung für sie mindestens ein ebenso wichtiger Halt war wie die Kinder und ihr Enkel.

Dass die Kleins nicht Eigentümer des Grundstücks waren, erfuhr ich erst vor ca. 1 1/2 Jahren. Ein Mitglied der Erbengemeinschaft, der es nach dem Tod der früheren Eigentümerin gehörte, meldete Eigenbedarf an und sprach die Kündigung aus. Es kam unerwartet für Hanna und traf sie damals wie ein Schlag, sie kämpfe dagegen, bat um Aufschub, verhandelte mit den Erben - Martin half ihr dabei, daher kenne ich einige Details -, aber schließlich musste sie doch nachgeben. Man gewährte ihr eine letzte Räumungsfrist bis Ende Oktober mit der Drohung, danach Räumungsklage zu erheben. Für sie bedeutete es die zweite Katastrophe in diesem Jahr. Im Frühjahr war Mona gestorben. Martin und ich waren zu dem Zeitpunkt verreist und erfuhren es nach unserer Rückkehr von Hanna, die müde und eingefallen wirkte, von Selbstvorwürfen gepeinigt, denn die Hündin war wohl qualvoll verendet, und mag dieses übergroße Leid wegen eines toten Tieres manch einem unangemessen erschienen sein, so glaube ich doch, dass mit Mona auch eine lebendige Bindung zu Walter gestorben war.
Und nun also der Umzug oder, wie Hanna es formulierte, die Vertreibung aus dem Paradies. Sie hatte eine Wohnung in der Nähe ihres ältesten Sohnes gefunden, zwar nur mit Balkon, aber dafür mit einer Schrebergartenparzelle, wenige hundert Meter vom Wohnhaus entfernt, die ihr ermöglichen würde, ihren gewohnten Alltag weiter zu leben. Hanna bestellte einen Container und begann auszuräumen. Zwar lehnte sie Hilfe nicht generell ab, doch das meiste machte sie alleine. Ich glaube, es war ihre Art Abschied zu nehmen und er dauerte Wochen. Nach dem Container kam das Umzugsunternehmen. Die Arbeiter trugen Unmengen an Kartons und Kisten heraus; das winzige Haus spuckte alles aus, was in ihm war, und am Schluss befürchtete ich fast, es habe nun jeden Halt verloren und werde ohne das stützende Inventar in sich zusammensinken. Letztendlich - die Arbeit des Umzugsunternehmens war beendet - mietete Hanna einen Kleintransporter, um die restlichen Sachen selbst wegzuschaffen, Kleinode vielleicht, die sie keinem anvertrauen wollte. Ich sah sie im Garten und auf der Veranda werkeln; auch der Lieferwagen füllte sich.

Es dämmerte bereits, als ich aus dem Arbeitszimmer meines Mannes im zweiten Stock hinüber sah zu Hanna und im Zwielicht des beginnenden Abends begriff ich nicht gleich, was ich sah. Sie stand mit einem Spaten bei dem Apfelbaum und grub mit festen, energischen Stichen. Es hatte erst geregnet und die Erde war schmierig und schwer. Die schmale Gestalt stemmte ihr ganzes Gewicht mit einem Fuß auf den Spatenrand, hob den Stich aus, kippte die nasse Erde zur Seite und ging den nächsten Stich an. Sie hatte sich schon fast einen halben Meter in den Boden gegraben, als sie strauchelte und um ihr Gleichgewicht rang. Einen Moment stand sie reglos da, die Haare wirr im Gesicht; sie starrte nach unten, und ich begriff, dass der Spaten gebrochen war. Sie wischte mit dem Ärmel über ihre Stirn, warf beide Teile des Spatens zur Seite, kniete sich hin und grub mit den Händen weiter. Unfähig mich abzuwenden, verfolgte ich ihr Tun, bis sie etwas hervorhob, ein unförmiges Bündel, das sie aufnahm, um es zum Auto zu tragen, und ich glaubte - völlig unsinnig im zweiten Stock des Nachbarhauses hinter einem geschlossenen Fenster - einen widerwärtig beißenden, süßlichen Geruch wahrzunehmen. Ich floh.

Das liegt erst zwei Wochen zurück, und ich habe Hanna seit dem nicht mehr gesehen, aber am Tag danach ging ich noch einmal hinüber. Ich schlüpfte durch den kleinen Durchlass in der Hecke, die unsere Grundstücke von einander trennt, und ging zum Apfelbaum.  Der flache Stein mit der unregelmäßigen Oberfläche einer Miniaturlandschaft, mit Tälern, Hügeln, Flüssen und Berggipfeln lag an seiner Stelle, das Holzkreuz dahinter fehlte. Es roch nach frischer Erde. Langsam ging ich zurück. An der Mülltonne neben dem Gartentor lehnte der zerbrochene Spaten.

08.12.13
Sonja Meier