Mittwoch, 12. Juni 2013

Willkommen im reizenden Glockenbachtal


Einfach draufloslaufen, die Freiheit liegt so nah, fast vor den Toren der Stadt. Auf geht’s! „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!“ Was brauch ich eine Karte? Dieser Weg da lädt mich einfach ein, Schilder und Routenlenker gibt’s in der Stadt genug, hier Gottseidank nur Grün, Bäume, Stege, Pfade, verwunschene Senken, Schleichwege, die durch’s Unterholz mäandern. Wie doch die Natur immer wieder den Kopf durchschütteln kann! Dieser Buchenstamm ist eindeutig ein Elefantenbein, Vorhut einer monströsen Herde. Auf dem Bein des Urtiers, nein, bitte nicht – ein Schild: Pfeil nach links der Streuobstweg nach Partelstein. Im rechten Winkel Pfeil nach unten, nach unten? Okay, rechts unten nach Wirkelbach. Ich nehm‘ den dritten Weg, den ohne Richtungsschild. Ich will, dass heute alle Wünsche für mich offen bleiben. Lauf deinem Geheimnis nach! Sowas ist geil.
Gefühlte vier Kilometer weiter nagelt mich ein Totempfahl fest, der in zwanzig Winkelvarianten nach Glockenbach weist. So wie früher auf den Marktplätzen die Nostalgiewegweiser die Weite der verlorenen Heimat im Osten wachhielten: Danzig 732 km, Königsberg in Preußen 849 km, 975 km nach Memel, Kattowitz oder Oels.
Jesus, es gibt keine unausgeschilderten Wege mehr!
Ich bestreite ja nicht, dass es Schilder geben muss. Eines mit „Vorsicht Abgrund“ oder „Müllhalde – Besteigen auf eigene Gefahr“ erfüllt schon einen Zweck, aber meine Freiheitssehnsucht, „die Gedanken sind frei“, ein bisschen Vision – Quest im fränkischen Wald halt. Ich brauche sie, ich bestehe auf der Magie des unbeschilderten Weges. Auch wenn der Heimatverein Quendelbach in mühevoller Kleinarbeit den Tonscherbenweg im Königswald neu ausgeschildert hat. Ich mag auch keine Hinweistafel, auf der breit dargelegt wird, dass hier einmal eine Burg stand, die die Leuchtenberger 1368 an die Hennensteiner übergeben mussten und die dann 1440 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Ganz zu schweigen vom Peter-Handke-Gedächtnisweg, dem Kohlberger Skulpturenweg oder dem Lyrikpfad, auf dem alle 300 Meter in Stein gemeißelte Reime die Sonnenkraft, den Wuchs der Pflanzen und das Alter alter Steine besingen. Und den Jakobsweg mit seiner Muschel mag ich schon gar nicht, überall ist Jakobsweg, Deutschland ist bis Spanien ein Jakobsweg. I don’t like, can’t smile.
Wo bin ich?
Schließlich lande ich auf einem Kräuterriecheventweg mit Sportparcours in Glockenbach, wo ich garantiert nicht hinwollte.
Der Freiheitsraub dauerte 19 km und ich bin unangemessen müde. Was ist los mit meinem Kreislauf? Und warum bin ich so depressiv?
In mir blinken Warntafeln auf: „Follow me!“ In roten Buchstaben auf blauem Schirm „Kein Alkohol, keine Kohlehydrate nach 17.00 Uhr mehr!“, gefolgt in flottem Pink auf Lila „Frustrationsseminar im Maria-Bernstein-Centre buchen!“

Willkommen im reizenden Glockenbachtal!

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

1 Kommentar:

  1. Hallo Wilfried,
    schön, dass wir endlich auch Texte von Dir auf der Seite haben. Danke für das inspiriernede Wochenende in Stierberg.
    Viele Grüße
    Heike

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