Es gab kein Entrinnen. Jeder
Gottesdienstbesuch musste im Jahr der Konfirmationszeit in einem
Karteikärtchen dokumentiert werden. Es
war blassrosa und wies alle Sonntage des Kirchenjahres in fein säuberlicher
Rubrik auf. Marlene hatte Schwierigkeiten, deren komplizierte Namen überhaupt
zu entziffern. Einer hieß tatsächlich
Estomihi, ein anderer Laetare und die vielen Sonntage nach Trinitatis, die
wollten ja überhaupt nicht aufhören. Nur den 1. bis 4. Advent kannte Marlene.
Aber das war ja noch lange hin. Oh, mein Gott! Hinter jedem Sonntag war ein
Kästchen platziert für die Unterschrift des verantwortlichen Pastors. Es gab
kein Entrinnen. Bei Krankheit des Konfirmanden mussten die Eltern eine
Entschuldigung beibringen. Marlene wusste, ihre Eltern würden einen
Schummelversuch schon im Keim ersticken. „Und in den Ferien, wenn ich
verreise?“
„Du findest überall eine
protestantisch – lutherische Kirche. Von einer Konfirmandin erwarte ich
Pflichtgefühl und Treue zu unserer Kirche!“, sagte Pastor Bosswitz in dem ihm
eigenen markanten Tonfall, der keinen Einwand zuließ.
Auf der Vorderseite des
Kontrollkärtchens war ein Lamm abgebildet. Es lag am Boden und hielt trotzdem
noch eine Fahne mit Kreuz hoch.
„Und wenn ich es verliere? Wer
glaubt mir dann ohne das Kärtchen?“, fragte sich Marlene.
Der Gottesdienst näherte sich der
Predigt. Marlene saß zwischen ihren Eltern und der dicken Berta. Sie durfte die
dicke Berta so nennen, weil ihre Eltern das auch ganz selbstverständlich taten.
Dort zu sitzen war schlimm für Marlene, weil die Eltern links von ihr immer
anmahnten, dass sie kräftig und überzeugend mitsingen sollte, nicht nur so
zimperlich rumpiepsen. Und rechts roch die dicke Berta aus ihrem schweren
braunen Mantel heraus nach Mottenkugeln. Außerdem sang sie sehr laut, so laut
wie falsch. Pastor Bosswitz stand mittlerweile auf der Kanzel. Jetzt würde er
loslegen und lange, lange reden. Marlene sackte leicht zusammen. Was tun? Zu
Reinhard rüberschauen, was für ein süßer Lockenkopf, aber an seinem Hals
drückte sich ein knallroter Pickel aus dem Hemdkragen. Reinhard bekam in der
letzten Zeit immer mehr Pickel. Schade. Hinter ihm feixte Marlene der freche
Ingo zu, kleine witzige Faxen machte er und beim letzten Konfiunterricht hatte
er zweimal Teufel gesagt, wo doch Jesus die Antwort gewesen wäre. War der
wirklich so frech oder vielleicht nur dumm, auch wenn er aus Berlin kam, wo
alle Schnodderschnauzen hatten?
Herr Pfarrer Bosswitz erzählte in
seiner Predigt etwas über den Kleinmut, der die Menschen plage, und wurde dabei
immer lauter. Seine Augen riss er auf, sein Mund wurde breiter, ein tiefer
Schlund, aus dem der Kleinmut hochgeschleudert wurde und das große Leid, das
wir nur durch Gottvertrauen ertragen können und deshalb ist der Kleinmut etwas
Böses, er erhöht unser Leiden nur, Kleinmut ist das Verzagen Gott gegenüber und
das hat unser Herr nicht verdient, denn er weiß, warum wir leiden müssen. Er
allein! Bosswitz rief das alles schnarrend in den Raum und klopfte dabei
rhythmisch mit den Fingern auf die Holzkanten der Kanzel.
Soweit hatte Marlene die Sache
schon verstanden, das Schlimme war nur, dass sie bei Kleinmut nicht an Sünde
oder Verfehlung dachte, sondern sich ein Kleinmut als ein putziges kleines
Tierchen mit Fell vorstellte. Das Kleinmut, so dachte Marlene unerschrocken
weiter, war eine natürliche Verwandte
des Großmuts und am Ende der Kette stand das Mammut. Marlene versammelte die
ganze Tierfamilie der Muts um sich und überstand die Predigt auf diese Weise
recht gut. Aber das ganze Abendmahl musste noch ausgehalten werden. Ätzend
langweilig war es, bis Bosswitz immer die ganze Geschichte heruntergeleiert
hatte, in der Jesus seinen Leib und sein Blut als Essen und Trinken anbot. Das
war weder Sprechen noch Singen. Es klang immer, als wollte Bosswitz was und
könne aber nicht. Erst das schwungvolle Lied von den Töchtern Zions auf den
Zinnen von Jerusalem würde nachher wieder etwas Luft schaffen nach diesem
merkwürdig schmierigen Sprechsingen.
Aber das mit dem Blut! Marlene
schauderte jedes Mal, wenn der Pastor die Leute aus dem Kelch trinken ließ. Das
war ja dann eigentlich Blut. Wenn der Bosswitz selbst trank, hing seine große
Nase über dem Kelch und aus der Nase wuchsen Haare raus. Der Blutvortrinker.
Wenn früher Großmuts oder Mammuts gefangen und dann geschlachtet wurden, schoss
das Blut dieser mächtigen Tiere wie in Fontänen aus ihnen heraus. Die schönen
Stammesjünglinge badeten nackt in dem Blutsturz, weil das unverwundbar machte.
Eij, diese Jungs waren wirklich schön, sie hatten keine Pickel. Das Blut lief
in hübschen Rinnsalen an ihren braunen muskulösen Gliedern herunter, wow. Und
die Frauen stellten sich mit Schüsseln unter die Fontänen und fingen das Blut
auf. Später machten sie dann Blutsuppe daraus. Eine Wahnsinnsaction war das,
wenn man die Mute erlegt hatte. Die Kleinmute aber wurden wie Haustiere
behandelt, Schmusetierchen, weil sie so süß waren und ihr Fell so schön
glänzte. Niemand dachte deshalb daran, Kleinmute zu schlachten. Wenn Groß- und
Mammute leergelaufen waren und das Blut nur noch in Lachen auf dem Dorfplatz
stand, kamen die Kleinmute angetrippelt und leckten ein wenig davon. Da lachten
selbst hartgesottene Krieger.
Marlene musste auch lachen, aber
sie hörte sofort damit auf, denn die dicke Berta neben ihr piekste sie mit
einem strengen Blick.
Mittlerweile war auch schon der
Segen zu hören. Bosswitz hob schon die Arme, die langen schwarzen Talarärmel
schwankten in der Luft „Gehet hin in Frieden!“. Das hieß endlich: Wir können
gehen. Das war der Abpfiff beim Fußballspiel nach 90 Minuten.
Jetzt gab’s dann paniertes
Schnitzel mit Pommes, rote Früchtegrütze und nachmittags durfte sie ins
Freibad. Das Wetter war toll und Dieter und Ingo waren sicher auch im Bad.
Ach ja, Bosswitz muss noch das Kärtchen unterschreiben.
Foto Copyright @ Fürtherin
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen