Mittwoch, 12. Juni 2013

Ein Ende

Es gab kein Entrinnen. Jeder Gottesdienstbesuch musste im Jahr der Konfirmationszeit in einem Karteikärtchen  dokumentiert werden. Es war blassrosa und wies alle Sonntage des Kirchenjahres in fein säuberlicher Rubrik auf. Marlene hatte Schwierigkeiten, deren komplizierte Namen überhaupt zu entziffern.  Einer hieß tatsächlich Estomihi, ein anderer Laetare und die vielen Sonntage nach Trinitatis, die wollten ja überhaupt nicht aufhören. Nur den 1. bis 4. Advent kannte Marlene. Aber das war ja noch lange hin. Oh, mein Gott! Hinter jedem Sonntag war ein Kästchen platziert für die Unterschrift des verantwortlichen Pastors. Es gab kein Entrinnen. Bei Krankheit des Konfirmanden mussten die Eltern eine Entschuldigung beibringen. Marlene wusste, ihre Eltern würden einen Schummelversuch schon im Keim ersticken. „Und in den Ferien, wenn ich verreise?“
„Du findest überall eine protestantisch – lutherische Kirche. Von einer Konfirmandin erwarte ich Pflichtgefühl und Treue zu unserer Kirche!“, sagte Pastor Bosswitz in dem ihm eigenen markanten Tonfall, der keinen Einwand zuließ.
Auf der Vorderseite des Kontrollkärtchens war ein Lamm abgebildet. Es lag am Boden und hielt trotzdem noch eine Fahne mit Kreuz hoch.
„Und wenn ich es verliere? Wer glaubt mir dann ohne das Kärtchen?“, fragte sich Marlene.

Der Gottesdienst näherte sich der Predigt. Marlene saß zwischen ihren Eltern und der dicken Berta. Sie durfte die dicke Berta so nennen, weil ihre Eltern das auch ganz selbstverständlich taten. Dort zu sitzen war schlimm für Marlene, weil die Eltern links von ihr immer anmahnten, dass sie kräftig und überzeugend mitsingen sollte, nicht nur so zimperlich rumpiepsen. Und rechts roch die dicke Berta aus ihrem schweren braunen Mantel heraus nach Mottenkugeln. Außerdem sang sie sehr laut, so laut wie falsch. Pastor Bosswitz stand mittlerweile auf der Kanzel. Jetzt würde er loslegen und lange, lange reden. Marlene sackte leicht zusammen. Was tun? Zu Reinhard rüberschauen, was für ein süßer Lockenkopf, aber an seinem Hals drückte sich ein knallroter Pickel aus dem Hemdkragen. Reinhard bekam in der letzten Zeit immer mehr Pickel. Schade. Hinter ihm feixte Marlene der freche Ingo zu, kleine witzige Faxen machte er und beim letzten Konfiunterricht hatte er zweimal Teufel gesagt, wo doch Jesus die Antwort gewesen wäre. War der wirklich so frech oder vielleicht nur dumm, auch wenn er aus Berlin kam, wo alle Schnodderschnauzen hatten?
Herr Pfarrer Bosswitz erzählte in seiner Predigt etwas über den Kleinmut, der die Menschen plage, und wurde dabei immer lauter. Seine Augen riss er auf, sein Mund wurde breiter, ein tiefer Schlund, aus dem der Kleinmut hochgeschleudert wurde und das große Leid, das wir nur durch Gottvertrauen ertragen können und deshalb ist der Kleinmut etwas Böses, er erhöht unser Leiden nur, Kleinmut ist das Verzagen Gott gegenüber und das hat unser Herr nicht verdient, denn er weiß, warum wir leiden müssen. Er allein! Bosswitz rief das alles schnarrend in den Raum und klopfte dabei rhythmisch mit den Fingern auf die Holzkanten der Kanzel.
Soweit hatte Marlene die Sache schon verstanden, das Schlimme war nur, dass sie bei Kleinmut nicht an Sünde oder Verfehlung dachte, sondern sich ein Kleinmut als ein putziges kleines Tierchen mit Fell vorstellte. Das Kleinmut, so dachte Marlene unerschrocken weiter,  war eine natürliche Verwandte des Großmuts und am Ende der Kette stand das Mammut. Marlene versammelte die ganze Tierfamilie der Muts um sich und überstand die Predigt auf diese Weise recht gut. Aber das ganze Abendmahl musste noch ausgehalten werden. Ätzend langweilig war es, bis Bosswitz immer die ganze Geschichte heruntergeleiert hatte, in der Jesus seinen Leib und sein Blut als Essen und Trinken anbot. Das war weder Sprechen noch Singen. Es klang immer, als wollte Bosswitz was und könne aber nicht. Erst das schwungvolle Lied von den Töchtern Zions auf den Zinnen von Jerusalem würde nachher wieder etwas Luft schaffen nach diesem merkwürdig schmierigen Sprechsingen.
Aber das mit dem Blut! Marlene schauderte jedes Mal, wenn der Pastor die Leute aus dem Kelch trinken ließ. Das war ja dann eigentlich Blut. Wenn der Bosswitz selbst trank, hing seine große Nase über dem Kelch und aus der Nase wuchsen Haare raus. Der Blutvortrinker. Wenn früher Großmuts oder Mammuts gefangen und dann geschlachtet wurden, schoss das Blut dieser mächtigen Tiere wie in Fontänen aus ihnen heraus. Die schönen Stammesjünglinge badeten nackt in dem Blutsturz, weil das unverwundbar machte. Eij, diese Jungs waren wirklich schön, sie hatten keine Pickel. Das Blut lief in hübschen Rinnsalen an ihren braunen muskulösen Gliedern herunter, wow. Und die Frauen stellten sich mit Schüsseln unter die Fontänen und fingen das Blut auf. Später machten sie dann Blutsuppe daraus. Eine Wahnsinnsaction war das, wenn man die Mute erlegt hatte. Die Kleinmute aber wurden wie Haustiere behandelt, Schmusetierchen, weil sie so süß waren und ihr Fell so schön glänzte. Niemand dachte deshalb daran, Kleinmute zu schlachten. Wenn Groß- und Mammute leergelaufen waren und das Blut nur noch in Lachen auf dem Dorfplatz stand, kamen die Kleinmute angetrippelt und leckten ein wenig davon. Da lachten selbst hartgesottene Krieger.
Marlene musste auch lachen, aber sie hörte sofort damit auf, denn die dicke Berta neben ihr piekste sie mit einem strengen Blick.
Mittlerweile war auch schon der Segen zu hören. Bosswitz hob schon die Arme, die langen schwarzen Talarärmel schwankten in der Luft „Gehet hin in Frieden!“. Das hieß endlich: Wir können gehen. Das war der Abpfiff beim Fußballspiel nach 90 Minuten.
Jetzt gab’s dann paniertes Schnitzel mit Pommes, rote Früchtegrütze und nachmittags durfte sie ins Freibad. Das Wetter war toll und Dieter und Ingo waren sicher auch im Bad. 
Ach ja, Bosswitz muss noch das Kärtchen unterschreiben.  

von Wilfried Christel


Foto Copyright @ Fürtherin

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