Dienstag, 18. Juni 2013

Der Fichtenwald

Er zog die Tür hinter sich zu, und als er das Klicken des Schlosses hörte, erinnerte er sich, keinen Schlüssel eingesteckt zu haben. Es nieselte noch leicht. Luft! Etwas ziellos wandte er sich nach links. Rechts stand der Opel, stark verbeult, das Ende der Stoßstange stak in der schlammigen Pfütze davor. Auch so etwas!
Er vermied es hinzusehen und schritt fast automatisch aus, dem Weg folgend. Regentropfen fielen auf seine Brille. Putz sie endlich einmal, würde Hilde sagen. Kein Wunder, dass du nie was siehst. Er hatte, statt die Herdplatte zurück auf eins zu stellen, auf sechs geschaltet. Die Spiegeleier waren schwarz gewesen, und die Küche hatte so geraucht, dass auch die Stunde lüften den Gestank nicht ganz vertreiben konnte.
Er zog die Luft in tiefen Zügen ein, genoss die Stille, genoss den Geruch von nassem Holz und Pilzen, genoss sogar den Regen, der von den Zweigen troff und in seinen Kragen tropfte. Sekundenlang starrte er die feuchten Schlieren auf seiner Regenjacke an.
Sie hatte ihm Butterbrote hingestellt, wortlos, mit klappernden Tellern, hatte den Raum ebenso wortlos verlassen, ein wenig langsam und schwerfällig, wie es ihre Art war. Er hatte die grauen Strähnen ihres Haares angestarrt und die Laufmasche an ihrem linken Strumpf, die als kleine, blasse Rinne vom Rocksaum zur Ferse führte, hatte dann den Blick gesengt. Von oben wummerten Bässe. Jörg! Am Morgen war die Polizei da gewesen, zwei Beamte vom Rauschgiftdezernat, und hatten nicht nur die  Zimmer des Sohnes durchsucht, sondern auch die Nebenräume des Hauses, hatten seine geliebte kleine Werkstatt auf den Kopf gestellt, ohne zu sagen, was sie suchten. Danach wummerten die Bässe noch lauter.
Er folgte dem Weg aus dem lichten Buchenwald hinaus ins offene Tal. Letzte Regentropfen fielen aus den Wolken, die bleigrau, einem Gebirge gleich, über dem Grund hingen und die Wipfel des Fichtenschlags streiften, der als dunkelgrüne, leise rauschende Wand vor ihm aufragte. Die Wolkendecke brach auf und ein schmaler Lichtstreif fiel in das Dunkel, beleuchtete für einen Moment den nadelbedeckten, moosigen Boden unter den Bäumen. Eine Amsel sang über ihm. Er zögerte kurz, wandte sich ab und folgte dem Weg weiter über die Wiesen, vorbei an dem Jägerstand, leicht aufwärts. Das Licht hatte sich jetzt verändert, die Wolken trieben in wechselnden Formationen. Eine Fratze schien ihn zu verhöhnen, eine weiße Gestalt winkte ihm, bevor sie zum Hundekopf wurde.
Jörg hatte den Wagen, als der Unfall passierte, ohne seine Erlaubnis gefahren. Angeblich war er dem Nachbarshund, dieser widerlichen Töle, die ihre Haufen immer vor sein Gartentor setzte, ausgewichen. Die Versicherung verweigerte nun die Begleichung des Schadens, da der Sohn nicht hätte fahren dürfen. „Nur, weil du zu geizig warst, ihn in die Police zu nehmen“, hatte Hilde gesagt. „Du weißt doch, wie der Junge Autos liebt“. Von oben hatten Bässe gewummert, laut wie Motoren.
Er beobachtete das Licht- und Schattenspiel im Gras, hob den Blick nach Osten, wo Nebel aus dem Grund aufzusteigen begannen. Als zarte Schleier hoben sie sich vor dem dunklen Hintergrund der Bäume. Er lauschte dem Abendgesang der Vögel, sog ihn in sich auf. Ganz oben stand er jetzt und mit weitem Atem genoss er den freien Blick, bevor er abwärts zu gehen begann, dem Waldrand zu, wo ihn die Fichten mit ihrem Rauschen begrüßten, dicht an dicht, noch dunkel vom Regen mit glitzernden Wassertropfen auf den Nadeln, feierlich wie ein Spalier ihm zu Ehren. Er zögerte nicht mehr, sondern trat – ohne einen Blick zurück zu tun – mit einem leichten Lächeln durch die schmale Öffnung, welche die tiefen Äste ihm gewährten, und die sich hinter ihm , ganz leise knackend, wieder schloss.
Am 25. November 2012 schloss die Kriminalpolizei Bayreuth die Akte Anton B. unerledigt ab.

08.06.13

Sonja Meier

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