Montag, 10. Juni 2013

Nonnenbunker


Ich stehe neben der hölzernen Schulbank stramm. Meine rechte Hand liegt ordentlich auf der abgeschrägten Tischplatte. Nur mein Zeigefinger fährt in klitzekleinen Kreisen über das eingeritzte Herz.
Fräulein Pritorious steht hinter ihrem Pult und tippt immer wieder auf das Heft vor ihr. Mein Heft. Eine sechs. In Englisch. Wieder.
Über und hinter ihr an der Wand hängt am hölzernen Kreuz ihr toter Jesus. Ihr Mund geht auf und zu. Worte mit Spucke angereichert werden aus dem Vulkanschlund heraus gespeiht. Sie fallen vor der ersten Schulbank ins Nichts. Ich bin mitten drin, im Stummfilm.
Eine dunkelblond, melierte Haarsträhne löst sich aus ihrem Dutt. Unverschämt. Energisch streicht sie sich mit der Linken die Knopfleiste ihrer Twinset Jacke über ihre flache Brust gerade. Ob sie, wie die Nonnen hier im Mädchengymnasium, ihre Brüste platt an den Körper bindet?
Ein Knall! Mit der flachen Hand hat sie auf mein Heft geschlagen.  Ihre roten Bäckchen vibrieren, als wollten auch sie ausbrechen. Mit einem energischen Ruck wird die vorwitzige Haarsträhne lang und glatt gezurrt und an Ort und Stelle wieder in den Haarclips eingeklemmt.

Wie in Zeitlupe bücke ich mich herunter, löse meinen Ranzen vom Haken, packe Buch und Stifte hinein, schultere ihn, schlängle mich durch die Reihen und  im hohen Bogen am Pult vorbei. Nie wieder betrete ich diesen Nonnenbunker.

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