Sie sah ihn sofort,
als sie einstieg. Er stand fast immer an derselben Stelle, im Mittelteil des
Busses am Fenster, auch dann, wenn Plätze frei waren. Er blickte auf die Straße
hinaus, abwesend, ohne die Einsteigenden zu beachten, leicht an die Wand gelehnt,
in der linken Hand eine flache Aktentasche. Sie stellte sich neben ihn, um den
nachdrängenden Fahrgästen Platz zu machen. Es begann eng zu werden und heiß,
denn trotz der frühen Stunde stach die Sonne bereits. Sie war froh, morgens das
Haar hochgesteckt und das dünne Seidenkleid gewählt zu haben, das eigentliche
ein wenig zu freizügig für das Büro war mit seinen Seitenschlitzen und dem
tiefen Dekolleté, und später würde sie die Wahl auch bereuen, wenn sie die
anzüglichen Blicke der jungen Kollegen aushalten und ihr Gealber und Getuschel
ignorieren musste, besonders das von Alex, der glaubte, jede Frau schmelze
unter seinem Blick, der sich erdreistete, ihr nachzupfeifen. Und sie würde sich
darüber ärgern, dass ihr die nötige Überlegenheit fehlte, um solche
Taktlosigkeiten zu übergehen und darüber, dass es ihr nicht gelingen wollte,
ihre Verlegenheit zu verbergen.
Aber jetzt, hier im
Bus, war sie froh über die Wahl und genoss das leise Rascheln des kühlen
Stoffes auf ihrer Haut. Das Gedränge nahm zu, sie wich vor dem Rucksack eines
Schülers zurück, vor den rüschenverbrämten Fleischmassen einer Mittfünfzigerin
und dem Achselschweiß aller und fühlte dabei die Schweißtropfen auf der eigenen
Nase und zwischen ihren Brüsten. Alle schwitzten, nur ihn schien die Hitze
nicht zu berühren. Kühl und unbeteiligt stand er da, das weiße Leinenhemd noch
unzerknittert, und sie nahm einen schwachen, zitronigen Duft wahr. Sie konzentrierte sich ganz darauf und auf die
Berührung ihres Armes mit dem Leinenstoff. Die Menge drängte sie noch dichter
an ihn, Körper an Körper. Sie spürte eine leichte Bewegung, er wandte sich vom
Fenster zur Seite und sie glaubte seine Blicke auf ihrem Rücken zu fühlen, wie
Hände, die ihn erkunden, die abwärts wandern vom Nacken, tastend über die Schulterblätter
streifen bis hinab zur Hüfte, um dort liegen zu bleiben, so leicht wie der
Stoff ihres Kleides. Sie genoss die aufsteigende Erregung, dieses heiße,
brennende Gefühl, das, wie ihr mit einer gewissen trägen Verwunderung bewusst
wurde, sie nicht stärker schwitzen ließ, sondern sie auf seltsame Weise von der
äußeren Hitze, ja von allen anderen Menschen separierte, als gäbe es kein Außen
mehr.
Das scharfe Bremsen
des Busses presste sie gegen die Haltestange und sie fühlte durch das dünne
Seidenkleid hindurch die Kühle des Metalls an Schenkeln und Bauch. Sie öffnete
die Augen. Die Menschen drängten sich an ihr vorbei auf dem Weg zur Tür; auch
er stieg hier immer aus. Sie wich einen kleinen Schritt zurück, um ihn vorbei
zu lassen und kurz trafen sich ihre Blicke, und sie glaubte ein Wissen in
diesem Blick zu sehen. Um seinen Mund spielte ein Lächeln. Sie sah ihm nach,
bis er in der Menge draußen verschwunden war.
Als sie abends nach
Hause kam, kickte sie noch im Gehen die Schuhe von den Füßen und zog sich das
verschwitzte, zerknitterte Kleid über den Kopf, löste ihr Haar und warf dann
das Kleid achtlos in die Wäschetruhe. Den kleinen Zettel, der sich in der
aufgesetzten Seitentasche befand und auf den in krakeliger, rasch hingeworfener
Handschrift ein Vorname und eine Telefonnummer notiert waren, bemerkte sie
nicht. Als sie ihn Tage später beim Bügeln des Kleides fand, war die Schrift
ausgewaschen und unleserlich geworden. Sie zuckte die Schultern und warf ihn
weg.
23.03.14
Sonja Meier