Montag, 31. März 2014

Liebe


Sie sah ihn sofort, als sie einstieg. Er stand fast immer an derselben Stelle, im Mittelteil des Busses am Fenster, auch dann, wenn Plätze frei waren. Er blickte auf die Straße hinaus, abwesend, ohne die Einsteigenden zu beachten, leicht an die Wand gelehnt, in der linken Hand eine flache Aktentasche. Sie stellte sich neben ihn, um den nachdrängenden Fahrgästen Platz zu machen. Es begann eng zu werden und heiß, denn trotz der frühen Stunde stach die Sonne bereits. Sie war froh, morgens das Haar hochgesteckt und das dünne Seidenkleid gewählt zu haben, das eigentliche ein wenig zu freizügig für das Büro war mit seinen Seitenschlitzen und dem tiefen Dekolleté, und später würde sie die Wahl auch bereuen, wenn sie die anzüglichen Blicke der jungen Kollegen aushalten und ihr Gealber und Getuschel ignorieren musste, besonders das von Alex, der glaubte, jede Frau schmelze unter seinem Blick, der sich erdreistete, ihr nachzupfeifen. Und sie würde sich darüber ärgern, dass ihr die nötige Überlegenheit fehlte, um solche Taktlosigkeiten zu übergehen und darüber, dass es ihr nicht gelingen wollte, ihre Verlegenheit zu verbergen.
Aber jetzt, hier im Bus, war sie froh über die Wahl und genoss das leise Rascheln des kühlen Stoffes auf ihrer Haut. Das Gedränge nahm zu, sie wich vor dem Rucksack eines Schülers zurück, vor den rüschenverbrämten Fleischmassen einer Mittfünfzigerin und dem Achselschweiß aller und fühlte dabei die Schweißtropfen auf der eigenen Nase und zwischen ihren Brüsten. Alle schwitzten, nur ihn schien die Hitze nicht zu berühren. Kühl und unbeteiligt stand er da, das weiße Leinenhemd noch unzerknittert, und sie nahm einen schwachen, zitronigen Duft wahr. Sie  konzentrierte sich ganz darauf und auf die Berührung ihres Armes mit dem Leinenstoff. Die Menge drängte sie noch dichter an ihn, Körper an Körper. Sie spürte eine leichte Bewegung, er wandte sich vom Fenster zur Seite und sie glaubte seine Blicke auf ihrem Rücken zu fühlen, wie Hände, die ihn erkunden, die abwärts wandern vom Nacken, tastend über die Schulterblätter streifen bis hinab zur Hüfte, um dort liegen zu bleiben, so leicht wie der Stoff ihres Kleides. Sie genoss die aufsteigende Erregung, dieses heiße, brennende Gefühl, das, wie ihr mit einer gewissen trägen Verwunderung bewusst wurde, sie nicht stärker schwitzen ließ, sondern sie auf seltsame Weise von der äußeren Hitze, ja von allen anderen Menschen separierte, als gäbe es kein Außen mehr.
Das scharfe Bremsen des Busses presste sie gegen die Haltestange und sie fühlte durch das dünne Seidenkleid hindurch die Kühle des Metalls an Schenkeln und Bauch. Sie öffnete die Augen. Die Menschen drängten sich an ihr vorbei auf dem Weg zur Tür; auch er stieg hier immer aus. Sie wich einen kleinen Schritt zurück, um ihn vorbei zu lassen und kurz trafen sich ihre Blicke, und sie glaubte ein Wissen in diesem Blick zu sehen. Um seinen Mund spielte ein Lächeln. Sie sah ihm nach, bis er in der Menge draußen verschwunden war.
Als sie abends nach Hause kam, kickte sie noch im Gehen die Schuhe von den Füßen und zog sich das verschwitzte, zerknitterte Kleid über den Kopf, löste ihr Haar und warf dann das Kleid achtlos in die Wäschetruhe. Den kleinen Zettel, der sich in der aufgesetzten Seitentasche befand und auf den in krakeliger, rasch hingeworfener Handschrift ein Vorname und eine Telefonnummer notiert waren, bemerkte sie nicht. Als sie ihn Tage später beim Bügeln des Kleides fand, war die Schrift ausgewaschen und unleserlich geworden. Sie zuckte die Schultern und warf ihn weg.

23.03.14
Sonja Meier