Donnerstag, 24. April 2014

Stufen des Abschieds

Frühling
Das einzige Geräusch, das die Stille bricht, ist der regelmäßig puffende Ton des Sauerstoffapparats in der Ecke. Der alte Mann stützt sich mit seinen Handflächen auf das Sofa und versucht sich hochzurappeln. Immer wieder sackt er zurück. Dann greift er zu seinem Stock, umfasst mit beiden Händen den Knauf und zieht sich daran hoch. Mühsam schlurft er bis zum Fußende des Krankenbettes, dreht sich mit kleinen Trippelschritten um und blickt auf seine Frau, die beatmet wird.
Sie hat die Augen geschlossen. Lang steht er da und es fällt ihm nichts anderes ein als immer wieder „ach ja“ , „ja, ja“ zu sagen. Dann  öffnet sie ihre Augen und Mann und Frau blicken sich an. Sie sieht, wie er in seiner Hilflosigkeit dasteht und kann ihm nicht mehr helfen. „Geh weg!“ sagt sie, „sonst kann ich nicht sterben.“
Ich führe den Mann zurück zu seinem Platz auf dem Sofa. Sein Kopf sinkt auf seine Brust. Er wartet ergeben bis …                                                                                         
Eine Woche später stirbt die Frau mit einem Seufzer der Erleichterung. Er schaut zu wie der Sarg hereingetragen wird. Sie legen die Frau in den Sarg und schließen den Deckel. Er weint bitterlich.

Sommer
In seinem grauen Schlafanzug sitzt der alte Mann auf der Eckbank am Küchentisch. Genüsslich beißt er in einen mit Butter und Honig bestrichenen Toast. Als er fertig ist, schaut er erst mich, dann die polnische Pflegerin Anna an und meint:
„Ich hab so einen Schmarrn geträumt – ihr seid alle gestorben“ und halb empört, halb entschuldigend fügt er hinzu: „Das ist so ein unverschämter Schmarrn. So was kann man doch nicht träumen!“ Nach einer Pause fällt ihm noch etwas ein: „Wenn ich wieder so was träume, stehe ich gleich auf, dass der Traum aufhört“. Dabei schaut er mich an und ich fühle mich aufgefordert etwas zu sagen. Ich spinne seinen Gedanken weiter: „Manchmal kann man das, was man träumt, einfach nicht verstehen. Das ist bei mir auch so.“
Belustigt schaut er zu mir und meint: „Du wirst mir den Schmarrn untergeschoben haben.“ Ich staune über seinen pfiffigen Versuch Logik in die Sache zu bringen. Und wir lachen zu dritt.

Herbst
Der alte Mann lebt jetzt im Altersheim. Ich besuche ihn zweimal in der Woche.
Er beschwert sich: „Meine Frau besucht mich nicht!“  Und ich antworte logisch: „Deine Frau kann Dich nicht besuchen. Sie ist doch gestorben.“  Er schaut mich stirnrunzelnd an,  versteht nicht, was ich sage.
Als er wieder die fehlenden Besuche seiner Frau anklagt, verspreche ich:
 „Wenn ich sie sehe, dann sag ich ihr, dass Du schon auf sie wartest. Sie soll dich ganz schnell besuchen kommen.“  Er lächelt. Die Antwort stellt ihn zufrieden.

Winter
Eine kleine, zierliche Seniorin, die ständig mit dem Rollstuhl unterwegs ist, tätschelt zärtlich die Backe des alten Mannes. Der Alte zeigt keine Regung. Da er aber ruhig bleibt und die Backe nicht entzieht, nehme ich an es gefällt ihm. Zum Abschied wirft sie ihm noch einen schmachtenden Blick zu. Mir erklärt sie: „Ich mag ihn doch so gern!“ Dann saust sie mit ihrem Rollstuhl davon.

Eine andere stumm gewordene Seniorin mit rotumränderten Augen und zum Boden geneigtem Kopf, hängt sich jeweils hinten an den Rollstuhl des alten Mannes an, wenn er seine Runden um das Karree eines Innenhofes dreht.  Er zieht sie dann im Schlepptau hinter sich her. Wenn sie versehentlich loslässt und zurückbleibt, wartet er, bis sie aufgeholt und sich erneut an seinen Rollstuhl angeschlossen hat.


Frühling
Der alte Mann redet kaum noch.  Wenn er etwas sagen möchte, bewegt er - mit angestrengter Mine - die die Lippen - lautlos. Doch die Worte sind nicht mehr auffindbar und der Gedankengänge haben sich - kaum gedacht - gleich wieder verabschiedet.
Als die Sonne zum ersten mal wieder warm scheint, fahre ich ihn im Park spazieren. Dann setzte ich mich neben seinem Rollstuhl auf die Bank. An diesem Tag geht es dem alten Mann schlecht. Seine Arme zucken und er kann sie nicht ruhig halten. So lege ich meine Hände auf seine Unterarme, bis das Zucken vorbei ist.
Zu meinem Erstaunen fängt er an zu reden: „Das ist doch kein Leben, wenn man nichts mehr tun kann.“ und nach kurzer Pause: “Ich möchte sterben“.
Mit einem „das kann ich verstehen“ pflichte ich ihm bei. Er fragt: „Und wie macht man Sterben?“
Ich erzähle Ihm ausführlich vom Sterben seiner Frau und bin sicher, dass er nichts oder nicht viel verstehen wird.  Die Beschreibung beende ich mit einem: „Du wirst die Art, wie Du sterben kannst, finden. Da bin ich ganz sicher.“

Jetzt wirkt der Alte ruhig. Er hält sein entspanntes Gesicht der Sonne entgegen und stellt fest: “Die Sonne ist warm.“ Und nach einer Pause: „Wir alten zwei Rentner sitzen in der Sonne.“
Dann versinkt er wieder in sein endloses Schweigen.

Elisabeth Gollwitzer  5. April 2014 (Lesung Kulturladen Ziegelstein)             


Montag, 7. April 2014

Wie wir waren

Eine Fotografie zeigt ein junges Paar nach dem Krieg,
einen Amerikaner und eine Deutsche.
Sie - 'apart' hätte man zu ihrer Zeit gesagt,
begegnet den Härten und Provisorien dieser Zeit
mit leichter Hand, höre ich und dass
er - ein Junge vom Land, ein Sohn von fünfen,
die der Krieg nach Europa spülte, 

ein scheuer Columbus gewesen sei.

Eine typische Liebesgeschichte dieser Zeit.
Stand auch in der Zeitung.
Hey Leute, der Krieg ist vorbei.
So sieht die Zukunft aus.
Uns kann keener!

Unversehrt von der Zukunft,
ahnungslos glücklich,
tanzen sie den Beginn.


Christel Rösener