Dienstag, 23. Juni 2015

DAS AUTO

Der alte Mann sitzt am Küchentisch. Gerade hat seine Tochter den Raum verlassen. Sie hat nichts gesagt, doch er weiß, dass sie sich ärgert. Das würde sie ihm nie direkt sagen, in der Türkei werden Vater und Mutter noch geehrt und respektiert.
Doch jetzt ist sie einfach hingegangen und hat sein Auto verkauft! Sie nannte es „Sardinenbüchse“ und „Sicherheitsrisiko“. Viele Jahre ist er mit diesem Auto gefahren und nie ist etwas passiert – bis auf die kleine Delle in der Seitentür von neulich, als er im Parkhaus zu knapp um die Ecke gefahren ist. Er ist immer ein vorsichtiger Fahrer gewesen, was soll man auch rasen, das macht einen nur krank.
Ach, die Ausflüge zum Strand, der Kofferraum voll mit Picknickdecken, Sonnenschirm und köstlichem Essen, die beiden Kinder turnten aufgeregt auf dem Rücksitz herum, seine Frau summte vor sich hin und streckte die Hand aus dem Fenster. Am Parkplatz vor dem Strand traf man sich oft mit anderen Verwandten, sein Bruder und sein Schwager brachten ebenfalls ihre Familie mit. Die Frauen bildeten sofort eine Karawane zum Strand hinunter, bedeckten viele Quadratmeter mit Matten, Handtüchern und Decken, stellten Schirme und Klappstühle auf und richteten in der Mitte ein wahres Festmahl her. Die Kinder planschten schon kreischend im Wasser, sie hatten die Badesachen schon zu Hause angezogen.
Währenddessen waren die Männer noch oben geblieben, hatten zugesehen und ab und zu auch Fachgespräche über Autos und Motoren geführt. Sein Schwager fuhr eine regelrechte Schrottkiste mit hängendem Auspuff, die oft erst nach mehreren Versuchen ansprang. Dagegen pflegte sein Bruder seinen alten Mercedes wie ein krankes Kind. Sein eigener Toyota hatte ihm nie Scherereien bereitet – er ließ ihn warten, wenn es nötig war, aber er wienerte auch nicht wie ein Besessener daran herum.
Wenn sie am Abend wieder zu Hause ankamen, war der Kofferraum voll Sand. Zwar zückte seine Frau nach dem Auspacken sofort einen Handfeger, doch alles bekam sie doch nicht weg. Wahrscheinlich steckten noch von jedem einzelnen ihrer Ausflüge Sandkörner in den Ritzen – die konnte ja jetzt der neue Besitzer durch die Gegend fahren.
Ach nein, seine Tochter hatte ja erwähnt, dass der Wagen an einen Schrotthändler ging, es würde also niemand mehr in der offenen Autotür stehen und noch einen letzten Blick übers Meer werfen.

von Pia Winkler

SUMMER TIME

Irgendwann musste Schluss sein mit den Balkonblumen. Allein die Rein- und Rausschlepperei der Geranien im Herbst und Frühling. Sie müsste sich endlich einen Helfer organisieren. Wozu noch der Aufwand, wenn sie doch schon allein die Sonne nicht mehr vertrug und deshalb immer seltener draußen saß. Und der Blick in den Hinterhof war ja nun wirklich nicht berauschend. Die Gespräche auf den vielen winzigen Balkonen rings um, über und unter dem ihrigen waren es auch selten. Also, was soll’s, fragte sich Elise Bechstein, es reicht, wenn ich mit 62 auf dem Balkon den gelben Sack und einen Kasten Bier stehen habe, das ist schon in Ordnung!
Einige Wochen später stand dann doch ein Begonienkasten bei der Bechstein auf dem Balkon. Die Nachbarin, Wella Trifels, 84 und noch ganz rege und interessiert, wunderte sich über die Tatsache, dass nun wieder Blumenschmuck prangte und wie oft Elise in dem Kasten herumkratzte und –zupfte. Ein Blick auf den Balkon links unten klärte sie jedoch auf.
„Ein so ein schöner Bengel, der da eingezogen ist, gell? Und ganz allaa! Willst dich hinter deine Begonien verstecken beim Nunderschaun? Geh, Elis, und des in deim Alter!“
Erst tat die Bechstein Elise so, als ginge es ihr tatsächlich um die Blumen, dann lachte sie aber die Nachbarin offen an und rief: „ Ja, vielleicht geht’s wirklich nur um den schönen Ausblick. Mei, warum ned?“
Je mehr es Sommer wurde, desto öfter saß sie jetzt wieder draußen, las Zeitung, vesperte und trank ihr Kellerbier, döste und sonnte sich sogar. Der junge Mann unten sah wirklich ausnehmend attraktiv aus; die Proportionen stimmten,  eine glatte Haut, die braun in der Sonne schimmerte, volle dunkle Haarpracht, aber nur auf dem Kopf, nicht am Körper, muskulös, aber keine harten oder kantigen Formen, auch nichts vom Bodystudio Aufgeblasenes, weiche, große Augen. Je mehr er sich an heißen Tagen entblätterte, um so mehr sah sich Elise bestätigt: Sie hatte vergessen, wie schön ein Mann sein konnte. Sie spürte, dass es zwischen ihm und ihr zu einer Art Sirren kam, wenn sie hinschaute, und dass so ein Sirren sie kribblig machen konnte, aber im angenehmen Sinne, so als würde ein geheimer Akku in ihr aufgeladen. Auf diese Weise erstarkt hatte sie Lust, sich zu bewegen und irgendetwas zu unternehmen. Manchmal dachte sie, wenn sie den immer noch Namenlosen auf dem Balkon des zweiten Stocks betrachtete, an ihren Edwin, der jetzt schon drei Jahre tot war. Den wollte sie nie lange anschauen, höchstens ‘mal, um seine Kleidung zu richten, Schuppen wegstreichen, Kragenknöpfe  schließen oder so etwas. Edwin war Finanzbeamter und eine graue Maus, eine mit O-Beinen und ohne Fellhaare am Kopf, am ganzen Körper schimmerte die blassrosa Haut durch die Härchen, am schlimmsten am Bauch, der wie ein kleiner Ballon heraussterzte, als sei die Maus trächtig. Nicht ungerecht werden! Edwin war ein treuer Partner, ein guter Mensch. Aber vom Körper her .......... na ja, halt der Edwin. Bei dem Jungmann war, wenn er in der Badehose da saß oder lag, sogar der Blick auf’s Untenrum, wie Elise das nannte, angenehm, obwohl sie bei Männern, also nicht nur bei ihrem Edwin, das Untenrumgebaumel eigentlich immer lächerlich fand.
Wahrscheinlich war der Neuzugezogene ein Student; er las viel und oft, tippte auf seinem Laptop herum und erschien nur zu regelmäßig festen Zeiten auf dem Balkon. Zuverlässig und fleißig wahrscheinlich, aber sehr schweigsam. Mehr als das Grüßen war nicht drin. Freunde oder gar eine Freundin tauchten nicht auf. Elise Bechstein überlegte sich Fragen, mit denen vielleicht ein Gespräch in Gang kommen könnte, aber „Immer allein?“ oder „Schon wieder an der Arbeit? Sind Sie eigentlich Student?“ kamen ihr so läppisch vor, dass auch sie stumm blieb. Ab und an nickte sie ihrem Gruß ein paarmal nach und es kam ihr vor, als schwappten Wellen des Wohlwollens von ihr zu ihm hinunter. Einmal, als der junge Mann sich mit Sonnenschutzmittel einrieb, wollte sie rufen: „Und wer versorgt den Rücken? – Warten Sie, ich komme runter!“ Wie gern und wie zart hätte sie ihm den Rücken massiert, Kaffee gekocht, Essen bereitet und die frische Wäsche zurechtgelegt.
Nur einmal hat der Schöne, Elise nannte ihn nämlich „mein Schöner“, etwas gesagt, nämlich 
„Schönes Wetter heute, da kann man draußen sitzen.“ Ach ja, und noch einmal hat er etwas gesagt. Er rief „Scheiße!“, als sein Liegestuhl in sich zusammenknackte. Elise rief das eine Mal „Ja, sicherlich!“ und bei der „Scheiße“ nur ganz leise „Oh!“.
Im Herbst zog der schöne junge Mann weg. Er hatte sich nicht verabschiedet. Vielleicht, dachte Elise, hat er hier nur in Ruhe an einer Prüfungsarbeit gesessen oder eine Sommervorlesung besucht.
Die Begonien waren eh‘ hinüber, schnell abgeräumt und entsorgt.
Dann war wieder alles wie sonst.
Elise Bechstein wartete höchstens noch auf eine bissige Bemerkung von der Trifels. Aber die kam nicht. Vielleicht lag die Alte im Krankenhaus.
Aber im September und Oktober, vielleicht sogar noch ein paar Tage im November passierte doch noch etwas.
Elise spürte im Bett hinter sich einen Körper, geschmeidige warme Haut, die nach Sommer und Öl roch, kräftige Arme umschlangen ihre Brust oder ihre Beine und sie schob ihren Körper zur Teelöffelchenhaltung zurecht, damit sie möglichst viel von dem Schönen mitbekam.


WILFRIED CHRISTEL