Es ging ihr gut, es ging ihr
richtig gut. Sie hatte den ersehnten Ruhestand erreicht, ihrem Mann die
Hausarbeit – nun ja – zumindest näher gebracht, mit ihm die geliebte Wohnung
endlich abbezahlt und sogar kleine Rücklagen für die geplanten Reisen geschaffen.
So konnte Hannelore es einfach nicht fassen, dass sie, als sie an diesem Morgen
aufwachte, tot war.
Sie stand neben sich und starrte
auf ihren Körper, der bewegungslos im Ehebett neben dem ihres Mannes lag. Das
heißt, genau genommen stand sie nicht; sie saß auf dem Fensterbrett, aber es
war auch kein richtiges Sitzen. Es war vielmehr wie die Vorstellung oder wie
der Traum vom Sitzen, es war, als berühre sie den kühlen Marmor unter ihr gar
nicht. Sie fühlte ihn nicht und sie konnte sich nicht gegen ihn pressen. Sie
konnte auch ihren eigenen Arm nicht umschließen, das heißt, natürlich konnte
sie diese Bewegung machen, konnte sie greifen, aber sie hielt dann nichts in
Händen, soweit man überhaupt von Händen reden konnte, die irgendwie auch nicht
richtig greifbar waren. Überhaupt war nichts mehr wirklich greifbar. Nur zwei
Stellen auf ihrem Rücken, je auf den Rippenbögen gelegen, nahe der Wirbelsäule, schienen real zu sein.
Sie juckten ganz menschlich ein wenig. Aber Kratzen ging ja nicht. Es war
gewöhnungsbedürftig, wirklich!
Sie konzentrierte sich wieder auf
ihren Exkörper, der stämmig und nun steif dort lag, auf das Gesicht mit dem
Doppelkinn und den geöffneten, etwas vorstehenden blauen Augen, in denen noch
eine milde Überraschung stand. Auch der Mund stand ein wenig offen. Es war der
Gesichtsausdruck, den Heinz schon einmal mit dem Satz „…sonst stehen nur Ochsen
vor dem Scheunentor“ kommentiert hatte, was zu einer vorübergehenden Trübung
der Urlaubsstimmung - 1981 in Rimini –
geführt hatte, aber Heinz war ein guter Ehemann gewesen, ein wenig unbeholfen
zuweilen, aber zuverlässig und treu, und sie hatte sich schon in jungen Jahren
angewöhnt, ihm dergleichen nicht nachzutragen. Und mit dem Abstand, den sie nun
zu sich hatte, brachte sie ein gewisses Verständnis für seine damalige Bemerkung
auf.
Heinz grunzte leise und legte,
ohne aufzuwachen, seinen Arm über ihre Brust. Das Morgenkonzert der Amseln
hatte ihn früher oft geweckt. Sie lauschte dem Gesang – das lenkte vom Juckreiz
ab – und stellte fest, dass sie einzelne Abschnitte verstand. Sie hörte auch
die Kastanie, die ein freundliches „guten Morgen“ rauschte, und nahm das zarte
Entfalten der jungen Blätter als Wispern und Flüstern wahr. Eine Katze – es war
eine fremde – verharrte einen Moment unter dem Fenster und wünschte ihr eine
gute Reise.
„Kennst du den Weg?“ fragte
Hannelore, einer Eingebung folgend.
„Es gibt viele Wege. Ich kenne
einen Weg, aber sein Durchlass am Ende ist für dich zu schmal“. Die Katze warf
noch einen interessierten Blick auf die Amseln und trottete weiter. In einem
Anflug von menschlichem Missmut warf Hannelore einen Blick in den Spiegel, doch
der blieb leer. Sie seufzte. Sehr gewöhnungsbedürftig, wirklich.
Sie dachte daran Kaffee zu
kochen, aber es stellte sich kein Verlangen nach dem heißen, schwarzen Getränk
ein, das sie früher so genossen hatte. Wochentags war stets sie für das
Frühstück zuständig gewesen, am Wochenende Heinz. Er hatte es ritualisiert,
hatte frische Brötchen geholt, manchmal auch Hörnchen oder ein Stück Hefezopf
und sonntags immer Rührei mit Schinken zubereitet. Sie runzelte die Stirn –
jedenfalls dachte sie eine solche Muskelbewegung. Es war Samstag, ganz gewiss
Samstag, und Heinz verschlief heute. Er hatte nie einen Wecker gebraucht, aber
heute blieb sein Arm auf ihrer Brust, also auf der Brust ihres Exkörpers,
liegen und er schnarchte leise. Eigentlich müsste sie ihn jetzt wecken,
schließlich hatte er gerade den Tod seiner Frau verschlafen, aber zum einen
wusste sie nicht recht wie und zum anderen gönnte sie ihm den Schlaf.
Nachdenklich starrte sie auf seinen Walrossbart, der im Takt der Atemzüge bebte
und unter ihrem Blick zu zittern begann. Rasch sah sie zur Seite und wagte erst
nach ein paar Minuten wieder einen Blick in Heinz‘ Gesicht. Seine Lider
flatterten, als sie darauf sah. Interessant. Sie blickte intensiv auf die
Schlafzimmertüre, vielleicht ging die ja auf, aber sie knarzte nur ein wenig.
Vielleicht musste sie näher rangehen. Sie bewegte sich vorsichtig darauf zu,
aber die Tür blieb geschlossen. Dafür wachte Heinz auf. Als sie am Fußende
seines Bettes stand, schlug er die Augen auf und sein Blick traf sie so
unvermittelt, dass sie jäh einen Schritt rückwärts tat und durch den
Kleiderständer schritt, an dem die Bügel leise, aber ganz real zu klirren begannen.
Heinz hob den Arm von ihrer Brust
und starrte auf seine Armbanduhr. „Oh je, halb acht schon, Hanni! – Hanni?
…Hanni…“ Er stemmte sich hoch und blickte fassungslos auf den leblosen Körper
neben sich. Sein Gesicht erstarrte, nicht wie vom Blitz getroffen, sondern die
Starre breitete sich aus wie der Schatten einer Wolke, die sich vor die Sonne
schiebt. Von der Stirn, deren steile Falten einfach stehen blieben, über die
Augen, die, nun weit geöffnet und vorquellend wie die seiner Frau, ohne
Wimpernschlag verharrten, zu den Wangen und dem Unterkiefer, der in der
gesenkten Stellung des langen, fragenden Iiis stehen geblieben war. Sein
Walrossbart sträubte sich wie das Fell einer aufgeregten Katze. Und dann fiel
das Gesicht zusammen. Hannelore sah es schrumpfen, es schien auszutrocknen; wie
ein Ballon, der, hängengeblieben an einem Ast, irgendwann langsam kleiner zu
werden beginnt, verlor der ganze Körper an Form und Fülle, während die Tote
neben ihm in ihrer wächsernen Blässe immer größeren Raum einzunehmen schien.
Mit dem Schrumpfen seines Körpers fiel auch seine Stimme in sich zusammen. Als
leiser Klagelaut hing ein geflüstertes „Hanni“ im Raum, begleitet vom letzten
Klirren der Kleiderbügel. Sie hätte ihn gerne getröstet, wenigstens seinen Arm
gestreichelt, wie sie das früher oft beiläufig getan hatte, ein Automatismus,
gewachsen in der Vertrautheit von Jahrzehnten. Aber das ging jetzt nicht mehr …
Gerührt sah sie seine breite, schwielige Hand behutsam, fast berührungslos über
das starre Gesicht neben ihm gleiten, über die Wangen, die Lippen. Die letzte
Berührung, dachte sie mit einem kleinen, wehmütigen Lächeln, ist so scheu, wie
damals seine erste gewesen ist. Eine einzelne Träne rollte über Heinz‘ Wange, tropfte
auf das Dekolleté unter ihm und zerfloss dort im Spitzenrand des Pyjamas.
„Entschuldigung?“ sagte eine gedämpfte,
etwas atemlose Stimme hinter Hannelore. „Ich weiß, es ist unpassend, unpassend
… aber unpassend ist es leider immer…“
Sie blickte in ein durchscheinend
blasses, jetzt vor Aufregung gerötetes Gesicht; ein junges, ein zartes,
irgendwie unwirkliches Gesicht.
„Pardon – ich darf mich
vorstellen: E 3719D25/13; das E steht für Engel. Wie gesagt, ich störe wirklich
ganz ungern. Aber du … du solltest dich auf den Weg machen. Wir haben ziemliche
Organisationsprobleme zurzeit, ungeheuer viele Zugänge und wegen
Ausbesserungsarbeiten Engstellen und Umleitungen. Wir sind – nun, wir sind auf
die Disziplin der Neuzugänge angewiesen … Du darfst übrigens gerne E-D zu mir
sagen.“ Er lächelte hoffnungsvoll.
In Hannelore flammte eine heiße,
eine durch und durch irdische Wut auf. „Ich will aber nicht!“ fauchte sie. „Ich
WILL NICHT mitgehen! Jetzt, wo wir es uns schön gemacht haben! Wo wir endlich
leben wollten, nicht nur arbeiten! Was, verdammt, habt ihr euch dabei gedacht,
mich ausgerechnet JETZT zu holen?! Wenigstens noch ein oder zwei Jahre,
wenigstens ein … ein Abschiednehmen!“ Ihre
Stimme versagte.
„Also, entschuldige, das kann ich
nicht beantworten.“ E-D zwinkerte nervös. „Ich bin noch ziemlich neu in dem Job
und die Entscheidungen trifft der Chef sowieso allein. Aber ehrlich jetzt: ich
glaube, da ist nicht viel zu machen. Es gibt nur ganz, ganz selten
Rücktransformationen. Ist immer ein Heidenaufwand und macht meistens Ärger. Wenn
du nicht mit mir gehst, wird die Gegenseite versuchen, dich zu holen. Das wäre
ganz blöd. Erstens verlieren wir nicht gerne eine Seele und ich weiß auch nicht
recht, ob dir das gefallen würde. Denk doch mal an den Schwefelgeruch.“
„Soll das heißen,“ fragte
Hannelore misstrauisch, „dass ich eine Wahl habe?“
E-D trat unruhig von einem Fuß
auf den anderen. „Also eigentlich …Denk doch mal an die schönen Seiten im
Jenseits, an die Aufstiegschancen und die neuen Perspektiven…“
Hannelore schnupperte. Nahm sie
da einen brandigen Geruch wahr? Sie biss die Zähne zusammen, oder was man jetzt
so nannte, und reckte entschlossen ihr Kinn. Verhandlungssache, ha! Im
Verhandeln war sie gut. Immer, immer war es ihr im Leben gelungen, ein paar
Prozente, eine kleine Vergünstigung herauszuholen. Die sollten sich schon mal
warm anziehen. Sie würde kämpfen, sie würde hart kämpfen!
23.04.17
Sonja Meier
Sonja Meier