Dienstag, 4. Juli 2017

Aufbruch


Es ging ihr gut, es ging ihr richtig gut. Sie hatte den ersehnten Ruhestand erreicht, ihrem Mann die Hausarbeit – nun ja – zumindest näher gebracht, mit ihm die geliebte Wohnung endlich abbezahlt und sogar kleine Rücklagen für die geplanten Reisen geschaffen. So konnte Hannelore es einfach nicht fassen, dass sie, als sie an diesem Morgen aufwachte, tot war.
Sie stand neben sich und starrte auf ihren Körper, der bewegungslos im Ehebett neben dem ihres Mannes lag. Das heißt, genau genommen stand sie nicht; sie saß auf dem Fensterbrett, aber es war auch kein richtiges Sitzen. Es war vielmehr wie die Vorstellung oder wie der Traum vom Sitzen, es war, als berühre sie den kühlen Marmor unter ihr gar nicht. Sie fühlte ihn nicht und sie konnte sich nicht gegen ihn pressen. Sie konnte auch ihren eigenen Arm nicht umschließen, das heißt, natürlich konnte sie diese Bewegung machen, konnte sie greifen, aber sie hielt dann nichts in Händen, soweit man überhaupt von Händen reden konnte, die irgendwie auch nicht richtig greifbar waren. Überhaupt war nichts mehr wirklich greifbar. Nur zwei Stellen auf ihrem Rücken, je auf den Rippenbögen gelegen,  nahe der Wirbelsäule, schienen real zu sein. Sie juckten ganz menschlich ein wenig. Aber Kratzen ging ja nicht. Es war gewöhnungsbedürftig, wirklich!
Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Exkörper, der stämmig und nun steif dort lag, auf das Gesicht mit dem Doppelkinn und den geöffneten, etwas vorstehenden blauen Augen, in denen noch eine milde Überraschung stand. Auch der Mund stand ein wenig offen. Es war der Gesichtsausdruck, den Heinz schon einmal mit dem Satz „…sonst stehen nur Ochsen vor dem Scheunentor“ kommentiert hatte, was zu einer vorübergehenden Trübung der Urlaubsstimmung  - 1981 in Rimini – geführt hatte, aber Heinz war ein guter Ehemann gewesen, ein wenig unbeholfen zuweilen, aber zuverlässig und treu, und sie hatte sich schon in jungen Jahren angewöhnt, ihm dergleichen nicht nachzutragen. Und mit dem Abstand, den sie nun zu sich hatte, brachte sie ein gewisses Verständnis für seine damalige Bemerkung auf.
Heinz grunzte leise und legte, ohne aufzuwachen, seinen Arm über ihre Brust. Das Morgenkonzert der Amseln hatte ihn früher oft geweckt. Sie lauschte dem Gesang – das lenkte vom Juckreiz ab – und stellte fest, dass sie einzelne Abschnitte verstand. Sie hörte auch die Kastanie, die ein freundliches „guten Morgen“ rauschte, und nahm das zarte Entfalten der jungen Blätter als Wispern und Flüstern wahr. Eine Katze – es war eine fremde – verharrte einen Moment unter dem Fenster und wünschte ihr eine gute Reise.
„Kennst du den Weg?“ fragte Hannelore, einer Eingebung  folgend.
„Es gibt viele Wege. Ich kenne einen Weg, aber sein Durchlass am Ende ist für dich zu schmal“. Die Katze warf noch einen interessierten Blick auf die Amseln und trottete weiter. In einem Anflug von menschlichem Missmut warf Hannelore einen Blick in den Spiegel, doch der blieb leer. Sie seufzte. Sehr gewöhnungsbedürftig, wirklich.
Sie dachte daran Kaffee zu kochen, aber es stellte sich kein Verlangen nach dem heißen, schwarzen Getränk ein, das sie früher so genossen hatte. Wochentags war stets sie für das Frühstück zuständig gewesen, am Wochenende Heinz. Er hatte es ritualisiert, hatte frische Brötchen geholt, manchmal auch Hörnchen oder ein Stück Hefezopf und sonntags immer Rührei mit Schinken zubereitet. Sie runzelte die Stirn – jedenfalls dachte sie eine solche Muskelbewegung. Es war Samstag, ganz gewiss Samstag, und Heinz verschlief heute. Er hatte nie einen Wecker gebraucht, aber heute blieb sein Arm auf ihrer Brust, also auf der Brust ihres Exkörpers, liegen und er schnarchte leise. Eigentlich müsste sie ihn jetzt wecken, schließlich hatte er gerade den Tod seiner Frau verschlafen, aber zum einen wusste sie nicht recht wie und zum anderen gönnte sie ihm den Schlaf. Nachdenklich starrte sie auf seinen Walrossbart, der im Takt der Atemzüge bebte und unter ihrem Blick zu zittern begann. Rasch sah sie zur Seite und wagte erst nach ein paar Minuten wieder einen Blick in Heinz‘ Gesicht. Seine Lider flatterten, als sie darauf sah. Interessant. Sie blickte intensiv auf die Schlafzimmertüre, vielleicht ging die ja auf, aber sie knarzte nur ein wenig. Vielleicht musste sie näher rangehen. Sie bewegte sich vorsichtig darauf zu, aber die Tür blieb geschlossen. Dafür wachte Heinz auf. Als sie am Fußende seines Bettes stand, schlug er die Augen auf und sein Blick traf sie so unvermittelt, dass sie jäh einen Schritt rückwärts tat und durch den Kleiderständer schritt, an dem die Bügel leise, aber ganz real zu klirren begannen.
Heinz hob den Arm von ihrer Brust und starrte auf seine Armbanduhr. „Oh je, halb acht schon, Hanni! – Hanni? …Hanni…“ Er stemmte sich hoch und blickte fassungslos auf den leblosen Körper neben sich. Sein Gesicht erstarrte, nicht wie vom Blitz getroffen, sondern die Starre breitete sich aus wie der Schatten einer Wolke, die sich vor die Sonne schiebt. Von der Stirn, deren steile Falten einfach stehen blieben, über die Augen, die, nun weit geöffnet und vorquellend wie die seiner Frau, ohne Wimpernschlag verharrten, zu den Wangen und dem Unterkiefer, der in der gesenkten Stellung des langen, fragenden Iiis stehen geblieben war. Sein Walrossbart sträubte sich wie das Fell einer aufgeregten Katze. Und dann fiel das Gesicht zusammen. Hannelore sah es schrumpfen, es schien auszutrocknen; wie ein Ballon, der, hängengeblieben an einem Ast, irgendwann langsam kleiner zu werden beginnt, verlor der ganze Körper an Form und Fülle, während die Tote neben ihm in ihrer wächsernen Blässe immer größeren Raum einzunehmen schien. Mit dem Schrumpfen seines Körpers fiel auch seine Stimme in sich zusammen. Als leiser Klagelaut hing ein geflüstertes „Hanni“ im Raum, begleitet vom letzten Klirren der Kleiderbügel. Sie hätte ihn gerne getröstet, wenigstens seinen Arm gestreichelt, wie sie das früher oft beiläufig getan hatte, ein Automatismus, gewachsen in der Vertrautheit von Jahrzehnten. Aber das ging jetzt nicht mehr … Gerührt sah sie seine breite, schwielige Hand behutsam, fast berührungslos über das starre Gesicht neben ihm gleiten, über die Wangen, die Lippen. Die letzte Berührung, dachte sie mit einem kleinen, wehmütigen Lächeln, ist so scheu, wie damals seine erste gewesen ist. Eine einzelne Träne rollte über Heinz‘ Wange, tropfte auf das Dekolleté unter ihm und zerfloss dort im Spitzenrand des Pyjamas.
„Entschuldigung?“ sagte eine gedämpfte, etwas atemlose Stimme hinter Hannelore. „Ich weiß, es ist unpassend, unpassend … aber unpassend ist es leider immer…“
Sie blickte in ein durchscheinend blasses, jetzt vor Aufregung gerötetes Gesicht; ein junges, ein zartes, irgendwie unwirkliches Gesicht.
„Pardon – ich darf mich vorstellen: E 3719D25/13; das E steht für Engel. Wie gesagt, ich störe wirklich ganz ungern. Aber du … du solltest dich auf den Weg machen. Wir haben ziemliche Organisationsprobleme zurzeit, ungeheuer viele Zugänge und wegen Ausbesserungsarbeiten Engstellen und Umleitungen. Wir sind – nun, wir sind auf die Disziplin der Neuzugänge angewiesen … Du darfst übrigens gerne E-D zu mir sagen.“ Er lächelte hoffnungsvoll.
In Hannelore flammte eine heiße, eine durch und durch irdische Wut auf. „Ich will aber nicht!“ fauchte sie. „Ich WILL NICHT mitgehen! Jetzt, wo wir es uns schön gemacht haben! Wo wir endlich leben wollten, nicht nur arbeiten! Was, verdammt, habt ihr euch dabei gedacht, mich ausgerechnet JETZT zu holen?! Wenigstens noch ein oder zwei Jahre, wenigstens ein … ein Abschiednehmen!“ Ihre  Stimme versagte.
„Also, entschuldige, das kann ich nicht beantworten.“ E-D zwinkerte nervös. „Ich bin noch ziemlich neu in dem Job und die Entscheidungen trifft der Chef sowieso allein. Aber ehrlich jetzt: ich glaube, da ist nicht viel zu machen. Es gibt nur ganz, ganz selten Rücktransformationen. Ist immer ein Heidenaufwand und macht meistens Ärger. Wenn du nicht mit mir gehst, wird die Gegenseite versuchen, dich zu holen. Das wäre ganz blöd. Erstens verlieren wir nicht gerne eine Seele und ich weiß auch nicht recht, ob dir das gefallen würde. Denk doch mal an den Schwefelgeruch.“
„Soll das heißen,“ fragte Hannelore misstrauisch, „dass ich eine Wahl habe?“
E-D trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Also eigentlich …Denk doch mal an die schönen Seiten im Jenseits, an die Aufstiegschancen und die neuen Perspektiven…“
Hannelore schnupperte. Nahm sie da einen brandigen Geruch wahr? Sie biss die Zähne zusammen, oder was man jetzt so nannte, und reckte entschlossen ihr Kinn. Verhandlungssache, ha! Im Verhandeln war sie gut. Immer, immer war es ihr im Leben gelungen, ein paar Prozente, eine kleine Vergünstigung herauszuholen. Die sollten sich schon mal warm anziehen. Sie würde kämpfen, sie würde hart kämpfen!

23.04.17
Sonja Meier