Mittwoch, 29. Oktober 2014

Dresden

Daddy steht draußen und raucht. Er hat Kaugummi dabei, den er großzügig, die Viceroy im Mundwinkel, an die aufgeregten Kinder verteilt. Ein großer Junge in kurzen Hosen mit dünnen,  langen Beinen und krustigen Knien greift durch die offene Scheibe ans Lenkrad und fährt mit seinen Fingern übers glänzende Chrom. Dabei stößt er einen anerkennenden lauten Pfiff aus und dreht sich lachend wieder meinem Vater und den anderen zu. Sie gestikulieren mit den Armen und stoßen verzerrte, breiartige Laute aus. „Das soll wohl amerikanisch klingen“, denke ich und eine merkwürdige Scham macht sich in mir breit. Ich verkrieche mich hinten noch tiefer in der roten Plastiksitzbank. Es ist stickig heiß und jede Bewegung meiner nackten feuchten Beine fühlt sich wie ein kleiner schmerzhafter Sog an, so, als würde der Bezug meine Haut nicht hergeben wollen. Ich ekel mich vor den schattenwerfenden klebrigen Händen auf den Scheiben, den großen, suchenden Augen und zahnlückig katschenden Mündern. Sie sind so anders als ich.

Alles hier ist grau. Die hohen alten Häuser haben die selbe, fast schwarze Farbe wie die Straße und bis auf die staubige Meute Kinder wirkt alles verlassen. Fast gar nichts bewegt sich und nicht mal die Leute heben sich von den Gebäuden ab. Sie sind so eilig wieder weg, wie sie kurz sichtbar waren. Im Haus gegenüber öffnet sich eine Tür wie ein Loch und Mama kommt, bunt wie eine schöne Puppe, mit einem Soldaten wieder zurück. Sie sieht in dieser Umgebung ganz fremd aus. Die Kinder verstummen und treten etwas ins Abseits als der Soldat unsere grünen Nummernschilder durch rote, ovale, ersetzt und sich dann knapp mit einem eigenartig unbewegten Maskengesicht und kalten Blick in die Augen meines Vaters verabschiedet. Im Auto lacht Mama glücklich und blättert vor Daddy mit einer Menge Papier und großer Scheine herum. Ich sehe Tränen in ihren Augenwinkeln. Er, die Viceroy im Mundwinkel, nickt, lässt den Sechszylinder an und steuert den weißen Dodge langsam, wie ein wogendes Schiff, durch die Untiefen der kaputten Straße. Die Kinder laufen noch eine ganze Weile winkend hinter dem Auto her bis ich die kleinen grauen Punkte nicht mehr von den Hauswänden unterscheiden kann. Ich drehe mich zurück nach vorn und stelle mich in den Raum hinter die Vorderbank. Ich lege meine Arme sanft um Daddy´s Hals. Sein warmer Nacken riecht gut. Mein kleiner Bruder schläft immer noch eingerollt und mit verschwitzten Haaren neben mir in seiner Ecke. Jetzt ist der Weg zu Oma frei.


Nach der Rückkehr von unserer Woche Aufenthalt bei Oma in der Deutschen Demokratischen Republik, verhaftete die Military Police meinen Vater noch am gleichen Abend. Er wurde mit sofortiger Wirkung nach 19 Dienstjahren unehrenhaft aus der United States Army entlassen und verlor alle Privilegien als Berufssoldat.

Erst als der Einberufungsbefehl für Vietnam vier Jahre später eintraf, hatte er die Möglichkeit, diese Ungeheuerlichkeit für sein Vaterland wieder gut zu machen.

1966.
Ich weiß bis heute nicht, wie er den Eisernen Vorhang überwinden konnte. Er hat nie wieder darüber gesprochen.

Minna Weise, 27.Mai 2014

Dienstag, 21. Oktober 2014

Liebe - Der Versuch einer Analyse


Ausgerechnet Liebe! Ausgerechnet dieses alte, dieses abgenützte, dieses ausgelutschte Wort, dieses so oft missbrauchte Wort. Dieses erhoffte, ersehnte, dieses besungene und geliebte Wort. Ausgerechnet Liebe! Ich weiß nicht, ob ich weiß, was das ist. Liebe ich? Wen liebe ich? Mich selbst? Höchst unterschiedlich und von der Tagesform abhängend. Meinen Nächsten wie mich selbst, wie es die Bibel fordert? Was für ein unsinniges Gebot. Wenn ich mir selbst zuwider bin, dann muss es mir folgerichtig auch der Nachbar sein, der mir ahnungslos im Treppenhaus begegnet …Schön. Lassen wir die eigene Person und die theologischen Haarspaltereien. Meine Schwester? Geschwisterliebe? Wir stehen uns nicht nahe, sind grundverschieden, Gegenpole sozusagen, verbringen kaum Zeit miteinander, weil wir keine Interessen teilen, aber in Krisenzeiten stehen wir zusammen; Blut ist dicker als Wasser und im übrigen Geschwisterliebe Pflicht. Meine Eltern? Ihnen bin ich näher, aus ihnen bin ich, Teil von ihnen bin ich. Hier trifft das Wort schon eher. Dieses Gefühl zärtlicher Zuneigung, das erst in späteren Jahren gewachsen ist, verbunden mit Nachsicht für die kleinen Schwächen, die ihr Alter mit sich bringt, die Wahrnehmung des Wenigerwerdens, die milde stimmt. Aber vielleicht ist auch dieses Gefühl nur Pflicht, genetisch festgelegt und gesellschaftlich bestimmt. Oder ist es mehr Dankbarkeit, verbunden mit einer gewissen Wehmut, weil die eigene Jugend längst Vergangenheit ist? Meine Freunde? Liebe ich meine Freunde? Ich habe treue, liebenswerte, zuverlässige Freunde. Die langjährigste Freundschaft  währt 42 Jahre; eine Freundin, der ich alles, wirklich alles sagen kann, die ich alles fragen kann. Ein Freundschaft, die räumliche Distanz, völlig unterschiedliche Lebensentwürfe, Kinder und zwei Pferde unversehrt überstanden hat. Was für eine Kostbarkeit! Wie viele unbeschwerte oder auch heiß durchdiskutierte Stunden habe ich mit Freunden erlebt, wieviel Freude und Lebenslust, wieviel Leid und Trauer mit ihnen geteilt. Und doch würde ich bei keinem von ihnen von Liebe sprechen. So nah und vertraut wir uns sind, es ist eben Freundschaft, ehrliche tiefe Freundschaft. Und Freundschaft ist eine gegenseitige Sache. Ich kann jemanden lieben, ohne widergeliebt zu werden, aber Freundin  kann ich nur dem Freund, der Freundin sein.
Also, wo bleibt nun die Liebe? Natürlich liebe ich, jeden Tag: ich liebe Nudeln mit Zitronensauce, trockenen, mineralischen Weißwein, im Winter auch schweren, runden Rotwein und dunkle Schokolade zu jeder Jahreszeit - und natürlich liebe ich Oscar. Oscar begleitet mich seit neun Jahren, schwarz, einseitig weiß gesockt, lautlos, manchmal rätselhaft, meist schnurrend, selten klagend. Hier liebe ich und werde geliebt – jedenfalls zur Futterzeit und in kalten Nächten. Im übrigen bin ich nachsichtig geduldet. Immerhin. Und treu ist Oscar außerdem.

Ob H. das auch ist? Vielleicht. Würde ich merken, wenn nicht? Vermutlich nein. Aber als Liebende müsste ich jede Veränderung spüren – gar nicht so einfach, wenn man Tisch und Bett nur zeitweilig teilt, meist bei mir, seit Oscar, der Ortsveränderungen hasst, auf H.s edlen Louis-quinze-Sessel gepinkelt hat. Zeitliche und räumliche Distanz lässt den anderen immer wieder ein wenig fremd werden. Liebe ich H.? Wieviel unkomplizierter ist die Antwort bei Nudeln und Oscar. Wie leicht spricht sich’s da von Liebe! Ich starre H. an, die Ellbogen aufgestützt, die Kaffeetasse in beiden Händen. Er ist in Umsatzzahlen vertieft und nimmt mich gar nicht wahr. Erst als ich aufstehe und seinen Nacken kraule, blickt er auf. „Du streichelst mich wie deinen Kater“. Immerhin, den liebe ich. Aber ich schweige, denn der milde Vorwurf war nicht zu überhören. H. klappt den Laptop zu, steht auf, lächelt ein wenig schräg und sagt: „Ich lieb' dich trotzdem. - Denkst du an die Theaterkarten für nächsten Freitag? Und frag' Ina und Klaus, ob sie anschließend noch mit ins "Cantabile" gehen."
Er muss fort, weil er am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe nach Hamburg fliegt und noch Verschiedenes vorzuberiten hat. An der Wohnungstür wendet er sich um und sieht mich mit einem Blick an, den ich den Cavalier-King-Charles-Spaniel-vor-dem-Futterschrank-Blick nenne, und sagt: "es wäre so schön, nur zwei Zimmertüren weiter zu gehen, um einen Koffer zu packen." Der Spaniel steht kurz vor dem Hungertod.

Ich küsse H. sehr züchtig auf die Wange und schiebe ihn sanft zur Tür. "Du würdest dir ganz schnell deine eigenen vier Wände zurückwünschen. My home is my castle."
Er geht, seine Schritte hallen im Treppenhaus. Durch das Küchenfenster sehe ich ihn zur Hautür hinaustreten, sehe seine leicht gebeugte Gestalt, die widerspenstig abstehende Haarsträhne auf dem Hinterkopf, die ihm, dem Ordentlichen, Systematischen, etwas Nachlässiges verleiht, sehe seinen typischen, leicht unrunden Gang, und ein Gefühl von Zärtlichkeit und Zuneigung steigt in mir auf, steigt auf bis oben hin und ich schlucke und blinzle und möchte rufen: warte - warte, ich komme mit! Aber ich schweige, lehne meine Stirn an den kühlen Fensterrahmen, halte mich am Griff fest und schicke ihm eine Kusshand nach. Dann ist er weg. Eine Weile verharre ich noch so, bis die kühle Herbstluft mich frösteln lässt, dann schließe ich das Fenster und trödle zum Esstisch zurück. Es ist still in der Wohnung. Auf H.s Stuhl räkelt sich Oscar und schaut mich aus goldgrünen Augen an. Ich glaube, er lächelt.

Fürth, 05.10.14
Sonja Meier