Mittwoch, 18. Juni 2014

Die Goldene

Sie wusste, dass das ein ganz entscheidendes Ereignis werden würde. Der Bürgermeister würde selbst zum Gratulieren vorbeikommen, die Leute vom Gemeindeblatt würden ein Foto machen. Bei der Goldenen erschien das dann automatisch. Oh Gott, sie brauchte noch einen passenden Friseurtermin kurz davor. Die Tochter war angewiesen, das kleine Häuschen  so umzuräumen, dass man eine Festtafel einrichten konnte. Der Sohn schaffte Getränke herbei. Unmengen von Kuchen und kalten Platten waren bestellt. Ob’s auch wirklich reicht? Ihr schwirrte der Kopf, alles hing an ihr, dachte sie. Aber er musste ja doch die längste Zeit liegen, war eben so. Dann rief sie nochmals die Gäste an. Sie wollte es direkt von ihnen hören, dass sie auch ganz sicher kämen. Nein, macht euch doch keine Umstände mit Geschenken, was braucht denn unsereins noch, Hauptsache ist, wir sehen uns. Langes Nachdenken, lange Gespräche , was sie denn anziehen sollte. Welches Kleid machte noch ein bisschen was her? Meinst du nicht doch lieber das plissierte oder das braune, das seidene? Wer kehrt den Hof noch einmal gründlich?
Dann war der Tag der Goldenen ganz rasch da. Alles lief wie am Schnürchen. Die Anrufe absolvierte sie tapfer, bemühte sich nach jedem Klingeln um einen frischen Ton; gerade bei den Floskeln gelang das immer wieder erstaunlich gut. Kam das Gespräch auf ihren Mann, zitterte ihre Stimme, ein paar Atemzüge lang weinte sie dann in den Hörer. Aber sonst klappte alles. Sie empfing die Gäste, lenkte Blumen und Geschenke auf den Gabentisch, dankte für die artigen Glückwünsche und Komplimente. Ja, ja, alles Gute für die nächsten 50 Jahre, danke, du Schelm. Warum nicht ein Tänzchen wagen? Tapfer schaute sie in die Fotokamera : das Glück festhalten und so lächeln, dass man später noch gerührt sein würde von ihrer Art zu schauen. Danke, Herr Bürgermeister, dass Sie persönlich, oh, Herr Pfarrer, wie schön, dass Sie auch verbeischauen. Ihrem Mann hatte der Hausarzt eine Art Wunderspritze verpasst. Er konnte danach tatsächlich Hände schütteln und ein paar von seinen alten Sprüchen und Witzen aufsagen. Später wechselte sie an der Tafel öfter den Platz, ganz die zugewandte Gastgeberin, wollte sie mit allen, die gekommen waren, auch persönlich reden. Auf den Stühlen, auf denen sie gesessen hatte, hinterließ sie nasse, braune Flecken im Polster. „Mutti, übernimm dich doch nicht. Bleib sitzen, die Leute kommen doch zu dir her!“, sagte die Tochter verlegen.

„Aber, das macht mir doch nichts!“
Sie strahlte. Ihre Augen blitzten unter der Perücke hervor, die sie seit der Chemo tragen musste. Ihre Goldene!

„Stellen Sie sich vor, wir feiern tatsächlich noch unsere Goldene!“

Wilfried Christel 

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