Gertrud erlebte als Kind noch so viel vom Krieg, dass ihr
klare Erinnerungen blieben: die Bombardierung ihrer Heimatstadt München, die
Evakuierung der Familie ins ungefährdete Rottal, das tägliche Warten der nervösen
Mutter auf Briefe vom Vater an der Front. Später wird sie sagen, dass sie das
tief prägte, viel grundsätzlicher und härter als ihr Teenagerdasein in der Zeit
der frühen Bundesrepublik. Der Besuch des Mädchengymnasiums verlief quirlig,
abwechslungsreich, forderte nichts Entscheidendes oder Beschwerendes. Eine
leichtfüßige, fast tänzelnde Zeit für junge Frauen, wie das halt so üblich ist
für Achtzehnjährige, deren Herz genauso aufgeregt bei der Lateinschulaufgabe
pocht wie beim Anklopfen des Tanzpartners, der sie zum Kurs abholt und an der
Eingangstür brav einen Diener macht. Vielleicht war auch das erstaunliche
Wirtschaftswunder des jungen, zur Demokratie entschlossenen Staates daran
schuld, dass Gertrud ihr Leben ein wenig wie beschwipst wahrnahm, prickelnd
jedenfalls. Alles war möglich: Papa kam heil aus dem Krieg zurück, machte
schnell Karriere als Notar und Senator, Mama gab die Lehrtätigkeit auf und
übersetzte englische Literatur ins Deutsche, die ältere Schwester Dietlinde
studierte selbstbewusst Jura. Die Familie fühlte sich mit Recht binnen kurzem
der Münchner Oberschicht zugehörig, ihr Haus, ihr Lebensstil fingen an zu
glänzen. Der Papa, liberal in der Grundhaltung und von gediegener Bildung,
hatte Großes vor mit seinen beiden gescheiten Töchtern.
Besagter Tanzstundenpartner wurde manchmal zu Festen der
Familie geladen; warum nicht auch er? Gertrud witzelte gerne über ihn, der
tapfer Chemie studierte und so reizend ungelenk wirkte, wenn er den Kavalier zu
spielen versuchte und sich dabei immer wieder in plumpe Ungeschicklichkeiten
verstrickte, die natürlich seiner niederbayerisch bäuerlichen Herkunft
entstammten. Aber er tanzte gut, war bisweilen witzig, wenn auch nicht wirklich
geistreich. Amüsant zu sehen, wie er sich abrackerte, aber letztlich nicht
wichtig in dem attraktiven Leben, das Gertrud genoss.
Und dann ging alles schnell, noch schneller, als es die
junge Abiturientin schon kannte. Dieser Rudolf, so hieß der aufstrebende
Bauernsohn, warb Tag für Tag heftiger um Gertrud. Er war immer präsent, rief
an, schickte Präsente, Blumen natürlich auch, erbat einen Ausgehtermin nach dem
anderen. Als Gertrud mit Freundinnen sechs Tage Urlaub am Gardasee verbringen
durfte, brauste er mit seiner Vespa in ihr Feriendomizil und stand grinsend vor
ihrer Hotelzimmertüre – „So, da bin ich, dein Rudi lässt nicht locker,
gell?“ Ja, das war es, er nannte sich
einfach „ihr Rudi“, erklärte unaufgefordert, er werde immer für sie da sein und
sie nie im Stich lassen. Gertrud wunderte sich, wie er auf solche Schwüre kam,
ließ ihn aber gewähren. Es war zu schmeichelhaft, so heftig begehrt zu werden,
keine ihrer Klassenkameradinnen hatte das schon erlebt und nun passierte ihr
das in solcher Überschwänglichkeit. Sie kicherte, als sie ihrer Freundin
erzählte, dass Rudi mittlerweile vom Heiraten und Kinderkriegen sprach. Die
Freundin kicherte mit ihr mit. Was sollten sie sonst anderes machen? Sicher,
Gertrud litt auch manchmal an der Penetranz ihres Rudolf. Sie bemerkte, wie
ihre ältere Schwester beim Erwähnen seines Namens die Augen verdrehte und ihr
Vater die Stirn runzelte, aber sie war nicht fähig zu durchschauen, dass Rudi
vorging wie ein Bauer, der im Frühjahr binnen zwei Tagen seinen Acker bestellen
muss, „weil das Wetter g’rad passt“. Er stand kurz vor dem Examen und wollte
fast zeitgleich mit der Familiengründung starten, wenn nicht jetzt gleich, wann
denn sonst? Und „gepasst“ hat die schlanke Gertrud gut, denn sie kam aus
reichem und angesehenem Haus, war halt wer. Und Rudi wollte auch wer sein, der
Bauernsohn, der demnächst in Chemie promovierte. Die Ereignisse überschlugen
sich, die planerischen Aktivitäten des Bräutigams, wie er sich nun nannte,
wurden immer genauer und konkreter. Gertrud verfiel in ein Staunen darüber und
über sich selbst. Suchte sie nach Erklärungen, sagte sie erstaunlich
oberflächlich, sie beide seien halt etwas „früh dran“, studieren könne sie ja
dann auch noch nach dem ersten Kind – „die einen so, die anderen so“, warum
nicht? Die Eltern warnten, aber natürlich dezent, übten keinen wirklichen Druck
auf sie aus, was zu ihrer toleranten Aufgeklärtheit ja auch nicht gepasst
hätte.
Schließlich war es so weit, noch keine 20 heiratete Gertrud
ihren 10 Jahre älteren Rudolf, Doktor der Naturwissenschaften. Sieben Monate
hatte sein Werben gedauert und sich Schritt für Schritt unentwegt gesteigert.
Die Eltern, die Kirche, alle gaben ihren Segen. Als Gertrud vor dem Tisch des
Standesbeamten saß, sie den Ring mit ihrem Bräutigam austauschte und plötzlich
mit dessen Nachnamen die Beurkundung bestätigen sollte, durchzuckte sie es.
„Nein, das ist er nie und nimmer. Mit dem will ich doch nicht zusammen mein
Leben verbringen.“ So glasklar blitzte es in ihr auf. Sie berichtete später
einmal, dass in ihr der Satz „Das ist falsch, was du hier tust!“ Wort für Wort zu
hören gewesen sei. Es blieb aber beim Aufblitzen, dem glasklaren. Folgen hatte
es keine. Woher hätte auch der Mut zu dem für eine radikale Änderung
notwendigen Eklat kommen sollen?
25 Jahre musste sich Gertrud mit dieser Ehe herumplagen,
drei Kinder, die ihr große und größte Sorgen bereiteten, zog sie dabei auf, bis
sie sich entschloss, Rudi zu verlassen.
Als ich Gertrud einmal in einem Gespräch, in dem es um
„Momente, in denen man alles durchschaut“, ging, lächelte sie, ich glaube, sie
lächelte entspannt.
Wilfried Christel
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