Mittwoch, 18. Juni 2014

Der Moment, in dem du alles weißt

Gertrud erlebte als Kind noch so viel vom Krieg, dass ihr klare Erinnerungen blieben: die Bombardierung ihrer Heimatstadt München, die Evakuierung der Familie ins ungefährdete Rottal, das tägliche Warten der nervösen Mutter auf Briefe vom Vater an der Front. Später wird sie sagen, dass sie das tief prägte, viel grundsätzlicher und härter als ihr Teenagerdasein in der Zeit der frühen Bundesrepublik. Der Besuch des Mädchengymnasiums verlief quirlig, abwechslungsreich, forderte nichts Entscheidendes oder Beschwerendes. Eine leichtfüßige, fast tänzelnde Zeit für junge Frauen, wie das halt so üblich ist für Achtzehnjährige, deren Herz genauso aufgeregt bei der Lateinschulaufgabe pocht wie beim Anklopfen des Tanzpartners, der sie zum Kurs abholt und an der Eingangstür brav einen Diener macht. Vielleicht war auch das erstaunliche Wirtschaftswunder des jungen, zur Demokratie entschlossenen Staates daran schuld, dass Gertrud ihr Leben ein wenig wie beschwipst wahrnahm, prickelnd jedenfalls. Alles war möglich: Papa kam heil aus dem Krieg zurück, machte schnell Karriere als Notar und Senator, Mama gab die Lehrtätigkeit auf und übersetzte englische Literatur ins Deutsche, die ältere Schwester Dietlinde studierte selbstbewusst Jura. Die Familie fühlte sich mit Recht binnen kurzem der Münchner Oberschicht zugehörig, ihr Haus, ihr Lebensstil fingen an zu glänzen. Der Papa, liberal in der Grundhaltung und von gediegener Bildung, hatte Großes vor mit seinen beiden gescheiten Töchtern.
Besagter Tanzstundenpartner wurde manchmal zu Festen der Familie geladen; warum nicht auch er? Gertrud witzelte gerne über ihn, der tapfer Chemie studierte und so reizend ungelenk wirkte, wenn er den Kavalier zu spielen versuchte und sich dabei immer wieder in plumpe Ungeschicklichkeiten verstrickte, die natürlich seiner niederbayerisch bäuerlichen Herkunft entstammten. Aber er tanzte gut, war bisweilen witzig, wenn auch nicht wirklich geistreich. Amüsant zu sehen, wie er sich abrackerte, aber letztlich nicht wichtig in dem attraktiven Leben, das Gertrud genoss.
Und dann ging alles schnell, noch schneller, als es die junge Abiturientin schon kannte. Dieser Rudolf, so hieß der aufstrebende Bauernsohn, warb Tag für Tag heftiger um Gertrud. Er war immer präsent, rief an, schickte Präsente, Blumen natürlich auch, erbat einen Ausgehtermin nach dem anderen. Als Gertrud mit Freundinnen sechs Tage Urlaub am Gardasee verbringen durfte, brauste er mit seiner Vespa in ihr Feriendomizil und stand grinsend vor ihrer Hotelzimmertüre – „So, da bin ich, dein Rudi lässt nicht locker, gell?“  Ja, das war es, er nannte sich einfach „ihr Rudi“, erklärte unaufgefordert, er werde immer für sie da sein und sie nie im Stich lassen. Gertrud wunderte sich, wie er auf solche Schwüre kam, ließ ihn aber gewähren. Es war zu schmeichelhaft, so heftig begehrt zu werden, keine ihrer Klassenkameradinnen hatte das schon erlebt und nun passierte ihr das in solcher Überschwänglichkeit. Sie kicherte, als sie ihrer Freundin erzählte, dass Rudi mittlerweile vom Heiraten und Kinderkriegen sprach. Die Freundin kicherte mit ihr mit. Was sollten sie sonst anderes machen? Sicher, Gertrud litt auch manchmal an der Penetranz ihres Rudolf. Sie bemerkte, wie ihre ältere Schwester beim Erwähnen seines Namens die Augen verdrehte und ihr Vater die Stirn runzelte, aber sie war nicht fähig zu durchschauen, dass Rudi vorging wie ein Bauer, der im Frühjahr binnen zwei Tagen seinen Acker bestellen muss, „weil das Wetter g’rad passt“. Er stand kurz vor dem Examen und wollte fast zeitgleich mit der Familiengründung starten, wenn nicht jetzt gleich, wann denn sonst? Und „gepasst“ hat die schlanke Gertrud gut, denn sie kam aus reichem und angesehenem Haus, war halt wer. Und Rudi wollte auch wer sein, der Bauernsohn, der demnächst in Chemie promovierte. Die Ereignisse überschlugen sich, die planerischen Aktivitäten des Bräutigams, wie er sich nun nannte, wurden immer genauer und konkreter. Gertrud verfiel in ein Staunen darüber und über sich selbst. Suchte sie nach Erklärungen, sagte sie erstaunlich oberflächlich, sie beide seien halt etwas „früh dran“, studieren könne sie ja dann auch noch nach dem ersten Kind – „die einen so, die anderen so“, warum nicht? Die Eltern warnten, aber natürlich dezent, übten keinen wirklichen Druck auf sie aus, was zu ihrer toleranten Aufgeklärtheit ja auch nicht gepasst hätte.
Schließlich war es so weit, noch keine 20 heiratete Gertrud ihren 10 Jahre älteren Rudolf, Doktor der Naturwissenschaften. Sieben Monate hatte sein Werben gedauert und sich Schritt für Schritt unentwegt gesteigert. Die Eltern, die Kirche, alle gaben ihren Segen. Als Gertrud vor dem Tisch des Standesbeamten saß, sie den Ring mit ihrem Bräutigam austauschte und plötzlich mit dessen Nachnamen die Beurkundung bestätigen sollte, durchzuckte sie es. „Nein, das ist er nie und nimmer. Mit dem will ich doch nicht zusammen mein Leben verbringen.“ So glasklar blitzte es in ihr auf. Sie berichtete später einmal, dass in ihr der Satz „Das ist falsch, was du hier tust!“ Wort für Wort zu hören gewesen sei. Es blieb aber beim Aufblitzen, dem glasklaren. Folgen hatte es keine. Woher hätte auch der Mut zu dem für eine radikale Änderung notwendigen Eklat kommen sollen?

25 Jahre musste sich Gertrud mit dieser Ehe herumplagen, drei Kinder, die ihr große und größte Sorgen bereiteten, zog sie dabei auf, bis sie sich entschloss, Rudi zu verlassen.

Als ich Gertrud einmal in einem Gespräch, in dem es um „Momente, in denen man alles durchschaut“, ging, lächelte sie, ich glaube, sie lächelte entspannt.  

Wilfried Christel

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