Hans-Hermann
Hunsinger betrachtete sich im Spiegel, prüfte die Wunde, die der am Tag zuvor
gezogene Backenzahn hinterlassen hatte, strich sich über die letzte, dünne
Haarsträhne über seiner Stirn, registrierte die Tränensäcke unter den Augen mit
dem Fassungsvermögen der Restmülltonne des Sechs-Parteien-Hauses und beschloss
den Verfall seines Körpers erheblich zu
beschleunigen, indem er seinem Leben ein Ende setzte. Nicht auf die Art und
Weise, die ihm vor einiger Zeit sein langjähriger, vertrauter Orthopäde
angeraten hatte, der empfahl, wenn er, Hans-Hermann, in dem fortgeschrittenen
Alter, also jenseits der Fünfzig, gänzlich schmerzfrei sein wolle, so solle er
in dem Haus, in dem sich die Arztpraxis befand, in den obersten Stock fahren –
es sei der dreizehnte – dort zur Feuertreppe hinaustreten, von der kleinen
Plattform auf die Brüstung steigen und hinabspringen und er, Hans-Hermann,
könne sicher sein, sozusagen ärztlich garantiert, in kürzester Zeit von Beschwerden jeglicher Art befreit zu
sein. Hans-Hermann war vom dritten Stock, in dem sich die Praxis befand, bin in
die zehnte Etage gefahren und dann die restlichen drei Stockwerke langsam, den
quälenden Fersensporn ganz bewusst wahrnehmend, zu Fuß hinaufgestiegen. Er
blickte über die Brüstung auf die Bahnhofsgebäude und auf die Schienenstränge,
bis zu dem Punkt, wo sie sich in der Ferne verloren, und er blickte auf den
Parkplatz unter ihm, wo Asphaltarbeiten durchgeführt wurden. Das Knattern der
Presslufthämmer drang hinauf bis zu ihm und beleidigte sein empfindsames Ohr.
Da er zudem keine Lust verspürte, einem verschwitzten Bauarbeiter auf den Kopf
zu springen, war er wieder gegangen, war die Stockwerke hinuntergefahren –
diesmal alle – und hatte die Entscheidung vertagt.
Er wollte, dachte
er nun vor dem Spiegel, eine so nachhaltige Operation mit einem gewissen Stil
erledigen und den angekündigten strengen Nachtfrost nutzen. Er kleidete sich
an, verließ das Haus, erwarb in der nahe gelegenen Apotheke eine große Packung
Schlaftabletten und im Feinkostgeschäft zwei Straßen weiter eine Flasche 25
Jahre alten Cognac zu 348.--€. Am späten Abend packte er Tabletten, Cognac, ein
Glas, ein Sitzkissen und eine Taschenlampe in den Packnickkorb, zog –
angesichts des Vorhabens – nur eine leichte Jacke über, verzichtete auf den
Schal und ging in den Wald. Er ging lange, bis er eine Stelle fand, die ihm
geeignet schien, ließ sich nieder und nahm die Tabletten mit Hilfe des Cognacs
ein. Da er wenig Erfahrung mit Schlaftabletten und Alkohol hatte, wurde ihm
zwar übel, doch wurde er auch rasch etwas benommen. Die Welt begann sanft zu
schaukeln, und nach dem Genuss etwa der Hälfte des Proviantes schlief er,
eingebettet zwischen zwei Baumstämmen, schließlich ein.
Ein Reh, ein Fuchs
und zwei Hasen, die das Geschehen mit lebhaftem Interesse verfolgt hatten,
legten sich, nachdem der Fuchs um den Preis des im Glas verbliebenen Cognacs
den anderen unbehelligten Aufenthalt und freies Geleit zugesichert hatte, neben
und auf den Schlafenden, wärmten seine Flanken und seine Brust und da ein
unerwarteter Föhnsturm über Nacht Regen und mildere Temperaturen brachte,
wachte Hans-Hermann 24 Stunden später nass und mit heftigen Halsschmerzen, aber
ohne Erfrierungen auf, versuchte sich zu erinnern und trottete schließlich nach
Hause. Noch etwas benommen, verschmutzt
und mit Juckreiz am ganzen Körper – die Flöhe des Fuchses hatten die
Gelegenheit zu einem Ausflug genutzt – entschloss er sich, ein Erkältungsbad zu
nehmen und ließ Wasser in die Wanne. Er zögerte, als sein Blick auf den Fön
fiel: 1800 Watt. Vorsichtig legte er das Gerät auf den Rand, dort wo dieser am
breitesten war, und stieg in die Wanne. Das heiße Wasser umspülte seinen
ausgekühlten Körper, die ätherischen Öle ließen ihn freier atmen. Er starrte
den Fön an und schwankend zwischen Wunsch und Furcht hob er langsam das Bein,
zögerte noch einmal, schloss ganz fest die Augen und schob das Gerät mit einer
raschen Bewegung ins Wasser.
Es geschah nichts,
gar nichts. Er öffnete die Augen wieder, vorsichtig, eines nach dem anderen,
und ganz allmählich, geradezu mühsam, als müsse er sich einen Weg nach oben
erarbeiten, stieg ein Gedanke in sein Bewusstsein: er hatte vergessen, das
Kabel in die Steckdose zu stecken. Hans-Hermann setzte sich auf, nahm den
nassen Fön aus der Wanne, stieg selbst heraus, ebenso zögernd und umständlich,
wie vorher der Gedanke in sein Bewusstsein gedrungen war, öffnete den
Wasserablauf und trocknete sich zitternd
ab. Er setzte sich im Wohnzimmer in einen der abgeschabten Sessel, starrte auf
den staubigen Glastisch, den Picknickkorb mit dem klebrigen Glas und der halb
leeren Flasche und schließlich füllten sich seine Augen mit Tränen, quollen
über, die Tränen wuchsen sich aus zu kleinen Bächen, die anschwellend sein
Gesicht und seinen Bademantel nässten. Er weinte und weinte und konnte nicht
aufhören.
Als eine Woche
später das Ehepaar, das die Wohnung unter ihm bewohnte, aus dem Skiurlaub
zurückkehrte, fand es Decken und Wände durchnässt vor, auch der Boden trug
feuchte Spuren. Da ihnen auf Klingeln und Klopfen im Stockwerk darüber nicht
geöffnet wurde, riefen sie schließlich die Feuerwehr, die die Wohnung aufbrach.
Sie fanden Hans-Hermann Hunsinger tot vor einem Sessel liegend, den Fußboden
und die Wände auf halbe Höhe durchnässt vor. Polizei und Notarzt wurden verständigt.
Der Gerichtsmediziner diagnostizierte Tod durch Ertrinken und auch die
Obduktion gab keine weiteren Aufschlüsse. Rätselhaft blieb die Herkunft des
Wassers. Weder die hinzugezogenen Chemiker des Fraunhofer Instituts noch
Polizei und Gerichtsmedizin, die wochenlang Fakten prüften und mögliche Abläufe
erwogen, fanden jemals eine Erklärung für die weißen Ränder an Decken und
Böden. Nur dass es Salz war, das stand fest.
01.05.14
Sonja Meier
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