Mittwoch, 18. Juni 2014

Tod durch Ertrinken

Hans-Hermann Hunsinger betrachtete sich im Spiegel, prüfte die Wunde, die der am Tag zuvor gezogene Backenzahn hinterlassen hatte, strich sich über die letzte, dünne Haarsträhne über seiner Stirn, registrierte die Tränensäcke unter den Augen mit dem Fassungsvermögen der Restmülltonne des Sechs-Parteien-Hauses und beschloss den Verfall  seines Körpers erheblich zu beschleunigen, indem er seinem Leben ein Ende setzte. Nicht auf die Art und Weise, die ihm vor einiger Zeit sein langjähriger, vertrauter Orthopäde angeraten hatte, der empfahl, wenn er, Hans-Hermann, in dem fortgeschrittenen Alter, also jenseits der Fünfzig, gänzlich schmerzfrei sein wolle, so solle er in dem Haus, in dem sich die Arztpraxis befand, in den obersten Stock fahren – es sei der dreizehnte – dort zur Feuertreppe hinaustreten, von der kleinen Plattform auf die Brüstung steigen und hinabspringen und er, Hans-Hermann, könne sicher sein, sozusagen ärztlich garantiert, in kürzester Zeit  von Beschwerden jeglicher Art befreit zu sein. Hans-Hermann war vom dritten Stock, in dem sich die Praxis befand, bin in die zehnte Etage gefahren und dann die restlichen drei Stockwerke langsam, den quälenden Fersensporn ganz bewusst wahrnehmend, zu Fuß hinaufgestiegen. Er blickte über die Brüstung auf die Bahnhofsgebäude und auf die Schienenstränge, bis zu dem Punkt, wo sie sich in der Ferne verloren, und er blickte auf den Parkplatz unter ihm, wo Asphaltarbeiten durchgeführt wurden. Das Knattern der Presslufthämmer drang hinauf bis zu ihm und beleidigte sein empfindsames Ohr. Da er zudem keine Lust verspürte, einem verschwitzten Bauarbeiter auf den Kopf zu springen, war er wieder gegangen, war die Stockwerke hinuntergefahren – diesmal alle – und hatte die Entscheidung vertagt.
Er wollte, dachte er nun vor dem Spiegel, eine so nachhaltige Operation mit einem gewissen Stil erledigen und den angekündigten strengen Nachtfrost nutzen. Er kleidete sich an, verließ das Haus, erwarb in der nahe gelegenen Apotheke eine große Packung Schlaftabletten und im Feinkostgeschäft zwei Straßen weiter eine Flasche 25 Jahre alten Cognac zu 348.--€. Am späten Abend packte er Tabletten, Cognac, ein Glas, ein Sitzkissen und eine Taschenlampe in den Packnickkorb, zog – angesichts des Vorhabens – nur eine leichte Jacke über, verzichtete auf den Schal und ging in den Wald. Er ging lange, bis er eine Stelle fand, die ihm geeignet schien, ließ sich nieder und nahm die Tabletten mit Hilfe des Cognacs ein. Da er wenig Erfahrung mit Schlaftabletten und Alkohol hatte, wurde ihm zwar übel, doch wurde er auch rasch etwas benommen. Die Welt begann sanft zu schaukeln, und nach dem Genuss etwa der Hälfte des Proviantes schlief er, eingebettet zwischen zwei Baumstämmen, schließlich ein.
Ein Reh, ein Fuchs und zwei Hasen, die das Geschehen mit lebhaftem Interesse verfolgt hatten, legten sich, nachdem der Fuchs um den Preis des im Glas verbliebenen Cognacs den anderen unbehelligten Aufenthalt und freies Geleit zugesichert hatte, neben und auf den Schlafenden, wärmten seine Flanken und seine Brust und da ein unerwarteter Föhnsturm über Nacht Regen und mildere Temperaturen brachte, wachte Hans-Hermann 24 Stunden später nass und mit heftigen Halsschmerzen, aber ohne Erfrierungen auf, versuchte sich zu erinnern und trottete schließlich nach Hause.  Noch etwas benommen, verschmutzt und mit Juckreiz am ganzen Körper – die Flöhe des Fuchses hatten die Gelegenheit zu einem Ausflug genutzt – entschloss er sich, ein Erkältungsbad zu nehmen und ließ Wasser in die Wanne. Er zögerte, als sein Blick auf den Fön fiel: 1800 Watt. Vorsichtig legte er das Gerät auf den Rand, dort wo dieser am breitesten war, und stieg in die Wanne. Das heiße Wasser umspülte seinen ausgekühlten Körper, die ätherischen Öle ließen ihn freier atmen. Er starrte den Fön an und schwankend zwischen Wunsch und Furcht hob er langsam das Bein, zögerte noch einmal, schloss ganz fest die Augen und schob das Gerät mit einer raschen Bewegung ins Wasser.
Es geschah nichts, gar nichts. Er öffnete die Augen wieder, vorsichtig, eines nach dem anderen, und ganz allmählich, geradezu mühsam, als müsse er sich einen Weg nach oben erarbeiten, stieg ein Gedanke in sein Bewusstsein: er hatte vergessen, das Kabel in die Steckdose zu stecken. Hans-Hermann setzte sich auf, nahm den nassen Fön aus der Wanne, stieg selbst heraus, ebenso zögernd und umständlich, wie vorher der Gedanke in sein Bewusstsein gedrungen war, öffnete den Wasserablauf  und trocknete sich zitternd ab. Er setzte sich im Wohnzimmer in einen der abgeschabten Sessel, starrte auf den staubigen Glastisch, den Picknickkorb mit dem klebrigen Glas und der halb leeren Flasche und schließlich füllten sich seine Augen mit Tränen, quollen über, die Tränen wuchsen sich aus zu kleinen Bächen, die anschwellend sein Gesicht und seinen Bademantel nässten. Er weinte und weinte und konnte nicht aufhören.
Als eine Woche später das Ehepaar, das die Wohnung unter ihm bewohnte, aus dem Skiurlaub zurückkehrte, fand es Decken und Wände durchnässt vor, auch der Boden trug feuchte Spuren. Da ihnen auf Klingeln und Klopfen im Stockwerk darüber nicht geöffnet wurde, riefen sie schließlich die Feuerwehr, die die Wohnung aufbrach. Sie fanden Hans-Hermann Hunsinger tot vor einem Sessel liegend, den Fußboden und die Wände auf halbe Höhe durchnässt vor. Polizei und Notarzt wurden verständigt. Der Gerichtsmediziner diagnostizierte Tod durch Ertrinken und auch die Obduktion gab keine weiteren Aufschlüsse. Rätselhaft blieb die Herkunft des Wassers. Weder die hinzugezogenen Chemiker des Fraunhofer Instituts noch Polizei und Gerichtsmedizin, die wochenlang Fakten prüften und mögliche Abläufe erwogen, fanden jemals eine Erklärung für die weißen Ränder an Decken und Böden. Nur dass es Salz war, das stand fest.

01.05.14
Sonja Meier


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