I. Diesseits
Am schlimmsten ist das
Alleinsein. Dass jetzt niemand mehr was sagt. Hilde hat dauernd geredet, Na ja,
am Schluss auch nicht mehr. Am Schluss war sie zu müde, aber wenn sie was
gesagt hat, hat sie meistens gemeckert. Es konnte ihr ja niemand was recht
machen. Ich sowieso nicht. Wegen ihrem Gemecker hat es ja keine lange bei uns
ausgehalten, auch Dana nicht und die war geduldig und fleißig war sie auch.
Deutsch hat sie nicht so gut gekonnt; ich glaube, drum konnte sie das Nörgeln
von Hilde ganz gut ab. Sie war überhaupt so fröhlich, trotz der Arbeit. Sie hat
geputzt und gekocht und Rasen gemäht und gegossen, wenn‘s nötig war. Und
manchmal hat sie mich gedrückt und gesagt: „Missen Sonne genießen, wenn
scheint“, aber nur, wenn Hilde nicht im Raum war.
Dana ist schon lange weg, ja –
und meine Hilde jetzt auch. Ich hab‘ nicht gedacht, dass es schlimmer sein
könnte, wenn sie tot ist, eher, es wäre eine Erlösung – für uns beide, wo ihr
doch immer alles weh getan hat. Und gesehen hat sie auch nichts mehr. Aber
jetzt ist alles noch viel schlimmer. Die Stille den ganzen Tag. Und so ein Tag
ist endlos und die Nacht auch. Manchmal trink‘ ich dann ein Gläschen. Hilde hat
ja immer geschimpft. Alkohol ist Gift und so. Dana war lieb, die hat das gemerkt
und hat mir dann manchmal einen Rotwein in die Teetasse geschüttet, obwohl
Hilde ja fast nichts mehr gesehen hat. Aber wenn da ein Weinglas gestanden
wäre, das hätte sie gesehen. Bestimmt.
Hilde besucht mich jetzt manchmal
nachts und da kann ich mit ihr reden wie früher. Da schimpft sie nicht. Und ich
kann sie sogar was fragen und manchmal lachen wie zusammen. Das ist so deutlich,
als wär‘ sie wirklich da. Irgendwie, glaube ich, ist sie das auch. Ich hab‘ ihr
erzählt, dass ich ins Heim soll, weil es hier nicht mehr geht, aber da will ich
nicht hin. Sind ja nur lauter Alte dort und kein Garten. Meine Hilde hat nichts
gesagt, ich glaube, sie war nur froh, dass sie das nicht mehr erleben musste.
Bei ihr hatte der Liebe Gott ein Erbarmen und hat sie geholt. Aber mich hat er
vergessen, einfach übersehen hat er mich. Na ja, die Hilde konnte man nicht
übersehen … Jeden Tag bet‘ ich zu ihm, dass er mich auch holen soll. Is‘ ja
nichts mehr los mit mir. Und die andern sind alle schon tot. Der letzte war der
Wilhelm. Ich war auf der Beerdigung. Das war gar nicht lange nach der von
meiner Hilde … oder vorher? Genau weiß ich das nicht mehr. Es ist alles so
mühsam … Harry sagt, er hätte das Grab neben unserm; das ist schön, wo wir doch
ein Leben lang Nachbarn waren. Ich wär‘ auch lieber dort, dann wären wir alle
wieder zusammen. Ins Heim will ich nicht. Also bet‘ ich wieder … um ein
Erbarmen.
II. Jenseits
Am schlimmsten ist die
Einsamkeit. Diese Ablehnung überall! Können Sie sich vorstellen, wie das ist,
wenn einen niemand mag? Wenn man nur gefürchtet und gehasst wird? Ein bisschen
Anerkennung und Zuneigung braucht schließlich jeder. Ich auch. Aber wo ich auch
hinkomme, Blässe und angstgeweitete Augen. Das Symbol für alles Schlechte, das
bin ich. Und irgendwie komme ich immer zur Unzeit. Dabei suche ich mir das
nicht aus. Tag und Stunde, die bestimmt der Big Boss und ich muss mich sputen,
alles auf die Reihe zu kriegen. Manche Tage sind Stress pur. Dabei habe ich ein
relativ ruhiges Gebiet: Europa und Asien bis zum 80. Längengrad, aber ohne
Indien. Das hat der Kollege. Der plagt sich mehr, das können Sie mir glauben,
aber am ärmsten ist der für Afrika dran. Man trifft sich ja manchmal bei Workshops und so und tauscht sich aus. Ist aber auch selten geworden. Und der Alltag
ist trist. Dass mal einer mit einem Karten spielen will oder sogar Schnaps
serviert, das gibt’s nur alle paar hundert Jahre. Der Kaspar B., der hat’s
drauf gehabt; an den Kater erinnere ich mich heut‘ noch! Aber schließlich ging
er doch mit – und nicht einmal so ungern. Weil er zu den Seinen wollt‘. Der hat
eingesehen, dass nicht alles schlecht ist an unsereinem. Schließlich bieten wir
auch etwas: ewigen Frieden zum Beispiel. Den kriegen Sie dort auf der Erde nie.
Und ich komme ja auch nicht immer polternd oder eiskalt oder grausam, obwohl
auch das nicht in meiner Hand liegt, jedenfalls ist der Spielraum begrenzt.
Ganz oft komme ich leise und mit einem Lächeln für die, die es sehen können.
Aber wenn natürlich einer partout nicht will, aber soll, dann werde ich auch
mal nachdrücklich. Meinen Zeitplan muss ich einhalten, denn Tag und Stunde sind
festgeschrieben.
04.12.19
Sonja Meier
Sonja Meier
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