Montag, 16. Dezember 2019

Der Grat



I. Diesseits
Am schlimmsten ist das Alleinsein. Dass jetzt niemand mehr was sagt. Hilde hat dauernd geredet, Na ja, am Schluss auch nicht mehr. Am Schluss war sie zu müde, aber wenn sie was gesagt hat, hat sie meistens gemeckert. Es konnte ihr ja niemand was recht machen. Ich sowieso nicht. Wegen ihrem Gemecker hat es ja keine lange bei uns ausgehalten, auch Dana nicht und die war geduldig und fleißig war sie auch. Deutsch hat sie nicht so gut gekonnt; ich glaube, drum konnte sie das Nörgeln von Hilde ganz gut ab. Sie war überhaupt so fröhlich, trotz der Arbeit. Sie hat geputzt und gekocht und Rasen gemäht und gegossen, wenn‘s nötig war. Und manchmal hat sie mich gedrückt und gesagt: „Missen Sonne genießen, wenn scheint“, aber nur, wenn Hilde nicht im Raum war.
Dana ist schon lange weg, ja – und meine Hilde jetzt auch. Ich hab‘ nicht gedacht, dass es schlimmer sein könnte, wenn sie tot ist, eher, es wäre eine Erlösung – für uns beide, wo ihr doch immer alles weh getan hat. Und gesehen hat sie auch nichts mehr. Aber jetzt ist alles noch viel schlimmer. Die Stille den ganzen Tag. Und so ein Tag ist endlos und die Nacht auch. Manchmal trink‘ ich dann ein Gläschen. Hilde hat ja immer geschimpft. Alkohol ist Gift und so. Dana war lieb, die hat das gemerkt und hat mir dann manchmal einen Rotwein in die Teetasse geschüttet, obwohl Hilde ja fast nichts mehr gesehen hat. Aber wenn da ein Weinglas gestanden wäre, das hätte sie gesehen. Bestimmt.
Hilde besucht mich jetzt manchmal nachts und da kann ich mit ihr reden wie früher. Da schimpft sie nicht. Und ich kann sie sogar was fragen und manchmal lachen wie zusammen. Das ist so deutlich, als wär‘ sie wirklich da. Irgendwie, glaube ich, ist sie das auch. Ich hab‘ ihr erzählt, dass ich ins Heim soll, weil es hier nicht mehr geht, aber da will ich nicht hin. Sind ja nur lauter Alte dort und kein Garten. Meine Hilde hat nichts gesagt, ich glaube, sie war nur froh, dass sie das nicht mehr erleben musste. Bei ihr hatte der Liebe Gott ein Erbarmen und hat sie geholt. Aber mich hat er vergessen, einfach übersehen hat er mich. Na ja, die Hilde konnte man nicht übersehen … Jeden Tag bet‘ ich zu ihm, dass er mich auch holen soll. Is‘ ja nichts mehr los mit mir. Und die andern sind alle schon tot. Der letzte war der Wilhelm. Ich war auf der Beerdigung. Das war gar nicht lange nach der von meiner Hilde … oder vorher? Genau weiß ich das nicht mehr. Es ist alles so mühsam … Harry sagt, er hätte das Grab neben unserm; das ist schön, wo wir doch ein Leben lang Nachbarn waren. Ich wär‘ auch lieber dort, dann wären wir alle wieder zusammen. Ins Heim will ich nicht. Also bet‘ ich wieder … um ein Erbarmen.


II. Jenseits
Am schlimmsten ist die Einsamkeit. Diese Ablehnung überall! Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn einen niemand mag? Wenn man nur gefürchtet und gehasst wird? Ein bisschen Anerkennung und Zuneigung braucht schließlich jeder. Ich auch. Aber wo ich auch hinkomme, Blässe und angstgeweitete Augen. Das Symbol für alles Schlechte, das bin ich. Und irgendwie komme ich immer zur Unzeit. Dabei suche ich mir das nicht aus. Tag und Stunde, die bestimmt der Big Boss und ich muss mich sputen, alles auf die Reihe zu kriegen. Manche Tage sind Stress pur. Dabei habe ich ein relativ ruhiges Gebiet: Europa und Asien bis zum 80. Längengrad, aber ohne Indien. Das hat der Kollege. Der plagt sich mehr, das können Sie mir glauben, aber am ärmsten ist der für Afrika dran. Man trifft sich ja manchmal bei Workshops und so und tauscht sich aus. Ist aber auch selten geworden. Und der Alltag ist trist. Dass mal einer mit einem Karten spielen will oder sogar Schnaps serviert, das gibt’s nur alle paar hundert Jahre. Der Kaspar B., der hat’s drauf gehabt; an den Kater erinnere ich mich heut‘ noch! Aber schließlich ging er doch mit – und nicht einmal so ungern. Weil er zu den Seinen wollt‘. Der hat eingesehen, dass nicht alles schlecht ist an unsereinem. Schließlich bieten wir auch etwas: ewigen Frieden zum Beispiel. Den kriegen Sie dort auf der Erde nie. Und ich komme ja auch nicht immer polternd oder eiskalt oder grausam, obwohl auch das nicht in meiner Hand liegt, jedenfalls ist der Spielraum begrenzt. Ganz oft komme ich leise und mit einem Lächeln für die, die es sehen können. Aber wenn natürlich einer partout nicht will, aber soll, dann werde ich auch mal nachdrücklich. Meinen Zeitplan muss ich einhalten, denn Tag und Stunde sind festgeschrieben.

04.12.19
Sonja Meier


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