Montag, 16. Dezember 2019

Dorfleben


Sagen Sie nie, das Landleben sei langweilig, das ist grundfalsch. Glauben Sie mir, auch fern der Stadt können Sie anregenden Alltag erleben.
 Nehmen wir zum Beispiel R., ein idyllisch gelegenes Örtchen, etwa zehn Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, eingebettet in die sanfthügelige Landschaft Frankens; zwei Bauernhöfe, eine Mühle, im übrigen gepflegte Ein- und Zweifamilienhäuser in ebenso gepflegten Gärten, vereinzelt, wirklich nur vereinzelt, ein Gartenzwerg. Es ist später Vormittag an einem warmen, sonnigen Sommertag. Die Jagdstraße liegt, wie alle umliegenden Straßen, in meditativer Ruhe. Nichts bewegt sich. Nur ein weißer Transporter fährt langsam die Straße hinauf und hält vor Nummer zwölf. Sicherheitsdienst Müller, so die rote Aufschrift an der Seite. Zwei Männer mittleren Alters steigen aus, zögern, da tritt ein Dritter hinzu. Jünger, schlank, dunkelhaarig, mit Sonnenbrille. Es ist nicht ganz klar, wo der plötzlich herkommt. Von der anderen Straßenseite? Von dem dunklen PKW, der weiter vorne steht? Die Männer grüßen kurz, gehen zur Haustür von Nummer zwölf und klingeln. Das können sie lange tun, Familie B. ist verreist und kommt erst am Wochenende zurück. Und der Mieter der Einliegerwohnung arbeitet, sonst wäre sein Auto da. So was weiß man hier einfach; außerdem steht die alte Rostlaube immer im Weg.
Der junge Mann klingelt wieder, nichts tut sich, natürlich nicht. Der ältere aus dem Transporter, er trägt einen imponierenden Schnauzbart,  holt von dort einen Werkzeugkoffer, während der junge versucht, um das Haus herumzugehen. Nein, da kommt er nicht weit. Dort ist eine Mauer und ein Tor; das ist zu, wenn B. nicht da sind. Die drei sehen sich unschlüssig um. Es ist niemand zu sehen und nichts zu hören, außer den Spatzen im Haselnussstrauch von Nr. 11. Die plärren immer. Der ältere Mann geht schließlich ein paar Schritte weiter zu einem Fenster. Das ist gekippt und gehört zur Küche der Einliegerwohnung. Er holt eine Art Leine aus dem Koffer, bindet eine Schlinge und fängt an, an dem Fenster herumzufummeln. Spätestens jetzt schrillen doch alle Alarmglocken. Die Masche kennt man doch! Wo kommt eigentlich das Auto her? Das Nummernschild ist zu schmutzig, um es sicher lesen zu können. Typisch! Genauso gehen die doch vor! Dass da niemand aufmerksam wird … Der junge Man sieht sich immer wieder um, ungeduldig, sagt ärgerlich etwas zu dem dritten, der nur dabeisteht. Herrgott, sind das Dilettanten! Jetzt fummeln die schon eine Viertelstunde an dem Fenster rum und niemand kommt und fragt: Was machen Sie da eigentlich, meine Herren?
Aber Moment, bewegt sich da nicht ein Vorhang im Esszimmer von Nummer neun? Der alte Benno S. lugt durch dicke Brillengläser und tritt nach einer Weile, bewaffnet mit einer Gartenschere, nach draußen. Jetzt ist das Fenster von Nummer zwölf offen und zwei der Männer klettern ins Haus. Der dritte, der bis jetzt untätig war, bleibt am Transporter stehen und öffnet die rückwärtigen Türen. Nein, dem ist Benno nicht gewachsen. Er schlurft zurück ins Haus, die kurzen Schritte fast zum Laufen beschleunigt. Nicht einmal zehn Minuten später fährt ein Streifenwagen mit erhöhter Geschwindigkeit, aber ohne Blaulicht und Sirene die Jagdstraße hinauf. Ja, auch auf dem Land ist dein Freund und Helfer immer in der Nähe. Der Mann am Transporter kratzt sich den Kopf und ruft etwas Richtung Haus. Die Beamten springen aus dem Wagen, beobachtet, im Sichtschutz seiner Lorbeerhecke, von Benno S., der vor Aufregung rote Bäckchen hat und an den Nägeln kaut.
Vor Nummer zwölf gibt es einen kurzen Disput und dann – dann, ja dann steigt einer der Polizeibeamten durch das offene Fenster! Benno hält sich am Gartenzaun fest. Quälende zwanzig Minuten geschieht nichts, dann klettert der junge Mann wieder heraus und hievt mithilfe des Untätigen, in den jetzt plötzlich Leben kommt, etwas augenscheinlich sehr Schweres, Unhandliches heraus. Auch der zweite Polizist packt schließlich mit an. Donnerwetter: Burmester B 80! Die wiegen was. Die Männer schwitzen, die Box verschwindet im Auto, der Polizist notiert etwas, die nächste Box folgt der ersten, dann steigt der junge Mann wieder ins Haus, schließt das Fenster von innen und kommt nach einer Weile mit dem Schnauzbärtigen und dem Polizisten durch den Garten und das Tor nach draußen. Er wirft einen letzten Blick zurück, verabschiedet sich per Handschlag von seinen Begleitern und den Polizisten und geht die Straße hinauf. Transporter und Polizeiwagen fahren in verschiedene Richtungen davon. Benno S. hat es bis zur Gartenbank geschafft und versucht, wieder zu Atem zu kommen. Die Jagdstraße liegt in mittäglicher Ruhe, selbst die Spatzen schweigen jetzt.
Und nur der aufmerksame Leser der Landkreisnachrichten am Freitag stolpert vielleicht über die zweispaltige Kurzmeldung ganz am Schluss:
Zu einem kuriosen Einsatz wurde die Polizei am Dienstag in R. gerufen, wo vermeintliche Diebe das gekippte Fenster einer Einliegerwohnung geöffnet hatten und von dort zwei wertvolle Stereoboxen in ihren Transporter schafften. Es handelte sich um die Zwangsöffnung einer Wohnung durch den Gerichtsvollzieher, der wegen Zahlungsverzuges des Vollstreckungsschulders die Pfandstücke abholen musste. Um die Haustüre des ahnungslosen Hauseigentümers nicht zu beschädigen, hatte er diesen Weg gewählt, den der Mieter (und Schuldner des Verfahrens) ihm fahrlässig selbst gewährt hatte. Die Polizisten leisteten Amtshilfe und packten mit an.

09.11.19
Sonja Meier


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen