Samstag, 28. November 2015

Magic Cleaning

Ich werde ein ganz neuer Mensch sein, kaum wiederzuerkennen. Mein neuer Ratgeber verspricht mir wahre Wunder, wenn es mir nur gelingt, meine sämtlichen irdischen Besitztümer zu durchforsten, nur das zu behalten, was ich liebe und den Rest konsequent und gnadenlos zu entsorgen. Die wenigen Dinge, die noch übrig bleiben, seien dann ganz leicht in eine harmonische, dauerhafte Ordnung zu bringen. „Magic Cleaning“ heißt die Methode. Und die Belohnung für diesen Kraftakt kann sich sehen lassen: Frei werdende Energien! Sprühende Kreativität! Ruhe und Gelassenheit, weil ich nie wieder etwas suchen muss! Eine glücklichere Familie und neuer Schwung in der Ehe! Ganz nebenbei werde ich natürlich einige Kilos verlieren, denn wenn ich meinem Haus diese Entschlackungskur angedeihen lasse, wird mein Körper automatisch mitziehen.
Also, frisch ans Werk! Das Buch rät mir, mit der Kleidung anzufangen. Alle Klamotten raus aus dem Schrank, aus der Sporttasche, von der Garderobe und aus der Sofaecke. Alles kommt auf einen Haufen. Nun soll ich jedes Teil in die Hand nehmen und mich fragen, ob ich es liebe. Lautet die Antwort „Nein!“, kommt es weg – egal, ob es sauteuer war oder noch fast neu ist. Das wird toll! Nie wieder werde ich so eine Klischeefrau sein, die einen vollgestopften Kleiderschrank und nichts zum Anziehen hat!
Der Anfang ist leicht: Fusselige Pullover, Sweatshirts, die mir ein Wurstpellengefühl vermitteln, geerbte Schlabberteile in scheußlichen Farben – kein Problem, die alle in einen Altkleidersack zu stopfen. Die Autorin meines Buches verlangt jetzt aber, dass ich mich bei jedem Teil bedanke, von dem ich mich verabschiede. Das ist schon schwerer. Soll ich wirklich sagen: „Liebes schwarzes Spitzennachthemd, ich danke dir für die Erkenntnis, dass ich doch nicht der Typ für Vamp-Klamotten bin – ich wünsche dir viel Glück auf deinem weiteren Lebensweg?“ Nicht wirklich mein Ding. Beim Blick in den Spiegel stelle ich vielmehr fest, dass mein Gesichtsausdruck dem eines Revolverhelden aus einem Italo-Western ähnelt – kurz vor dem nächsten Abschuss. Grimmig lasse ich meinen Blick über den Kleiderhaufen wandern: Grüner Trachtenmantel, du entkommst mir nicht! Ha, nimm das, du Urlaubskleid von minderer Qualität!
Schließlich habe ich mich so in Rage sortiert, dass mir ganz flau wird. Eine Pause ist angesagt. Ich koche Tee und stopfe mir ein paar Stücke Schokolade in den Mund. Die Sache mit dem Abnehmen ist schließlich erst nach beendeter Entrümpelungsaktion dran. Außerdem schreibt die Autorin, dass das Ganze ein Aufräumfest sein soll – na ja, sie ist Japanerin und hat wohl eine ganz andere Vorstellung vom Feiern als ich.
Noch ein paar Kekse,. dann geht es weiter. Bei den Socken und Strümpfen scheitere ich endgültig an der Frage „Du liebst sie, du liebst sie nicht“. Ich kann doch nicht alle meine Socken wegwerfen, nur weil sie mein Herz nicht berühren! Die einzigen Strümpfe, die ich liebe – Overknees in taubenblau mit orangefarbenem Pünktchenmuster, mit Mäusezahnrand und Schleife, mehrfach geflickt – trage ich gar nicht mehr, weil sie rutschen. Ich entschließe mich zu einem pragmatischeren Ansatz und werfe nur weg, was kaputt, ausgeleiert oder verfärbt ist. Liebe hin oder her, schließlich will ich im Winter nicht barfuß gehen.
Am Ende bin ich ganz zufrieden: Mein Kleiderschrank sieht wirklich ordentlich und übersichtlich aus. Dumm nur, dass ich zwar noch viele T-Shirts, aber fast keine Hosen und Pullover mehr übrig habe. Da muss ich wohl mal wieder einkaufen gehen – natürlich mit System und mit Bedacht!
Demnächst kommen die Bücher dran. Wie das gehen soll, weiß ich auch noch nicht – keine Ahnung, ob ich „Die Brüder Karamasow“ liebe oder nicht, schließlich habe ich es noch nicht gelesen. Doch für heute ist es genug, ich stelle meinen Ratgeber erst mal zurück ins Regal, gleich neben „Simplify your Life“, „Gut Aufgeräumt“ und „Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags“

von Pia Winkler

Freitag, 13. November 2015

Zwei flotte Käfer

Als meine Schwester Isabell Anfang der 70iger ihre Führerscheinprüfung bestanden hatte, brachen neue Zeiten an. Für sie, für mich und für unsere Mutter. Letztere hätte es erahnen können, spätestens, als auf ihren sonnengelben Käfer ein Fußball großes Keep Smiling gepappt wurde. Unwiderruflich wie der Kuckuck vom Gerichtsvollzieher.
Zunächst wurde das Ereignis gefeiert und unter Kontrolle von Muttern die ersten Runden um den Block gezogen.
Erster Gang, langsam anrollen ohne ihn abzuwürgen.
„Beide Hände an den Lenker!“
„Nicht so früh schalten!“
„Vorsicht, da ist ein Fußgänger!“
„Die Kupplung langsamer kommen lassen! Jetzt ist er abgesoffen.“
Nicht nur der Käfer streikte. Auch Isabell. Durch den Rückspiegel schaute sie mich mit wie Warnbojen blinkenden Pickeln an.
Uns wurde klar, in die weite Welt hinaus fahren, sie neu entdecken, erobern, das ging nur ohne Mutter. Außerdem war Isabell der Meinung, dass zu ihrer neuen Freiheit auch ein neues Gesicht gehöre: diese Pickel müssen weg. Wir dachten damals in Zeitschriften wie Petra, an Schönheitsprogramme à la „große und kleine Brigitte“ und natürlich an die Bravo. Isabell durfte sie nun offiziell lesen, ich nur undercover und sammelte heimlich die Einzelteile von Little Jo. Der schaffte es als Ganzes zusammengeklebt und in Lebensgröße an meine Zimmertüre. Er war übrigens das letzte Bild eines Mannes, das ich mir zusammensetzte. Später war es eher umgekehrt.

Wir durchforsteten die Gelben Seiten nach Kosmetikerinnen. Nicht hier im Städtchen, sondern weiter draußen, viel weiter draußen sollte das Studio sein. In Langerwehe wurden wir fündig. Mit dem Auto circa 25 Minuten über Land. Frau Plunder bot sogar eine Gruppenveranstaltung an, bei der auch ich mitkommen konnte. Zwei zum Preis von einer. Wenn das nicht ein Argument war. Bei mir machte sich die Pubertät leider auch sichtbar. Im Gesicht schossen aktive Minivulkane hervor, die regelmäßig ausbrachen.
Das zweite nicht widerlegbare Argument war, dass die Gesichtsmasken und Cremes bei Frau Plunder von jedem Teilnehmer selbst angerührt werden konnten. Für Isabel eine wunderbare erste Übung in Salben anrühren, da sie ab Herbst mit ihrem Pharmaziestudium beginnen würde. Unsere Mutter gab sich geschlagen. Wir fuhren, sie blieb.

Dann war es soweit. Los ging’s mit der neuesten Kassette von „Bläck Fööss“ in ohrenbetäubender Lautstärke. Mit einem Käfer fährt man nicht, ein Käfer fliegt. Langerwehe wir kommen, mit offenen Fenstern und flatterten Haaren.
Kein Mal würgte Isabell den Motor ab und immer schnurrte der richtige Gang. Nur ein Radfahrer schimpfte hinter uns her, nachdem wir an ihm vorbeigefahren waren. Isabell warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel und meinte schlichtend in mein erschrockenes Gesicht:
„Ach was, Lisa, der schimpft nicht, der winkt uns bloß.“

Wir waren acht Frauen in bester Stimmung und Alter. Allerdings hatten die Anderen keine Pickel mehr, dafür gehörten sie in die Kategorie: Spatel Alter. Das war aber nebensächlich. Hatte man die Pampe einmal drauf, sahen wir eh alle gleich aus. Wen interessierte es, was man darunter verbarg?
Isabell und ich hatten die Auswahl zwischen vier Masken. Meine Schwester konnte sich, wie so oft, nicht entscheiden und schlug mit schrägem Grinsen vor, wir rühren alle an und nehmen den Rest mit. Sie hätte da schon etwas vorbetreitet und schielte zu ihrer Tasche. Nicht nur das Anrühren im Akkord war ganz schöner Stress. Ich musste Frau Plunder immer wieder in ein Gespräch verwickeln, damit Isabel heimlich die mitgebrachten Arzneidöschen befüllen und verschwinden lassen konnte.

Als der Kurs zu Ende war und die anderen mit frischen, neuen Gesichtern erstrahlten, hatten wir beide noch unsere grüne Pampe im Gesicht. Noch war sie kühl und feucht, was sich schnell ändern sollte.
Frau Plunder, wenn auch etwas zögerlich, ließ uns so nach Hause fahren. Mit dem Auto seien es ja auch nur 20 Minuten und draußen bereits duster. Isabell konnte schon immer überzeugend und charmant sein, wenn sie wollte.

Gut gelaunt machten wir uns, im 4-Zylinder 4-Takt vom Acker. Die Landstraße war bereits um 21:00 Uhr leergefegt, fast ganz. Da stand ein Auto am Straßenrand. Mist, ein Polizeiauto. Verkehrskontrolle. Isabel bremste, dass wir in der Gurt flogen.
Schnell schaltete ich das Radio aus. Tatsächlich, zwei Polizisten kamen O-beinig auf uns zu. Leider keiner von der Ponderosa. Isabel kurbelte die Fensterscheibe runter.
„Ihre Papiere bitte.“
„Kanscht die ma aus der Kap hole“, nuschelte mir Isabell zu.
„Hä?“ Ach du meine Güte, diese dämliche Maske waren wie ich erstarrt. Noch nicht mal mehr die Lippen ließen sich richtig bewegen.
„Hö hi Huhu“, versuchte sie es noch mal und zeigte hektisch auf das Handschuhfach.
„Haben Sie etwas getrunken?“, fragte der Polizist und beugte sich zu ihr herunter.
Isabel schüttelte den Kopf und reichte ihm Fahrzeugschein und Führerschein durchs Fenster. Mit der Taschenlampe beleuchtete er zuerst die Papiere und dann uns.
„Aussteigen!“, schrie er. Danach ging alles sehr schnell. Die Türen wurden aufgerissen, wir beide herausgezogen und mit den Händen ans Dach gestellt. Beine breit.
„Spin Sie do?“, schimpfte Isabell, so gut wie möglich.
Dann mussten wir unsere Hände hinterm Kopf verschränken und uns langsam umdrehen. Verzweifelt versuchte meine Schwester dem Polizisten zu erklären, dass wir von einer Kosmetikerin kamen und nur eine harmlose Gesichtsmaske im Gesicht hatte. Der Jüngere der beiden kam näher heran und leuchtete uns voll ins Gesicht. Dann fing er an zu grinsen.
Mithilfe der geklauten, angerührten Masken konnten wir unsere Unschuld endgültig beweisen. Nun grinste auch der ältere Polizist. Die zwei hatten ihren Spaß.
Immerhin durften wir einsteigen und losfahren. Kurz bevor wir zu Hause ankamen fiel Isabell ein, dass die Bullen vergessen hatten uns ein Knöllchen aufzuschreiben. Wir lachten bis die Masken rissen.

© Frau Gunkelberg 11/15

Donnerstag, 12. November 2015

Alles eine Frage der Einteilung



Man muss nur früh genug aufstehen; wirklich, es ist unglaublich, was man an einem Tag schaffen kann, wenn man beizeiten aufsteht. Und natürlich der Zeitplan! Ist viel zu tun, muss die Organisation stimmen. Ich habe Gäste heute Abend. Marlene und Willy kommen zum Essen. H. hat sich unter der fadenscheinigen Ausrede, arbeiten zu müssen, bereits gestern Abend ausgeklinkt, aber ich weiß, dass er Marlene nicht mag. Bei ihr spricht er von Redewasserfällen, Wortkaskaden und sprachlichen Untiefen, was nicht ganz gerecht ist. Allerdings muss ich zugeben, dass ihr Mitteilungsbedürfnis  dem seinen diametral entgegengesetzt ist.
Punkt 8.30 Uhr springe ich aus dem Bett und Oskar, der, H.s Abwesenheit ausnützend,  sofort fünfzig Prozent des Bettes für sich beansprucht hatte, streckt sich, geht von behaglichem Schnurren zu einer Art Glücksgrunzen über und rollt sich in der Mitte des Bettes wieder zusammen. Ein Bild der Gelassenheit.
Ich mache Katzenwäsche, nur Zähneputzen und mit dem Kamm einmal durchs Haar, duschen und Haare waschen kommt später. Es ist schön, Gäste frisch und gepflegt zu empfangen, mit diesem Hauch von Feuchtigkeit auf der Haut, der von Entspannung zeugt und Souveränität. Es gibt Gemüselasagne, die ich gestern Abend schon vorbereitet habe, vorher einen leichten Salat mit frischer Ananas und zum Dessert Mangocreme, also nichts, was nicht zu schaffen wäre. Allerdings muss ich vorher noch die Wohnung putzen. Die vergangene Woche war beruflich aufreibend, die Putzfrau hat vor zwei Monaten gekündigt und Oskar ist – wie eigentlich elf Monate im Jahr – im Fellwechsel. Zeit für Morgengymnastik ist heute nicht, aber Kaffee muss sein. Ich setze ihn auf, hole die Zeitung herein und fange an zu arbeiten. Zuerst Staub wischen. Ich lege Bruce Springsteen ein und tanze rhythmisch mit feuchtem Wischtuch durch die Wohnung – ersetzt glatt die Gymnastik! Ein paar Bücher liegen herum; ich stelle sie ins Regal. Erich Kästners lyrische Hausapotheke, köstlich! Zu Putzen und Fleiß finde ich nichts, wohl aber zur Faulheit, Seite 118, 119, vierte Strophe: …. Und Uhren ticken rings in allen Taschen/die Zeit entflieht und will, man soll sie haschen….O.K. Ich lege das Buch weg und trage die Gläser vom Vortag zur Spülmaschine. Dort steht der Kaffee, der ist inzwischen kalt; egal, so trinke ich ihn auch.
Beim Betreten des Badezimmers verfange ich mich in einer Wolke Klopapier, das Oskar nach Beendigung seines Verdauungsschlafs abgerollt und über den Boden verteilt hat. Stolz und diabolisch schwarz sitzt er in der Mitte, über sein ganzes rundes Katergesicht lachend, mit weißem Pfötchen die Wolke schlagend. Es war die letzte Rolle, verfl….Beim Nachbarn läuten und um Toilettenpapier bitten am Samstagmittag? Lieber Einkaufen gehen, schließlich habe ich noch alle Zeit dieser Erde. Schnell zum Supermarkt um die Ecke. Dort haben sie wunderbare kleine Freilandrosen in leuchtendem orangerot. Ich nehme zehn Stück mit – ein bezaubernder Farbklecks im Flur. Zu Hause vermisse ich das Klopapier, also noch mal zurück. An der Kasse händigt man es mir mit tadelndem Blick aus. Ich eile in meine Wohnung, klaube das aufgerollte Papier zusammen, schrubbe das Bad und wende mich der Küche zu. Gut, das ist schon anspruchsvoller. Ich entscheide rasch, erst den Tisch im Esszimmer zu decken und sehe auf die Uhr. Noch ganz viel Zeit. Schön sieht er aus, der gedeckte Tisch, aber vielleicht wären die grünen Servietten doch passender. Mist, sie reichen nicht mehr für alle. Also gut, dann eben doch die grauen und neben jeden Teller ein Nougatherzchen. Wirklich hübsch, doch ich nehme sie nochmal weg, denn Oskar weiß zwar, dass ein festlich gedeckter Tisch absolut tabu ist, aber ich weiß, dass er sich absolut lautlos bewegen kann. Ich schreibe einen Erinnerungszettel - Nougatherzchen!! - und lege ihn neben den Herd.
Es ist schon erstaunlich, wie die Zeit vergeht, wenn man konzentriert arbeitet. Die Küche ist ein Schlachtfeld, alles klebt vom Ananassaft und es ist schon fast vier. Außerdem habe ich Hunger und inzwischen tut mir das Kreuz weh. Wie gemein von H., mich so sitzen zu lassen! Vermutlich gönnt er sich heute eine XXL-Currywurst und verbringt den Abend mit hochgelegten Füßen vor dem Fernseher.
Ich mache mir ein Brot, setze mich kurz hin und greife zur Zeitung. Nur einen klitzekleinen Blick hineinwerfen, nur fünf Minuten Pause. Die Glosse auf Seite zwei! Prokrastination, aha, das Wort ist mir fremd. Im allgemeinen Lexikon finde ich es nicht, erst im Duden/Fremdwörter wird es definiert. Nun ist es nicht ganz ungefährlich, in einem eng getakteten Zeitplan zu einem Buch zu greifen, um sein Wissen zu erweitern. Eine halbe Stunde später habe ich etwas über Prokonsuln und Proklise erfahren, gelernt, dass Proktitis eine Mastdarmentzündung ist, wer Prokrustes war,  wie und warum Theseus ihn tötete und habe die Bedeutung von Prokrastination wieder vergessen.
Die nächsten eineinhalb Stunden sind eine Art Wirbel, in dessen Sog Küche und Bad - ich muss noch duschen – unterzugehen drohen, aber es gelingt. Als es läutet , wie kalkuliert  mit fünfzehn Minuten Verspätung – Willy ist nie pünktlich, er braucht ewig im Bad, sagt Marlene – öffne ich mit strahlendem Lächeln. Vielleicht stört der noch sehr feuchte Haaransatz im Nacken, aber das fehlende Make-up kompensiert die neue Brille gänzlich und überhaupt: was ist schon perfekt im Leben? Nur dass ich die Nougatherzchen in ihrem leuchtend roten Papier am nächsten Morgen im Bücherregal finde, ist vielleicht doch ein kleines bisschen schade.

24.10.15
Sonja Meier

Dienstag, 23. Juni 2015

DAS AUTO

Der alte Mann sitzt am Küchentisch. Gerade hat seine Tochter den Raum verlassen. Sie hat nichts gesagt, doch er weiß, dass sie sich ärgert. Das würde sie ihm nie direkt sagen, in der Türkei werden Vater und Mutter noch geehrt und respektiert.
Doch jetzt ist sie einfach hingegangen und hat sein Auto verkauft! Sie nannte es „Sardinenbüchse“ und „Sicherheitsrisiko“. Viele Jahre ist er mit diesem Auto gefahren und nie ist etwas passiert – bis auf die kleine Delle in der Seitentür von neulich, als er im Parkhaus zu knapp um die Ecke gefahren ist. Er ist immer ein vorsichtiger Fahrer gewesen, was soll man auch rasen, das macht einen nur krank.
Ach, die Ausflüge zum Strand, der Kofferraum voll mit Picknickdecken, Sonnenschirm und köstlichem Essen, die beiden Kinder turnten aufgeregt auf dem Rücksitz herum, seine Frau summte vor sich hin und streckte die Hand aus dem Fenster. Am Parkplatz vor dem Strand traf man sich oft mit anderen Verwandten, sein Bruder und sein Schwager brachten ebenfalls ihre Familie mit. Die Frauen bildeten sofort eine Karawane zum Strand hinunter, bedeckten viele Quadratmeter mit Matten, Handtüchern und Decken, stellten Schirme und Klappstühle auf und richteten in der Mitte ein wahres Festmahl her. Die Kinder planschten schon kreischend im Wasser, sie hatten die Badesachen schon zu Hause angezogen.
Währenddessen waren die Männer noch oben geblieben, hatten zugesehen und ab und zu auch Fachgespräche über Autos und Motoren geführt. Sein Schwager fuhr eine regelrechte Schrottkiste mit hängendem Auspuff, die oft erst nach mehreren Versuchen ansprang. Dagegen pflegte sein Bruder seinen alten Mercedes wie ein krankes Kind. Sein eigener Toyota hatte ihm nie Scherereien bereitet – er ließ ihn warten, wenn es nötig war, aber er wienerte auch nicht wie ein Besessener daran herum.
Wenn sie am Abend wieder zu Hause ankamen, war der Kofferraum voll Sand. Zwar zückte seine Frau nach dem Auspacken sofort einen Handfeger, doch alles bekam sie doch nicht weg. Wahrscheinlich steckten noch von jedem einzelnen ihrer Ausflüge Sandkörner in den Ritzen – die konnte ja jetzt der neue Besitzer durch die Gegend fahren.
Ach nein, seine Tochter hatte ja erwähnt, dass der Wagen an einen Schrotthändler ging, es würde also niemand mehr in der offenen Autotür stehen und noch einen letzten Blick übers Meer werfen.

von Pia Winkler

SUMMER TIME

Irgendwann musste Schluss sein mit den Balkonblumen. Allein die Rein- und Rausschlepperei der Geranien im Herbst und Frühling. Sie müsste sich endlich einen Helfer organisieren. Wozu noch der Aufwand, wenn sie doch schon allein die Sonne nicht mehr vertrug und deshalb immer seltener draußen saß. Und der Blick in den Hinterhof war ja nun wirklich nicht berauschend. Die Gespräche auf den vielen winzigen Balkonen rings um, über und unter dem ihrigen waren es auch selten. Also, was soll’s, fragte sich Elise Bechstein, es reicht, wenn ich mit 62 auf dem Balkon den gelben Sack und einen Kasten Bier stehen habe, das ist schon in Ordnung!
Einige Wochen später stand dann doch ein Begonienkasten bei der Bechstein auf dem Balkon. Die Nachbarin, Wella Trifels, 84 und noch ganz rege und interessiert, wunderte sich über die Tatsache, dass nun wieder Blumenschmuck prangte und wie oft Elise in dem Kasten herumkratzte und –zupfte. Ein Blick auf den Balkon links unten klärte sie jedoch auf.
„Ein so ein schöner Bengel, der da eingezogen ist, gell? Und ganz allaa! Willst dich hinter deine Begonien verstecken beim Nunderschaun? Geh, Elis, und des in deim Alter!“
Erst tat die Bechstein Elise so, als ginge es ihr tatsächlich um die Blumen, dann lachte sie aber die Nachbarin offen an und rief: „ Ja, vielleicht geht’s wirklich nur um den schönen Ausblick. Mei, warum ned?“
Je mehr es Sommer wurde, desto öfter saß sie jetzt wieder draußen, las Zeitung, vesperte und trank ihr Kellerbier, döste und sonnte sich sogar. Der junge Mann unten sah wirklich ausnehmend attraktiv aus; die Proportionen stimmten,  eine glatte Haut, die braun in der Sonne schimmerte, volle dunkle Haarpracht, aber nur auf dem Kopf, nicht am Körper, muskulös, aber keine harten oder kantigen Formen, auch nichts vom Bodystudio Aufgeblasenes, weiche, große Augen. Je mehr er sich an heißen Tagen entblätterte, um so mehr sah sich Elise bestätigt: Sie hatte vergessen, wie schön ein Mann sein konnte. Sie spürte, dass es zwischen ihm und ihr zu einer Art Sirren kam, wenn sie hinschaute, und dass so ein Sirren sie kribblig machen konnte, aber im angenehmen Sinne, so als würde ein geheimer Akku in ihr aufgeladen. Auf diese Weise erstarkt hatte sie Lust, sich zu bewegen und irgendetwas zu unternehmen. Manchmal dachte sie, wenn sie den immer noch Namenlosen auf dem Balkon des zweiten Stocks betrachtete, an ihren Edwin, der jetzt schon drei Jahre tot war. Den wollte sie nie lange anschauen, höchstens ‘mal, um seine Kleidung zu richten, Schuppen wegstreichen, Kragenknöpfe  schließen oder so etwas. Edwin war Finanzbeamter und eine graue Maus, eine mit O-Beinen und ohne Fellhaare am Kopf, am ganzen Körper schimmerte die blassrosa Haut durch die Härchen, am schlimmsten am Bauch, der wie ein kleiner Ballon heraussterzte, als sei die Maus trächtig. Nicht ungerecht werden! Edwin war ein treuer Partner, ein guter Mensch. Aber vom Körper her .......... na ja, halt der Edwin. Bei dem Jungmann war, wenn er in der Badehose da saß oder lag, sogar der Blick auf’s Untenrum, wie Elise das nannte, angenehm, obwohl sie bei Männern, also nicht nur bei ihrem Edwin, das Untenrumgebaumel eigentlich immer lächerlich fand.
Wahrscheinlich war der Neuzugezogene ein Student; er las viel und oft, tippte auf seinem Laptop herum und erschien nur zu regelmäßig festen Zeiten auf dem Balkon. Zuverlässig und fleißig wahrscheinlich, aber sehr schweigsam. Mehr als das Grüßen war nicht drin. Freunde oder gar eine Freundin tauchten nicht auf. Elise Bechstein überlegte sich Fragen, mit denen vielleicht ein Gespräch in Gang kommen könnte, aber „Immer allein?“ oder „Schon wieder an der Arbeit? Sind Sie eigentlich Student?“ kamen ihr so läppisch vor, dass auch sie stumm blieb. Ab und an nickte sie ihrem Gruß ein paarmal nach und es kam ihr vor, als schwappten Wellen des Wohlwollens von ihr zu ihm hinunter. Einmal, als der junge Mann sich mit Sonnenschutzmittel einrieb, wollte sie rufen: „Und wer versorgt den Rücken? – Warten Sie, ich komme runter!“ Wie gern und wie zart hätte sie ihm den Rücken massiert, Kaffee gekocht, Essen bereitet und die frische Wäsche zurechtgelegt.
Nur einmal hat der Schöne, Elise nannte ihn nämlich „mein Schöner“, etwas gesagt, nämlich 
„Schönes Wetter heute, da kann man draußen sitzen.“ Ach ja, und noch einmal hat er etwas gesagt. Er rief „Scheiße!“, als sein Liegestuhl in sich zusammenknackte. Elise rief das eine Mal „Ja, sicherlich!“ und bei der „Scheiße“ nur ganz leise „Oh!“.
Im Herbst zog der schöne junge Mann weg. Er hatte sich nicht verabschiedet. Vielleicht, dachte Elise, hat er hier nur in Ruhe an einer Prüfungsarbeit gesessen oder eine Sommervorlesung besucht.
Die Begonien waren eh‘ hinüber, schnell abgeräumt und entsorgt.
Dann war wieder alles wie sonst.
Elise Bechstein wartete höchstens noch auf eine bissige Bemerkung von der Trifels. Aber die kam nicht. Vielleicht lag die Alte im Krankenhaus.
Aber im September und Oktober, vielleicht sogar noch ein paar Tage im November passierte doch noch etwas.
Elise spürte im Bett hinter sich einen Körper, geschmeidige warme Haut, die nach Sommer und Öl roch, kräftige Arme umschlangen ihre Brust oder ihre Beine und sie schob ihren Körper zur Teelöffelchenhaltung zurecht, damit sie möglichst viel von dem Schönen mitbekam.


WILFRIED CHRISTEL

Samstag, 16. Mai 2015

Pias Limericks

Es war mal ein Kater aus Linz,
der führte sich auf wie ein Prinz.
Zwar fehlte sein Schwanz,
auch die Ohr’n war’n nicht ganz,
trotzdem sah er sehr cool aus in Jeans.


Es war mal ein vornehmer Bilch,
der trank stets nur Liebfrauenmilch.
Er rief:“Dieser Wein
ist unheimlich fein!
Wer anders denkt, ist nur ein Knilch.“


’Nem Dichter aus Bingen am Rhein,
dem fiel überhaupt nichts mehr ein.
Er rief: „Dieser Landstrich
ist viel zu romantisch!
Ich zieh’ jetzt nach Frankfurt an der Oder!“

Es war mal ein Löwe im Zoo,
der fragte sich täglich: „Wieso
werd’ ich ständig beglotzt?
Wie mich das ankotzt!
Ich zeig’ jetzt nur noch meinen Po!“


Eine Richterin wohnt in Erlangen –
sehr hübsch und mit rosigen Wangen.
Doch will von den Mackern
sie einer anbaggern,
dann sagt sie nur: „Ich bin befangen...“


Ein Nachtwächter aus der Stadt Trier
macht Rundgänge bis früh um vier.
Er sucht nach den Wichten,
 die Böses anrichten –
und auch nach Graffiti-Geschmier.


Es baute ein Tüftler aus Halle
die weltbeste Fruchtfliegenfalle.
Er lauert bis heute
auf üppige Beute
und murmelt: „Ich kriege euch alle!“

Ein Firmenchef wollt’ in Kaufbeuren[1]
die Chefsekretärin gern feuern.
Er fand sie nicht gut,
doch sie – voller Wut –
ging hin, um ihm eine zu scheuern.


Der Herr Johann Wolfgang von Goethe
geriet oft in recht arge Nöte.
Denn wenn Frau von Stein
ihn lud zu sich ein,
dann spielte sie grauenhaft Flöte.


Ein rüstiger Pfarrer aus Stade
fand Trauungen stets viel zu fade.
Doch seit einem Jahr
tanzt er vorm Altar
und wirft auf die Braut Schokolade.




[1] sprich „Kaufbeuern“ (für Nicht-Allgäuer...)


Freitag, 1. Mai 2015

Die Sache mit dem Teppich

Dass diese Sache noch irgendwie glimpflich ausgehen würde, habe ich selbst nicht mehr geglaubt. Im Gegenteil, sie entwickelte sich zu einer handfesten Ehekrise. Dabei war meine Idee grandios: ich wollte Jörg, meinen Mann, mit einem neuen Teppichboden im Esszimmer überraschen. Der alte sah inzwischen scheußlich aus und Jörg hatte das grüne Karomuster nie gemocht. Zwar bin ich handwerklich eher mäßig begabt, aber mein alter Schulfreund Ronny, Heimwerker von Gottes Gnaden, würde mir helfen. Jörg war auf Montage; wenn er heimkam, sollte er staunen. Stolz blickte ich auf die Teppichrolle, die vor zwei Stunden geliefert worden war: ein zartbeiger, weicher Traum – die perfekte Ergänzung zu den Esszimmermöbeln. Die hätte ich zwar auch gerne ersetzt – wer mag heute schon noch Eiche rustikal – aber Jörg ist ein sparsamer Mann. Alles kann man eben nicht haben.
Ronny und ich arbeiteten hart: Möbel abbauen, Boden auslegen, straffen, schneiden, kleben, einen Tag ruhen lassen, Möbel wieder aufbauen; schweißtreibend, aber schließlich war es geschafft. Zum Schluss trugen wir Tisch und Stühle hinein, lümmelten uns in die Sitzmöbel und legten die Füße hoch. Ich hatte Tequila besorgt, das Getränk unserer Jugend. Wir prosteten uns zu. Nach dem dritten Glas kramte ich nach meinen Zigaretten – bei Todesstrafe verboten in der Wohnung, aber Jörg war schließlich nicht da. Ronny sah mich scheel an. Ich genoss genau drei Züge, dann fiel Glut auf den Teppichboden. Das Loch, schwarz, daumennagelgroß, starrte mich an. Ich starrte zurück; es wuchs, je länger ich starrte. Ronny drückte meine Zigarette aus.
-    Oh, je, sagte er und starrte auch. Aber das haben wir gleich.  Die Worte klangen etwas  verwaschen.    -   Ich schneide es aus, dann hat es gerade Ränder.
Danach starrte mich ein sieben-Zentimeter-Kantenlänge-Loch an. Als ich zurückstarrte, verdoppelte es sich. Ich schaute weg. Ronny schnitt ein passendes Quadrat aus dem Teppichrest und verklebte das Loch. Dann schwankte er nach Hause.
Am nächsten Morgen gähnte mich wieder das Loch an;  Hoppel und Moppel, unsere Pflegekaninchen von Lehmanns gegenüber, saßen zufrieden daneben, zwischen ihnen die nun etwas fransige Füllung. Ich hatte wohl vergessen, die Badezimmertür zu schließen. Schwitzend versuchte ich es nochmal mit kleben, aber nun sah man die Ränder und in meiner Verzweiflung – Jörg würde heute Abend zurückkommen – stellte ich die Wasserschüssel der Kaninchen auf die Stelle. Gut – das konnte gehen. Vielleicht setzte sich das Quadrat je noch etwas und würde dann nicht mehr so auffallen.
Abends hatte ich den Esstisch festlich gedeckt mit Kerzen und frischen Blumen, aus der Küche duftete es nach Lasagne, der Wein funkelte in der geöffneten Flasche. Ich trug Jörgs Lieblingskleid. Er begrüßte mich liebevoll, betrat mit staunenden Augen das Esszimmer und trat in die Wasserschüssel. Er fluchte und ich rannte nach einem Handtuch, rubbelte und bedeckte schließlich damit das Quadrat. Leider löste es sich am nächsten Tag wieder – der Kleber war wohl noch nicht fest gewesen – und Jörg drohte, den Handwerker zu verklagen. Also musste ich beichten und der Haussegen fing an sich zu neigen. Ich stellte die Schüssel wieder auf, aber die Kaninchen glaubten wohl an eine Fußbadewanne und hinterließen  gut sichtbare Spuren in Esszimmer und Diele. Außerdem stolperten Jörg und ich abwechselnd darüber, weil fünfzehn Jahre dort nichts gestanden war und jetzt plötzlich etwas stand. Schließlich kamen Lehmanns von ihrem Auslandsaufenthalt zurück, holten Hoppel und Moppel  und die Wasserschale ab und ließen uns mit der sieben-Zentimeter-Schande allein. Wir dachten an eine dekorative Bodenvase, aber dann fing die Stelle an zu schimmeln und Jörg fluchte wieder. Er hatte gepetzt und die vernichtenden Blicke aller Nichtraucher trafen mich, sobald das Thema darauf kam.
Der Haussegen neigte sich weiter, als Ronny, der die Stelle – diesmal ohne Tequila – ausbessern sollte, feststellte, dass sich die Feuchtigkeit über mehrere Quadratmeter gezogen hatte und mit ihr der Schimmel. Ich wollte für die Stellen Teppichfliesen in Kontrastfarben vorschlagen, schwieg aber nach einem Blick auf Jörgs Miene. Zähneknirschend (er) und kleinlaut (ich) ersetzten wir nach einem Jahr den Esszimmerboden und Jörg entschied sich für einen pflegeleichten PVC-Belag in einem unbeschreiblichen blassen, gelbstichigigen Mittelbraun. Später stellte sich heraus, dass Jörg an einer leichten Form von Farbenblindheit leidet, aber damals wagte ich nicht zu widersprechen, und bei Tageslicht, so hoffte ich, würde der Boden vielleicht  auch besser aussehen. Neonlicht verdirbt schließlich alles. Das weiß jeder, der schon mal in einer Umkleidekabine in den Spiegel geschaut hat.
 Das Tageslicht betonte dann etwas den Gelbstich im Mittelbraun, und das zu Eiche rustikal! Ich weiß ja nicht, ob ich mir das nur einbilde, aber es kommt mir so vor, als würden unsere Gäste seitdem lieber im Wohnzimmer sitzen. Die Sache kippte, als Jörgs bester Kumpel nach einem verlorenen Club-Heimspiel – vermutlich weil da eh schon alles wurscht war – sagte, zum Kotzen gehe er ins Esszimmer, da fiele es nicht auf. Jörg war wochenlang beleidigt und sah beim Essen immer betont geradeaus, damit er nur ja nicht versehentlich auf den Boden schaute.
Immerhin, jetzt sind wir quitt und meine Chancen steigen, dass die Möbel ausgetauscht werden. Schwarzen Lack könnte ich mir gut vorstellen, vielleicht mit großen Quadraten in Kontrastfarben, das lenkt ab.

19.04.15
Sonja Meier

Am Anfang vom Ende war das Wort

Wieder einmal brach im Garten Eden ein perfekter Tag an. Eva erhob sich von dem weichen Graspolster unter dem duftenden Strauch, wo Adam und sie immer schliefen, und blinzelte in die Morgensonne. Adam hatte bereits für sie beide zum Frühstück einige Früchte gepflückt, die wie immer köstlich schmeckten. Danach stand Adam auf und sagte: „Liebling, ich muss los! Bin mit der Namensgebung noch nicht ganz durch. Zur Zeit sind alle Tiere mit sechs oder mehr Beinen dran. Hast du irgendeinen Vorschlag für diese bunten, staubigen Flatterdinger, die hier so herumschwirren? Ich schwanke noch zwischen Flugstäubling und Klappflügler...“
Aber Eva war es egal. Seit das zu benennende Viehzeug und die Pflänzchen immer kleiner und differenzierter wurden, überließ sie diese langwierige Aufgabe meist Adam, dem es Spaß machte, sich Wörter wie „Maulwurfsgrille“ oder „Grottenolm“ auszudenken.
Eva ließ ihren Mann ziehen und schlenderte gemächlich in eine andere Richtung. Sie sog den Duft ihrer Lieblingsblumen ein. Der Name „Rose“ stammte von ihr, und sie war sehr stolz darauf. Adam hatte „Duftstachel“ vorgeschlagen, aber Eva war ausnahmsweise hart geblieben.
Nachdem sie eine Weile nur so zum Spaß durch einen freundlich plätschernden Bach gewatet war, lenkte sie ihre Schritte in die Mitte des Gartens. Dort stand auf einer kleinen Anhöhe ein einzelner Baum mit sattgrünem Laub und gelb-rot schimmernden Früchten. Eva tauchte unter einem herabhängenden Ast durch und näherte sich dem Stamm. „Ich bin es“, rief sie, „bist du da?“ Zunächst geschah nichts, doch dann raschelte es in den oberen Zweigen. Etwas langes, Glänzendes glitt wie eine Ölspur um Äste und Stamm.
„Ich habe gerade ein Sonnenbad genommen“, zischelte die Schlange, „ist heute nicht ein herrlicher Tag?“
„Ja... wie immer“, antwortete Eva.
-„Du kommst in letzter Zeit ziemlich häufig, hast du denn nichts anderes zu tun?“
-„Doch... mir die Erde untertan machen... mich ... furchtbar vermehren, oder so. Ich weiß gar nicht, wie das geht.“
-„Kommt Zeit, kommt Rat. Aber warum besuchst du mich eigentlich immer allein? Will dein Mann dich nicht mal begleiten?“
-„Ach, Adam... der ist immer beschäftigt. Außerdem kommt er nicht gern hierher.“
-„ Wieso das denn?“
-„Na, du weißt schon. Weil ER gesagt hat, dass wir von diesem Baum nichts essen dürfen. Seitdem hält Adam lieber einen Sicherheitsabstand ein. Aber ER hat mir schließlich nicht verboten, mit dir zu sprechen.“
-„Nein, das hat er nicht“, kicherte die Schlange. „Aber du solltest dich langsam auf den Rückweg machen. Dein Mann wird dich vermissen.“
„Vielleicht“, meinte Eva zögernd.
-„Ganz bestimmt! Er liebt dich doch, oder?“
-„Ja, natürlich!“
-„Und liebst du ihn?“
„Natürlich!“ rief Eva und lachte ein wenig, „wen denn sonst?“
„Und warum?“ fragte die Schlange und musterte Eva aufmerksam.
Diese stotterte: „Wa... warum? Das habe ich mich noch nie gefragt! Brauche ich denn einen Grund?“
„Nein, nicht unbedingt“, meinte die Schlange gedehnt. „Aber vielleicht liebst du ihn ja besonders wegen seiner blauen Augen oder seiner goldbraunen Locken?“
-„Äh... wie sollten die denn sonst sein?“ Eva war verwirrt.
-„Na ja, schwarz und glatt vielleicht. Oder rot.“
„Äh...“ sagte Eva und blinzelte ein paar Mal. „Ich gehe jetzt.“
„Ja, ja, nur zu! War nett, mit dir zu plaudern!“ rief die Schlange munter und verschwand im Blattwerk.


Pia Winkler

Donnerstag, 30. April 2015

Geschenkt

Frau L. kam zu Besuch. Ich hatte gezögert sie überhaupt hinein zu bitten.  So ungefragt, unangemeldet und einfach nur so, wie sie freundlich gemeint hatte. Außerdem hätte sie ein Geschenk für mich. Ein Geschenk? Na so was, na gut.
In Ruhe kramte sie ein transparentes Stifte Mäppchen mit verschiedenen Stifttypen in jeweils vier Farben rot, grün, blau und schwarz heraus. Sowie drei Blöcke, mit Linien, ohne Linien und Karos. Zwei Knöpfe in orange und rot umhäkelt, an denen noch die Wollknäuel hingen. Ich staunte nicht schlecht, was sich alles neben ihr auf meinem Sofa stapelte.
Ein schwarzer Baumwollbeutel mit einem goldenen Engel bedruckt war ihr Gesuchtes. Aus dem zauberte sie vier Dinge heraus, die sie fein säuberlich auf meinen polierten Couchtisch drapierte. Wie Fremdkörper lagen sie dort. Systematisch verschwanden ihre anderen Sachen wieder in den Sack. Zuletzt nahm sie ihre Brille von der Nase und versenkte auch diese.

Mit ihr ging auch ihr unruhiges Hinterteil, das auf meinem Sofa hin und her gerutscht war und meinen ordentlich drapierten Überwurf zum Absturz gebracht hatte.
Still war es, als sie weg war. Genauso still wie vorher, bevor sie da war. Nun war es allerdings anders still. Vier Optionen hatte sie mir mitgebracht, überlassen, dagelassen. Mein Wohnzimmer war voller als vorher.
Frau L. spinnt, da war ich mir gewiss. Warum kommt sie ungefragt her und schenkt mir Nonsens Gegenstände? Jawohl! Nonsens. Ich rümpfte die Nase. Gebraucht sehen die aus. Und sie passen auch nicht zusammen, ergeben keinen Sinn.
Am liebsten würde ich sie nehmen und weg schmeißen. Einfach so. Mit einem Wisch vom Tisch. Aber das ging ja nicht. Eines dürfe ich mir aussuchen, hatte sie gesagt, das sei ein Geschenk an mich. Morgen käme sie wieder und würde sie anderen drei abholen.
Nun lagen sie da. Stumm. Ich nahm das erste, einen schwarzen Fächer, in die Hand. Alt sah er aus. Auf einer Schmalseite war eine goldene Blumengirlande gemalt. Mit dem Daumen schob ich die Lamellen auseinander. Schwupp. Bunte Blumen breiteten sich aus. Ich fächelte mir Luft zu. Verrückt. Frau L. ist verrückt. Ich ließ ihn wieder einschnappen und legte ihn auf den Tisch zurück. Ein Fächer. Was sollte ich mit einem Fächer?
Als nächstes betrachtete ich den Gutschein für eine Beauty Behandlung. Aha. Was sollte ich mit einer Beauty Behandlung? Herausgeworfenes Geld. Ich legte ihn ein Stück zur Seite, weg von den anderen. Vielleicht konnte man ihn eintauschen und sich das Geld auszahlen lassen.
Dann war da noch ein Parkschein vom Nürnberger Flughafen. Abgestempelt, abgelaufen. Ich schnaubte kurz auf. Pah! Was sollte das denn? Verächtlich warf ich ihn auf den Couchtisch. Er rutschte, glitt, schlitterte über die glatte Oberfläche und kam kurz vor der Kante zum Stillstand. Wie ich.
Das Letzte zog mich an. Ein Stein. Ein Halbedelstein. Gebänderter Halbedelstein. Außen schwarz und innen mit weißem Ring. Hell, fast durchsichtig. Ist der echt?  Ja, er ist so gewachsen, verwachsen. Kühl lag er in meiner Hand. Glatt, gerundete Kanten. Keine Ecken, ein Handschmeichler. Kein schöner Stein, aber ein außergewöhnlicher, ein Unikat. Vorsichtig legte ich ihn auf den Gutschein. Dann daneben. Nach einer Weile fing ich an die vier Dinge aufzureihen. Fächer, Gutschein, Parkschein, Stein. Meine Hände blieben nicht still. Ich verschob, veränderte die Reihenfolge, durchmischte und noch einmal. Noch ein letztes Mal. Dann kamen meine Hände zur Ruhe, legten sich in meinen Schoß. Frau L. hat Recht, ich brauche nur eines der vier.

Als diese am nächsten Tag kam, sah sie mich erwartungsvoll an. „Und, für welches Geschenk haben Sie sich entschieden?“
„Ich hätte gerne den Stein. Ich möchte ihn wieder ins Rollen bringen.“
„Sehr schön“, lächelte mich Frau L. an. „Dann lege ich den Fächer noch obendrauf, damit Sie bei Stillstand sich frischen Wind zufächeln können.“
„Und was machen wir mit dem Parkschein?“
„Den abgelaufenen? Wie verpasste Chancen? Brauchen wir so was?“
„Eigentlich nicht.“
„Na dann weg damit!“
Einen Moment zögerte ich, dann zerfetzte ich ihn in kleine Stücke, warf die Schnipsel hoch, sah sie langsam hinabsinken und aus meinem Blickwinkel schwinden. Ein befreiendes Gefühl.
„Aber zu dem Beautytag, Frau L., zu dem gehen wir gemeinsam.“ Ich schaute sie erwartungsvoll an.
„Sehr gerne.“ Das taten wir dann auch. Es war der erste Tag seit Monaten, an dem ich meine Wohnung wieder verließ, wenn auch ein wenig wackelig. Es war an meinem 83igsten Geburtstag und ich war nicht alleine.


© Frau Gunkelberg 04/15

Dienstag, 31. März 2015

Hilfsbereitschaft

Sándor ist ein sehr hilfsbereiter Mensch. So zögerte er nicht, seinem ungarischen Landsmann Dolmetscherdienste  anzubieten, als dieser zu einer Untersuchung ins Krankenhaus musste. Béla  spricht zwar etwas deutsch, aber mit der Hilfe seine Kumpels fühlte er sich sicherer. 
Die Aufnahmeformalitäten waren schnell erledigt und die Schwester schickte die beiden ins Labor zur Blutabnahme.
Die Schwester im Labor erlaubte Sándor mit hineinzukommen, um ihre Erläuterungen zu übersetzen. Es half Béla über seine Aufgeregtheit hinweg und sie konnte sich auf ihre Arbeitsschritte konzentrieren. Sie legte Röhrchen und Spritze bereit und band Béla den Arm ab, während Sándor  die Erläuterungen der  Schwester auf Ungarisch wiedergab.
„Es gibt jetzt einen kleinen Pieks.“ Zielsicher stach sie zu und das Blut schoss durch die Nadel ins Röhrchen. Sándor sah das Blut an der Röhrchenwand  zurückfließen und er hatte das Gefühle es riechen und seine Wärme spüren zu können.

Um sich diesem Gedanken nicht länger widmen zu müssen, schalteten sich kurzerhand alle seine Sinne aus.  Sein Körper fiel wie ein nasser Mehlsack zu Boden. 
„Sándor“  rief Béla erschrocken, die Schwester souverän: „Einen Arzt bitte, wir brauchen hier Hilfe“, während sie ihn weiter versorgte.

Eine weitere Schwester und ein Arzt eilten herbei und sahen sich die Bescherung an. Sándor war so unglücklich aufgeschlagen, dass die linke Augenbraue aufgeplatzt war und stark blutete. „Das muss genäht werden, wir bringen ihn am besten in die Notaufnahme.“  Die Wunde reichte für fünf Stiche. Danach war er benommen, klagte über starke Kopfschmerzen und Schwindel, so dass der behandelnde Arzt eine Gehirnerschütterung befürchtete und weitere Untersuchungen anordnete.
Béla war zwischenzeitlich mit seinen Untersuchungen fertig und nach Hause geschickt worden.
Seinen hilfsbereiten Dolmetscher behielten sie sicherheitshalber drei Tage länger.

13.03.15   
LinaLiebherz

Montag, 30. März 2015

Erinnerungen an V.

Das Kind war besorgt, als das Familienklavier einmal für kurze Zeit bei den Nachbarn untergebracht werden musste. Würden sie es wieder herausgeben?

Der Heranwachsende ging zur Mittelschule, wohl weil seine Eltern der Meinung waren, dass ihrem Erstgeborenen und Hoferben etwas mehr Bildung als die Volksschule gut zu Gesicht stünde. Einmal blieb er sitzen, ein Tatbestand von dem er seinen Kindern immer mit einem Lächeln berichtete, vor allem aber mit fehlender Dramatik, mit einer skandalös fehlenden Dramatik. In seiner Familie war man ein guter Sportler. Und Musik war wichtig! Einer seiner jüngeren Brüder  fing mit einer Gitarre Mädchen.

Er selbst - ein guter Sänger und Tänzer - ließ sich von der Singediktatur vereinnahmen. Mit sechszehn wurde er Soldat. Von da an transportierten Züge das Kind des Dorfes quer durch Europa: Berlin, Stalingrad, Paris. An riesigen Bahnhöfen wurde er umgeschlagen. Er war 20 als er aus der Kriegsgefangeschaft zurückkehrte, reicher um die Erfahrungen  Hunger, Verrohnung, Verletzung, Verlust - Albträume sollten  ihn für den Rest seines Lebens quälen. Als er nachts das Wohnzimmer seiner Eltern betrat, fand er dort zu seiner Überraschung eine Wiege, darin eine kleine Schwester.

Der Ehemann zeigte sich als solcher selten. Er entzog sich. War Bauer, dann Dazuverdiener, am Sonntag Wirtshausgänger. Er siedelte sich am Rande des Familienlebens an, machte sich zu einem dienstbaren Geist. Ein typisches Bild: er steckt seinen Kopf durch die Küchentür mit der Frage: „Was soll ich jetzt tun?“ Selten ging das Paar spazieren und dann im Sonntagsstaat. Umgeben waren sie dabei von einr Aura feierlicher Schwere. Er trug Anzug, ein Hemd mit Manschettenknöpfen und Hut. Sie tanzten  gern und sahen sich gemeinsam Tanzwettbewerbe im Fernsehen an. Ob im Familienkreis oder in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten beschämten ihn zutiefst. Dennoch brachte er es auf vier Kinder.

Der frischgebackene Vater seines 1. Kindes, ein sicherer und besonnener  Fahrer, wurde auf der Rückfahrt vom Krankenhaus nach Hause von der Tante seiner Frau angehalten, ob der wertvollen Fracht, doch vorsichtig zu sein. 'Als ob auf der Dorfstraße irgendwelche Gefahren lauerten'. Diesen aufmüpfigen Gedanken, wie all die anderen, behielt er leider für sich.

Er konnte nicht schlagen und mischte sich nicht ein. Wenn er denn einmal über den dafür notwendigen inneren Freiraum verfügte  und seine Kinde wahrnehmen konnte, las er sie, d.h.er beobachtete sie und zog seine Schlüsse. Den drängenden, besitzergreifen Verhörstil seiner Frau pflegte er nicht.

Rituale, die er mit seiner ältesten Tochter  pflegte: Bei ihrem 'Papa, komm in Tube' erkannte er, dass er gebraucht wurde um das Fernsehen einzuschalten. Sagte sie am Neujahrstag als erste 'Prosit Neujahr' und das gelang ihr immer, schenkte er ihr fünf Mark. Später  schauten sie oft gemeinsam den Internationalen Frühschoppen an. Wenn sie in den Siebzigern aus der Schule kam mit Fragen, Meinungen und Erkenntnissen zu einem Krieg, der noch gar nicht so lange vorbei war, wurde er zum HB-Männchen. Als sie mit Sechszehn ankündigte, sie würde für ein paar Tage nach Paris fahren, verlor er die Nerven, als er sich an die Bahnhöfe dieser Stadt erinnerte.

Nach dem Tod seiner Frau beschwor der Alkoholiker seiner vier Kinder - 21, 17, 16, und 15 Jahre alt - sie seien stark, er sei schwach.

Von dem Rentner, der nicht mehr in der Fabrik arbeiten musste, fiel eine Last ab. Er ging aus sich heraus. Machte immer ausgedehntere Radtouren in die Umgebung. Er traf sich mit seiner alten Volksschulklasse an Geburtstagen. Einmal besuchte er den chinesichen Zirkus, der in der nahen Kreissporthalle gastierte. Die Vorstellung fand er so mitreißend, dass er  in der Nacht darauf keinen Schlaf finden konnte. Nach der Geburt seiner ersten Enkelin  fuhr er zum 1. Mal nach Jahrzehnten wieder mit dem Zug, für einen Tag nach Berlin.

Der langsam erblindende Greis ging in Gedaken oft die Dorfstraße entlang, blieb bei jedem Bauernhof des nunmehr potemkinschen Dorfes stehen und verglich die Lebendigkeit der Vergangenheit mit der Leere und Stille der Gegenwart. Als seine beiden Töchter ihn an seinem letzten Weihnachtsfest besuchten,  spielte die eine Klavier und er sang dazu mit einer brüchigen Greisenstimme.

Christel Rösener


Donnerstag, 26. März 2015

Die Wortsammlerin

Es war ein sonniger Nachmittag Anfang März, als Helene Seidelbrinck zur Sammlerin wurde. Die Sonne wärmte bereits in der noch kühlen Vorfrühlingsluft, die Vögel übten ihre Balzlieder und im graugrünen Wintergras reckten Schneeglöckchen, Winterlinge und Krokusse ihre leuchtenden Köpfchen. Frau Seidelbrinck schlenderte, die Sonne genießend, die obersten Knöpfe ihres Wintermantels bereits geöffnet, durch den Stadtpark. Ein wenig ziellos ließ sie sich treiben von der Menge, alles strömte hinaus in die Natur, wollte Teil haben an ihrem Erwachen, Kinder lärmten und Hunde wuselten zwischen den Menschen hindurch, gebannt den verheißungsvollsten Duftspuren folgend. Das Stadtparkcafé schon in Sichtweite, beschleunigte Frau Seidelbrinck ihre Schritte und hätte das Wort beinahe übersehen, doch im letzten Moment nahm sie es wahr  und machte einen kleinen Ausfallschritt, um nicht darauf zu treten. Sie hielt inne und sah genauer hin, bückte sich schließlich – ein wenig mühsam wegen der Arthrose in ihrem linken Knie – und hob es auf. Es war ein geschundenes Wort, achtlos weggeworfen, vielfach getreten, beschmutzt und verletzt. Sie hielt es behutsam in ihren Händen, denn es schien ihr kostbar zu sein. Das Wort hieß Liebesdienst.

Frau Seidelbrinck trug es vorsichtig nach Hause, besorgt, es nicht noch mehr zu beschädigen und legte es dort in ihr Lieblingsbuch, so, wie sie früher Blumen und Gräser gepresst hatte, aber sogleich schien ihr, das Wort sei dort unglücklich, verletzt wie es war, inmitten der vielen anderen Wörter. So legte sie es in ein mit Samt ausgeschlagenes Holzkästchen, in der Hoffnung, es werde sich etwas erholen. Es wäre, dachte sie, schön, wenn das Wort Gesellschaft hätte; nicht die Gesellschaft der gedruckten, toten Wörter, sondern von seinesgleichen. Vielleicht könnte sie ja einen oder zwei Gesellschafter für ihr Wort finden, Wörter, die zu ihm passten. So ging sie noch einmal los, den Blick auf den Boden gerichtet, aber es war gar nicht so leicht, Wörter zu finden, jedenfalls in dieser Straße. Es bedurfte einiger Konzentration, zwischen Randbepflanzungen, abgestellten Fahrrädern, weggeworfenen Getränkedosen und Zigarettenschachteln Wörter zu finden. Und wenn sie eines fand, schien es ihr nicht passend als Gesellschafter ihres Wortes, denn es waren gewöhnliche Alltagswörter, aber sogleich schämte sie sich dieser Unterscheidung. Schließlich, nahe einem schönen alten Holztor, das offen stand und den Blick in einen verträumten, etwas verwahrlosten Hinterhof erlaubte, wurde sie fündig. Vorsichtig sammelte sie Freudentaumel und liebäugeln auf und entdeckte, als sie zwei Schritte in die Hofeinfahrt machte, noch nichtsdestotrotz. Wie gleichgültig Menschen mit Wörtern umgehen, dachte sie und trug ihren Fund eilig nach Hause. Sie legte die drei neuen Wörter, die längst nicht so mitgenommen aussahen wie das zuerst entdeckte, ebenfalls in das Holzkästchen und hoffte das Beste.
Tatsächlich schienen sich die Wörter bei ihr wohlzufühlen; sie sahen bald frischer aus und hatten ein wenig an Knittern und Schmutz verloren. Frau Seidelbrinck erfreute das und sie beschloss, ihre Spaziergänge zu weiteren Wortsammlungen zu nutzen. Mit der Zeit bekam sie Übung darin und das Gespür für die richtigen Orte. Es war unglaublich, wieviele Wörter verloren gingen. Nach einer Parteiveranstaltung auf der Freilichtbühne lagen dort Häufchen leerer Worthülsen. Inhaltslos gesprochen, von niemandem ernsthaft aufgenommen, verwehte sie der Wind. Alltagswörter fanden sich zwischen Regalen der Supermärkte genauso wie in Banken und Cafés. Neben einer zerrissenen Rechnung fand sie einmal das Wort verhonepipeln und nahm es kichernd mit, ebenso wie Wolkenkuckucksheim und Schnurrdiburr, die sie mit ein paar anderen Wörtern vor dem Kinoausgang fand. Sie sammelte und sammelte, füllte zu Hause Schachteln und Körbe mit ihren Fundsachen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass die Wörter zueinander passten, und war das nicht der Fall, so änderte sie die Zusammenstellung wieder. Aufmerksam und mit wachsender Freude beobachtete sie die Veränderungen. In den Behältnissen entwickelten sich Gebilde von vielfältiger Gestaltung. Es gab kugelrunde, federleichte Wortverbindungen, sperrige, scharfkantige, ja ganz und gar bizarre Formen. Hin und wieder packte sie eine besonders schöne Form in einen Geschenkkarton, um jemandem einen Freude zu machen, aber die höflichen, etwas befremdeten Mienen der Beschenkten und ihre Hilflosigkeit angesichts der geöffneten Schachteln ließen sie davon wieder abrücken. Doch sammelte sie unverdrossen weiter, staunte über Gleichgewichtsdichtegradientenzentrifugation und Onomatopoesie, amüsierte sich über Kopftuchgeschwader und Rentnerbravo und über die Absonderlichkeiten der Dialekte. Sie fand Fotzenhobel und Schnauzetippel und einmal, als sie die Abendsonne auf einer Parkbank genoss, lag ihr zu Füßen ein Wort, halb verdeckt von einem Lavendelbusch, das sie etwas erröten ließ und sie wollte sich abwenden, aber das Wort war so geschmeidig, so weich und prall, so rund und warm, dass sie es nicht über sich brachte, es liegen zu lassen. Ein wenig verstohlen blickte sie sich um, ob niemand sie beobachtete und nahm es an sich. Das Wort hieß Cunnilingus.
Ihre Sammlung wuchs und gedieh prächtig im Laufe der Jahre. Es gab kaum mehr ein Durchkommen zwischen ihren dicht gefüllten Behältnissen. Sie liebte die Wortgebilde und als ihr das Gehen zusehends schwerer fiel, sie das Haus immer seltener verließ, als ihre Lebenskreise enger wurden und auch die Besuche der Freunde und Verwandten rarer,  fand sie Trost und Anregung in der Gesellschaft ihrer Sammlung. Und hin und und wieder - und das betrachtete sie als besonders kostbares Geschenk - erfuhr die Sammlung eine Ergänzung durch das eine oder andere Wort, gefunden und mit behutsamen Händen übergeben von ihrem Urgroßneffen Benjamin, einem aufgeweckten Sechsjährigen, der ihre Liebe zu den Wörtern zu teilen begann und die Wortgebilde tastend bestaunte.
Es war wieder ein sonniger Vorfrühlingstag, als Birgit Liebermann, die, in Begleitung ihres Sohnes Benjamin, ihrer Großtante Helene einen frisch gebackenen Kuchen – Eierlikör mit dickem Schokoladenguss – vorbeibringen wollte, mehrfach läutete, schließlich etwas verunsichert die Tür mit ihrem Schlüssel öffnete und sich mit leisem Seufzen und nachsichtigem Lächeln durch die Kästchen, Schachteln und Körbe schlängelte. Sie fanden Helene Seidelbrinck, die ihre Augen für immer geschlossen hatte, im Bett, auf den nun blutleeren Lippen noch ein Lächeln, aber nur Benjamin sah das filigrane, sanft schimmernde Wort in ihren Händen. Es hieß Himmelsleiter.

Für Christel und Carmen mit einen herzlichen Dankeschön für die Inspiration.

15.03.15
Sonja Meier