Montag, 30. März 2015

Erinnerungen an V.

Das Kind war besorgt, als das Familienklavier einmal für kurze Zeit bei den Nachbarn untergebracht werden musste. Würden sie es wieder herausgeben?

Der Heranwachsende ging zur Mittelschule, wohl weil seine Eltern der Meinung waren, dass ihrem Erstgeborenen und Hoferben etwas mehr Bildung als die Volksschule gut zu Gesicht stünde. Einmal blieb er sitzen, ein Tatbestand von dem er seinen Kindern immer mit einem Lächeln berichtete, vor allem aber mit fehlender Dramatik, mit einer skandalös fehlenden Dramatik. In seiner Familie war man ein guter Sportler. Und Musik war wichtig! Einer seiner jüngeren Brüder  fing mit einer Gitarre Mädchen.

Er selbst - ein guter Sänger und Tänzer - ließ sich von der Singediktatur vereinnahmen. Mit sechszehn wurde er Soldat. Von da an transportierten Züge das Kind des Dorfes quer durch Europa: Berlin, Stalingrad, Paris. An riesigen Bahnhöfen wurde er umgeschlagen. Er war 20 als er aus der Kriegsgefangeschaft zurückkehrte, reicher um die Erfahrungen  Hunger, Verrohnung, Verletzung, Verlust - Albträume sollten  ihn für den Rest seines Lebens quälen. Als er nachts das Wohnzimmer seiner Eltern betrat, fand er dort zu seiner Überraschung eine Wiege, darin eine kleine Schwester.

Der Ehemann zeigte sich als solcher selten. Er entzog sich. War Bauer, dann Dazuverdiener, am Sonntag Wirtshausgänger. Er siedelte sich am Rande des Familienlebens an, machte sich zu einem dienstbaren Geist. Ein typisches Bild: er steckt seinen Kopf durch die Küchentür mit der Frage: „Was soll ich jetzt tun?“ Selten ging das Paar spazieren und dann im Sonntagsstaat. Umgeben waren sie dabei von einr Aura feierlicher Schwere. Er trug Anzug, ein Hemd mit Manschettenknöpfen und Hut. Sie tanzten  gern und sahen sich gemeinsam Tanzwettbewerbe im Fernsehen an. Ob im Familienkreis oder in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten beschämten ihn zutiefst. Dennoch brachte er es auf vier Kinder.

Der frischgebackene Vater seines 1. Kindes, ein sicherer und besonnener  Fahrer, wurde auf der Rückfahrt vom Krankenhaus nach Hause von der Tante seiner Frau angehalten, ob der wertvollen Fracht, doch vorsichtig zu sein. 'Als ob auf der Dorfstraße irgendwelche Gefahren lauerten'. Diesen aufmüpfigen Gedanken, wie all die anderen, behielt er leider für sich.

Er konnte nicht schlagen und mischte sich nicht ein. Wenn er denn einmal über den dafür notwendigen inneren Freiraum verfügte  und seine Kinde wahrnehmen konnte, las er sie, d.h.er beobachtete sie und zog seine Schlüsse. Den drängenden, besitzergreifen Verhörstil seiner Frau pflegte er nicht.

Rituale, die er mit seiner ältesten Tochter  pflegte: Bei ihrem 'Papa, komm in Tube' erkannte er, dass er gebraucht wurde um das Fernsehen einzuschalten. Sagte sie am Neujahrstag als erste 'Prosit Neujahr' und das gelang ihr immer, schenkte er ihr fünf Mark. Später  schauten sie oft gemeinsam den Internationalen Frühschoppen an. Wenn sie in den Siebzigern aus der Schule kam mit Fragen, Meinungen und Erkenntnissen zu einem Krieg, der noch gar nicht so lange vorbei war, wurde er zum HB-Männchen. Als sie mit Sechszehn ankündigte, sie würde für ein paar Tage nach Paris fahren, verlor er die Nerven, als er sich an die Bahnhöfe dieser Stadt erinnerte.

Nach dem Tod seiner Frau beschwor der Alkoholiker seiner vier Kinder - 21, 17, 16, und 15 Jahre alt - sie seien stark, er sei schwach.

Von dem Rentner, der nicht mehr in der Fabrik arbeiten musste, fiel eine Last ab. Er ging aus sich heraus. Machte immer ausgedehntere Radtouren in die Umgebung. Er traf sich mit seiner alten Volksschulklasse an Geburtstagen. Einmal besuchte er den chinesichen Zirkus, der in der nahen Kreissporthalle gastierte. Die Vorstellung fand er so mitreißend, dass er  in der Nacht darauf keinen Schlaf finden konnte. Nach der Geburt seiner ersten Enkelin  fuhr er zum 1. Mal nach Jahrzehnten wieder mit dem Zug, für einen Tag nach Berlin.

Der langsam erblindende Greis ging in Gedaken oft die Dorfstraße entlang, blieb bei jedem Bauernhof des nunmehr potemkinschen Dorfes stehen und verglich die Lebendigkeit der Vergangenheit mit der Leere und Stille der Gegenwart. Als seine beiden Töchter ihn an seinem letzten Weihnachtsfest besuchten,  spielte die eine Klavier und er sang dazu mit einer brüchigen Greisenstimme.

Christel Rösener


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