Donnerstag, 26. März 2015

Die Wortsammlerin

Es war ein sonniger Nachmittag Anfang März, als Helene Seidelbrinck zur Sammlerin wurde. Die Sonne wärmte bereits in der noch kühlen Vorfrühlingsluft, die Vögel übten ihre Balzlieder und im graugrünen Wintergras reckten Schneeglöckchen, Winterlinge und Krokusse ihre leuchtenden Köpfchen. Frau Seidelbrinck schlenderte, die Sonne genießend, die obersten Knöpfe ihres Wintermantels bereits geöffnet, durch den Stadtpark. Ein wenig ziellos ließ sie sich treiben von der Menge, alles strömte hinaus in die Natur, wollte Teil haben an ihrem Erwachen, Kinder lärmten und Hunde wuselten zwischen den Menschen hindurch, gebannt den verheißungsvollsten Duftspuren folgend. Das Stadtparkcafé schon in Sichtweite, beschleunigte Frau Seidelbrinck ihre Schritte und hätte das Wort beinahe übersehen, doch im letzten Moment nahm sie es wahr  und machte einen kleinen Ausfallschritt, um nicht darauf zu treten. Sie hielt inne und sah genauer hin, bückte sich schließlich – ein wenig mühsam wegen der Arthrose in ihrem linken Knie – und hob es auf. Es war ein geschundenes Wort, achtlos weggeworfen, vielfach getreten, beschmutzt und verletzt. Sie hielt es behutsam in ihren Händen, denn es schien ihr kostbar zu sein. Das Wort hieß Liebesdienst.

Frau Seidelbrinck trug es vorsichtig nach Hause, besorgt, es nicht noch mehr zu beschädigen und legte es dort in ihr Lieblingsbuch, so, wie sie früher Blumen und Gräser gepresst hatte, aber sogleich schien ihr, das Wort sei dort unglücklich, verletzt wie es war, inmitten der vielen anderen Wörter. So legte sie es in ein mit Samt ausgeschlagenes Holzkästchen, in der Hoffnung, es werde sich etwas erholen. Es wäre, dachte sie, schön, wenn das Wort Gesellschaft hätte; nicht die Gesellschaft der gedruckten, toten Wörter, sondern von seinesgleichen. Vielleicht könnte sie ja einen oder zwei Gesellschafter für ihr Wort finden, Wörter, die zu ihm passten. So ging sie noch einmal los, den Blick auf den Boden gerichtet, aber es war gar nicht so leicht, Wörter zu finden, jedenfalls in dieser Straße. Es bedurfte einiger Konzentration, zwischen Randbepflanzungen, abgestellten Fahrrädern, weggeworfenen Getränkedosen und Zigarettenschachteln Wörter zu finden. Und wenn sie eines fand, schien es ihr nicht passend als Gesellschafter ihres Wortes, denn es waren gewöhnliche Alltagswörter, aber sogleich schämte sie sich dieser Unterscheidung. Schließlich, nahe einem schönen alten Holztor, das offen stand und den Blick in einen verträumten, etwas verwahrlosten Hinterhof erlaubte, wurde sie fündig. Vorsichtig sammelte sie Freudentaumel und liebäugeln auf und entdeckte, als sie zwei Schritte in die Hofeinfahrt machte, noch nichtsdestotrotz. Wie gleichgültig Menschen mit Wörtern umgehen, dachte sie und trug ihren Fund eilig nach Hause. Sie legte die drei neuen Wörter, die längst nicht so mitgenommen aussahen wie das zuerst entdeckte, ebenfalls in das Holzkästchen und hoffte das Beste.
Tatsächlich schienen sich die Wörter bei ihr wohlzufühlen; sie sahen bald frischer aus und hatten ein wenig an Knittern und Schmutz verloren. Frau Seidelbrinck erfreute das und sie beschloss, ihre Spaziergänge zu weiteren Wortsammlungen zu nutzen. Mit der Zeit bekam sie Übung darin und das Gespür für die richtigen Orte. Es war unglaublich, wieviele Wörter verloren gingen. Nach einer Parteiveranstaltung auf der Freilichtbühne lagen dort Häufchen leerer Worthülsen. Inhaltslos gesprochen, von niemandem ernsthaft aufgenommen, verwehte sie der Wind. Alltagswörter fanden sich zwischen Regalen der Supermärkte genauso wie in Banken und Cafés. Neben einer zerrissenen Rechnung fand sie einmal das Wort verhonepipeln und nahm es kichernd mit, ebenso wie Wolkenkuckucksheim und Schnurrdiburr, die sie mit ein paar anderen Wörtern vor dem Kinoausgang fand. Sie sammelte und sammelte, füllte zu Hause Schachteln und Körbe mit ihren Fundsachen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass die Wörter zueinander passten, und war das nicht der Fall, so änderte sie die Zusammenstellung wieder. Aufmerksam und mit wachsender Freude beobachtete sie die Veränderungen. In den Behältnissen entwickelten sich Gebilde von vielfältiger Gestaltung. Es gab kugelrunde, federleichte Wortverbindungen, sperrige, scharfkantige, ja ganz und gar bizarre Formen. Hin und wieder packte sie eine besonders schöne Form in einen Geschenkkarton, um jemandem einen Freude zu machen, aber die höflichen, etwas befremdeten Mienen der Beschenkten und ihre Hilflosigkeit angesichts der geöffneten Schachteln ließen sie davon wieder abrücken. Doch sammelte sie unverdrossen weiter, staunte über Gleichgewichtsdichtegradientenzentrifugation und Onomatopoesie, amüsierte sich über Kopftuchgeschwader und Rentnerbravo und über die Absonderlichkeiten der Dialekte. Sie fand Fotzenhobel und Schnauzetippel und einmal, als sie die Abendsonne auf einer Parkbank genoss, lag ihr zu Füßen ein Wort, halb verdeckt von einem Lavendelbusch, das sie etwas erröten ließ und sie wollte sich abwenden, aber das Wort war so geschmeidig, so weich und prall, so rund und warm, dass sie es nicht über sich brachte, es liegen zu lassen. Ein wenig verstohlen blickte sie sich um, ob niemand sie beobachtete und nahm es an sich. Das Wort hieß Cunnilingus.
Ihre Sammlung wuchs und gedieh prächtig im Laufe der Jahre. Es gab kaum mehr ein Durchkommen zwischen ihren dicht gefüllten Behältnissen. Sie liebte die Wortgebilde und als ihr das Gehen zusehends schwerer fiel, sie das Haus immer seltener verließ, als ihre Lebenskreise enger wurden und auch die Besuche der Freunde und Verwandten rarer,  fand sie Trost und Anregung in der Gesellschaft ihrer Sammlung. Und hin und und wieder - und das betrachtete sie als besonders kostbares Geschenk - erfuhr die Sammlung eine Ergänzung durch das eine oder andere Wort, gefunden und mit behutsamen Händen übergeben von ihrem Urgroßneffen Benjamin, einem aufgeweckten Sechsjährigen, der ihre Liebe zu den Wörtern zu teilen begann und die Wortgebilde tastend bestaunte.
Es war wieder ein sonniger Vorfrühlingstag, als Birgit Liebermann, die, in Begleitung ihres Sohnes Benjamin, ihrer Großtante Helene einen frisch gebackenen Kuchen – Eierlikör mit dickem Schokoladenguss – vorbeibringen wollte, mehrfach läutete, schließlich etwas verunsichert die Tür mit ihrem Schlüssel öffnete und sich mit leisem Seufzen und nachsichtigem Lächeln durch die Kästchen, Schachteln und Körbe schlängelte. Sie fanden Helene Seidelbrinck, die ihre Augen für immer geschlossen hatte, im Bett, auf den nun blutleeren Lippen noch ein Lächeln, aber nur Benjamin sah das filigrane, sanft schimmernde Wort in ihren Händen. Es hieß Himmelsleiter.

Für Christel und Carmen mit einen herzlichen Dankeschön für die Inspiration.

15.03.15
Sonja Meier

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