Dienstag, 18. Juni 2013

Herzklau

Ich fliege, ich schwebe. Welten rauschen an mir vorbei. Sonne, Mond und Sterne. Dabei fliegen nicht sie, sondern ich.
Kleine, goldene Punkte aus dem Nichts, aus dem All, aus der Unendlichkeit. Wachsen. Wachsen. Größer. Schneller – Husch vorbei. Hier, da, hin und weg. Bin ich. Meine Augen blinzeln.

Ich kenne das Bild vom Bildschirmschoner. Sterne entstehen und vergehen. In der Mitte, in der rechten, in der Linken Ecke des 24ig Zollers, der Unendlichkeit. Anfang und Ende. Wo fängt es an, wo hört es auf. Husch und schon vorbei, mit Lichtgeschwindigkeit.

Ich schaue hinaus, zurück. Egal aus welchem Bullauge ich aus meiner Kapsel hinaus glotze. Wie der Bulle auf der Wiese. Glotz. Glotz. Kau, Kau. Ich kann ihn nicht finden, meinen Heimatstern. Weg, zu weit weg bin ich.
Schwerelos bin ich hier drin. Leicht, so leicht. Mein Körper schwebt, doch mein Herz ist schwer, so schwer wie die gewichtigen Sterne um mich herum. Angestrahlt von der Sonne, reflektiert vom Mond.
Wie war das mit dem Brechungsindex, schießt es mir durch den Kopf? Hier bricht nix! Oh Gott mir wird schlecht. Will nicht brechen, nicht abbrechen.
Weiter, weiter durch die Milchstraßen ohne Kühe, ohne grün.
Nur schwarzweiß, hell dunkel.
Hin und weg.
Kein Tag, keine Nacht.
Orientierungslos.
Ich brauch was Festes. Festen Boden unter den Füßen. Festes Essen. Suche das Firmament ab. Da, ne grünblaue Kugel mit zwei Monden, 2 Sonnen, lächelt mich an.

Zoom mich hin, dock mich an. Erdanziehung greift, Kompression läuft, werde 3G schwerer, kleiner, fester, enger.
Willkommen im Körper! Gelandet, gestrandet.
Verdammter Traum, nicht auf dem Berg! Liege ihm zu Füßen. Rappel mich auf. Körper funktioniere! Wie mühsam.
Beschwer dich nicht. Du wolltest es so.
Rappel mich auf. Um mich Wald, regennasser Wald. Nass die Stufen. Beine go. Stufe um Stufe in Fels gehauen. Bedeckt mit Erde. Blätter ölig, faulig. Eng und dunkel ist es hier. Lunge pumpt. Herz pocht. Tock. Tock. Tock. Weiter in klammer Enge. Lichtpunkt oben, da oben. Felsen und Grün statt matschiger Blätter und Fäulnis.
Stehen bleiben in Sonne, in Licht. Stillstand. Nur Äußerlich und doch Stille. Ohr links brumm, rausch. Ohr rechts summ, kling. Eine Biene, tatsächlich eine Biene. Weit weg ein Motor im Leerlauf. Leerstand. Sinn hier, Sinn da, sinnlos.
Nichts außer dem Pochen meines Herzens. Es pocht, stolpert, hüpft hinaus, stolpert, fällt vom Felsen. Freier Fall. Weg.
Ich bleibe oben auf dem Berg. Es pocht in mir, ohne mein Herz, wie herzlos…
Es plumst in die Schubkarre mit dem roten Griff. Kollert hin und her, kommt zur Ruhe, pocht vor sich hin.

Da kommt ER wider Zeit noch Raum aus dem Nichts. Was macht er hier? Nimmt die Schubkarre und schiebt sie weg im Sauseschritt. Und ich steh hier oben in 3G ohne Herz. So schwer. Herzklau.
Wächst so etwas nach, kommt es wieder? Kommt ER wieder? Will nach Hause. Will ich das? Mein Heimatstern, den gibt’s nicht mehr. Was will ich hier?

Erdenschwere loslassen, losmachen. Beam mich weg. Beam mich hin, in meine Kapsel, im Nirgendwo. Tschüss Josefstern. Mittendrin zwischen den Welten.
Mir ist wieder leicht und gar nicht schwer. Lass außen alles an mir vorbei ziehen. Nur beobachten, nichts verändern, nichts anfassen.

Poch, poch. Der Raum um mich wird hell und bunt. Da ist es wieder bei mir, mein Herz. Ich verschenks an meine Seele. Höhenflug, ich bin so frei. Ausruhen darf ich mich jetzt...

© Frauke Gunkelberg, Foto Akire

Der Fichtenwald

Er zog die Tür hinter sich zu, und als er das Klicken des Schlosses hörte, erinnerte er sich, keinen Schlüssel eingesteckt zu haben. Es nieselte noch leicht. Luft! Etwas ziellos wandte er sich nach links. Rechts stand der Opel, stark verbeult, das Ende der Stoßstange stak in der schlammigen Pfütze davor. Auch so etwas!
Er vermied es hinzusehen und schritt fast automatisch aus, dem Weg folgend. Regentropfen fielen auf seine Brille. Putz sie endlich einmal, würde Hilde sagen. Kein Wunder, dass du nie was siehst. Er hatte, statt die Herdplatte zurück auf eins zu stellen, auf sechs geschaltet. Die Spiegeleier waren schwarz gewesen, und die Küche hatte so geraucht, dass auch die Stunde lüften den Gestank nicht ganz vertreiben konnte.
Er zog die Luft in tiefen Zügen ein, genoss die Stille, genoss den Geruch von nassem Holz und Pilzen, genoss sogar den Regen, der von den Zweigen troff und in seinen Kragen tropfte. Sekundenlang starrte er die feuchten Schlieren auf seiner Regenjacke an.
Sie hatte ihm Butterbrote hingestellt, wortlos, mit klappernden Tellern, hatte den Raum ebenso wortlos verlassen, ein wenig langsam und schwerfällig, wie es ihre Art war. Er hatte die grauen Strähnen ihres Haares angestarrt und die Laufmasche an ihrem linken Strumpf, die als kleine, blasse Rinne vom Rocksaum zur Ferse führte, hatte dann den Blick gesengt. Von oben wummerten Bässe. Jörg! Am Morgen war die Polizei da gewesen, zwei Beamte vom Rauschgiftdezernat, und hatten nicht nur die  Zimmer des Sohnes durchsucht, sondern auch die Nebenräume des Hauses, hatten seine geliebte kleine Werkstatt auf den Kopf gestellt, ohne zu sagen, was sie suchten. Danach wummerten die Bässe noch lauter.
Er folgte dem Weg aus dem lichten Buchenwald hinaus ins offene Tal. Letzte Regentropfen fielen aus den Wolken, die bleigrau, einem Gebirge gleich, über dem Grund hingen und die Wipfel des Fichtenschlags streiften, der als dunkelgrüne, leise rauschende Wand vor ihm aufragte. Die Wolkendecke brach auf und ein schmaler Lichtstreif fiel in das Dunkel, beleuchtete für einen Moment den nadelbedeckten, moosigen Boden unter den Bäumen. Eine Amsel sang über ihm. Er zögerte kurz, wandte sich ab und folgte dem Weg weiter über die Wiesen, vorbei an dem Jägerstand, leicht aufwärts. Das Licht hatte sich jetzt verändert, die Wolken trieben in wechselnden Formationen. Eine Fratze schien ihn zu verhöhnen, eine weiße Gestalt winkte ihm, bevor sie zum Hundekopf wurde.
Jörg hatte den Wagen, als der Unfall passierte, ohne seine Erlaubnis gefahren. Angeblich war er dem Nachbarshund, dieser widerlichen Töle, die ihre Haufen immer vor sein Gartentor setzte, ausgewichen. Die Versicherung verweigerte nun die Begleichung des Schadens, da der Sohn nicht hätte fahren dürfen. „Nur, weil du zu geizig warst, ihn in die Police zu nehmen“, hatte Hilde gesagt. „Du weißt doch, wie der Junge Autos liebt“. Von oben hatten Bässe gewummert, laut wie Motoren.
Er beobachtete das Licht- und Schattenspiel im Gras, hob den Blick nach Osten, wo Nebel aus dem Grund aufzusteigen begannen. Als zarte Schleier hoben sie sich vor dem dunklen Hintergrund der Bäume. Er lauschte dem Abendgesang der Vögel, sog ihn in sich auf. Ganz oben stand er jetzt und mit weitem Atem genoss er den freien Blick, bevor er abwärts zu gehen begann, dem Waldrand zu, wo ihn die Fichten mit ihrem Rauschen begrüßten, dicht an dicht, noch dunkel vom Regen mit glitzernden Wassertropfen auf den Nadeln, feierlich wie ein Spalier ihm zu Ehren. Er zögerte nicht mehr, sondern trat – ohne einen Blick zurück zu tun – mit einem leichten Lächeln durch die schmale Öffnung, welche die tiefen Äste ihm gewährten, und die sich hinter ihm , ganz leise knackend, wieder schloss.
Am 25. November 2012 schloss die Kriminalpolizei Bayreuth die Akte Anton B. unerledigt ab.

08.06.13

Sonja Meier

Donnerstag, 13. Juni 2013

Criminale kommt nach Nürnberg und Fürth


Hallo liebe Mitschreiber und Mitleser,

ich habe zufällig entdeckt, dass wir im nächsten Jahr ein großes Krimifestival bei uns begrüßen dürfen.

Mehr dazu findet Ihr hier:

http://www.nordbayern.de/nuernberger-nachrichten/kultur/morderische-geschichten-1.2912582?searched=true


Mittwoch, 12. Juni 2013

Kleine Fingerübungen zum Thema Ende

ENDE 1

Als de Prüfling Peter C. gebeten wurde, sein Jackett zu öffnen, und der Aufsichtsbeamte ein Smartphone mit Wörterbuchprogramm fand, war das das Ende des Staatsexamens für 
Herrn C.


ENDE 2

Wenn Frau Gerlinde O., die bevorzugt Fisch aß, mit Gräten im Hals kämpfte, in Atemnot kam, hustete, japste und ihr dabei Tränen aus den Augen liefen, dachte ihr Gatte Max jedes Mal, das sei ihr Ende.
War es aber nie.


ENDE 3

Les jeux sont faits! Rien ne va plus. Schluss, Ende, Aus für alle Glücksversuche. Mit bebendem Herzen wurde auf eine magische Zahl gesetzt. Alles hängt in der Schwebe, alles ist möglich. Es knistert, wenn die Zeit still steht.

Dann saust die Glückszahl wie ein Fallbeil in die Spielerrunde.

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

Ein Ende

Es gab kein Entrinnen. Jeder Gottesdienstbesuch musste im Jahr der Konfirmationszeit in einem Karteikärtchen  dokumentiert werden. Es war blassrosa und wies alle Sonntage des Kirchenjahres in fein säuberlicher Rubrik auf. Marlene hatte Schwierigkeiten, deren komplizierte Namen überhaupt zu entziffern.  Einer hieß tatsächlich Estomihi, ein anderer Laetare und die vielen Sonntage nach Trinitatis, die wollten ja überhaupt nicht aufhören. Nur den 1. bis 4. Advent kannte Marlene. Aber das war ja noch lange hin. Oh, mein Gott! Hinter jedem Sonntag war ein Kästchen platziert für die Unterschrift des verantwortlichen Pastors. Es gab kein Entrinnen. Bei Krankheit des Konfirmanden mussten die Eltern eine Entschuldigung beibringen. Marlene wusste, ihre Eltern würden einen Schummelversuch schon im Keim ersticken. „Und in den Ferien, wenn ich verreise?“
„Du findest überall eine protestantisch – lutherische Kirche. Von einer Konfirmandin erwarte ich Pflichtgefühl und Treue zu unserer Kirche!“, sagte Pastor Bosswitz in dem ihm eigenen markanten Tonfall, der keinen Einwand zuließ.
Auf der Vorderseite des Kontrollkärtchens war ein Lamm abgebildet. Es lag am Boden und hielt trotzdem noch eine Fahne mit Kreuz hoch.
„Und wenn ich es verliere? Wer glaubt mir dann ohne das Kärtchen?“, fragte sich Marlene.

Der Gottesdienst näherte sich der Predigt. Marlene saß zwischen ihren Eltern und der dicken Berta. Sie durfte die dicke Berta so nennen, weil ihre Eltern das auch ganz selbstverständlich taten. Dort zu sitzen war schlimm für Marlene, weil die Eltern links von ihr immer anmahnten, dass sie kräftig und überzeugend mitsingen sollte, nicht nur so zimperlich rumpiepsen. Und rechts roch die dicke Berta aus ihrem schweren braunen Mantel heraus nach Mottenkugeln. Außerdem sang sie sehr laut, so laut wie falsch. Pastor Bosswitz stand mittlerweile auf der Kanzel. Jetzt würde er loslegen und lange, lange reden. Marlene sackte leicht zusammen. Was tun? Zu Reinhard rüberschauen, was für ein süßer Lockenkopf, aber an seinem Hals drückte sich ein knallroter Pickel aus dem Hemdkragen. Reinhard bekam in der letzten Zeit immer mehr Pickel. Schade. Hinter ihm feixte Marlene der freche Ingo zu, kleine witzige Faxen machte er und beim letzten Konfiunterricht hatte er zweimal Teufel gesagt, wo doch Jesus die Antwort gewesen wäre. War der wirklich so frech oder vielleicht nur dumm, auch wenn er aus Berlin kam, wo alle Schnodderschnauzen hatten?
Herr Pfarrer Bosswitz erzählte in seiner Predigt etwas über den Kleinmut, der die Menschen plage, und wurde dabei immer lauter. Seine Augen riss er auf, sein Mund wurde breiter, ein tiefer Schlund, aus dem der Kleinmut hochgeschleudert wurde und das große Leid, das wir nur durch Gottvertrauen ertragen können und deshalb ist der Kleinmut etwas Böses, er erhöht unser Leiden nur, Kleinmut ist das Verzagen Gott gegenüber und das hat unser Herr nicht verdient, denn er weiß, warum wir leiden müssen. Er allein! Bosswitz rief das alles schnarrend in den Raum und klopfte dabei rhythmisch mit den Fingern auf die Holzkanten der Kanzel.
Soweit hatte Marlene die Sache schon verstanden, das Schlimme war nur, dass sie bei Kleinmut nicht an Sünde oder Verfehlung dachte, sondern sich ein Kleinmut als ein putziges kleines Tierchen mit Fell vorstellte. Das Kleinmut, so dachte Marlene unerschrocken weiter,  war eine natürliche Verwandte des Großmuts und am Ende der Kette stand das Mammut. Marlene versammelte die ganze Tierfamilie der Muts um sich und überstand die Predigt auf diese Weise recht gut. Aber das ganze Abendmahl musste noch ausgehalten werden. Ätzend langweilig war es, bis Bosswitz immer die ganze Geschichte heruntergeleiert hatte, in der Jesus seinen Leib und sein Blut als Essen und Trinken anbot. Das war weder Sprechen noch Singen. Es klang immer, als wollte Bosswitz was und könne aber nicht. Erst das schwungvolle Lied von den Töchtern Zions auf den Zinnen von Jerusalem würde nachher wieder etwas Luft schaffen nach diesem merkwürdig schmierigen Sprechsingen.
Aber das mit dem Blut! Marlene schauderte jedes Mal, wenn der Pastor die Leute aus dem Kelch trinken ließ. Das war ja dann eigentlich Blut. Wenn der Bosswitz selbst trank, hing seine große Nase über dem Kelch und aus der Nase wuchsen Haare raus. Der Blutvortrinker. Wenn früher Großmuts oder Mammuts gefangen und dann geschlachtet wurden, schoss das Blut dieser mächtigen Tiere wie in Fontänen aus ihnen heraus. Die schönen Stammesjünglinge badeten nackt in dem Blutsturz, weil das unverwundbar machte. Eij, diese Jungs waren wirklich schön, sie hatten keine Pickel. Das Blut lief in hübschen Rinnsalen an ihren braunen muskulösen Gliedern herunter, wow. Und die Frauen stellten sich mit Schüsseln unter die Fontänen und fingen das Blut auf. Später machten sie dann Blutsuppe daraus. Eine Wahnsinnsaction war das, wenn man die Mute erlegt hatte. Die Kleinmute aber wurden wie Haustiere behandelt, Schmusetierchen, weil sie so süß waren und ihr Fell so schön glänzte. Niemand dachte deshalb daran, Kleinmute zu schlachten. Wenn Groß- und Mammute leergelaufen waren und das Blut nur noch in Lachen auf dem Dorfplatz stand, kamen die Kleinmute angetrippelt und leckten ein wenig davon. Da lachten selbst hartgesottene Krieger.
Marlene musste auch lachen, aber sie hörte sofort damit auf, denn die dicke Berta neben ihr piekste sie mit einem strengen Blick.
Mittlerweile war auch schon der Segen zu hören. Bosswitz hob schon die Arme, die langen schwarzen Talarärmel schwankten in der Luft „Gehet hin in Frieden!“. Das hieß endlich: Wir können gehen. Das war der Abpfiff beim Fußballspiel nach 90 Minuten.
Jetzt gab’s dann paniertes Schnitzel mit Pommes, rote Früchtegrütze und nachmittags durfte sie ins Freibad. Das Wetter war toll und Dieter und Ingo waren sicher auch im Bad. 
Ach ja, Bosswitz muss noch das Kärtchen unterschreiben.  

von Wilfried Christel


Foto Copyright @ Fürtherin

Wondraschs Schmerz

Wondrasch hüpft mit gestreckten Beinen die Treppe hinunter, als wolle er für eine Nummer als Stelzenmann trainieren. Freunden aber erzählt er bereitwillig, dass er so die Schmerzen beim Biegen des Kniegelenks verhindere; an eine Operation denke er noch nicht, schließlich sei er erst 70. Ruhephasen gönnt er sich wenig, höchstens für kurze Massagen schmerzender Stellen. Man dürfe, so Wondrasch, wenn sich der Schmerz melde - und sei er noch so stechend und alarmierend  - , ihm nur wenig bis keine Aufmerksamkeit schenken, sonst blase er sich nur zu einer Schimäre auf, zu einem Ungeist, den man aus der Flasche gelassen habe. Er, Wondrasch, halte immer gleich dagegen, in kleinen Dosierungen belaste er die in Frage kommende Körperstelle, dann steigere er deren Einsatz systematisch, peinigende Körpersignale ignorierend.
Kein Doktor?
Aber woher denn, kein Doktor!
Kein Googeln nach Krankheiten?
Oh nein, doch kein Googeln.
Schmerzen, so Wondrasch weiter, seien ungebetene Gäste, die es mit scharfem Blick zu verwarnen gelte.
Husch husch, euch will hier keiner.
Wondrasch also der alte Indianer, dessen Kiefermuskeln signalisieren, dass er keinen Schmerz kennt?
Aber so starr wirkt er nicht. Er spielt gerne, lacht und schäkert, hat kein aufgeblasenes autoritäres Gehabe, wie es die Stammeshäuptlinge der Indianer schon allein ihrer Würde wegen besitzen müssen. So wächst die Neugierde nach der Frage, wo Wondrasch diese sehr eigene Schmerztherapie denn herhat.
„Das ist so gewachsen“, sagt er zögerlich und sucht Worte, um mehr Zeit für eine Erklärung herauszuholen.  „Ich spielte als Junge allein und in der Bande fast nur draußen. Die gefährlichen Stellen waren die reizvollsten:  Bäche mit Steilufern, hohe Bäume, Steinbrüche als Wildwestlandschaft, Hohlwege mit Geröll und Schotter. Da war bei Verletzungen keine Zeit für’s  Jammern. Das Blut rasch mit Spucke wegwischen, ein wie magisches Wegstreichen des Schmerzes von geschundenen Knochen und Muskeln. Das Gesicht durfte man schon ein wenig verzerren, ein bisschen Humpeln oder Beinnachziehen waren auch erlaubt – aber nur im ersten spontanen Reflex! Stöhnte man öfter, so hieß es ‚Mach bloß kein Markus!‘ . Zuhause übte ich mich erst recht in entspannten, normalen Bewegungen. So gab es keine blöden Fragen. Abends im Bett hob ich neugierig mit dem Fingernagel den Grind an, der auf der Wunde juckte. Dann blitzte die zartrosa Haut der Heilung auf. Ohne Verband, ohne Jodtinktur und anderes Tamtam war sie einfach eingetreten. Ich ahnte es, das funktionierte nur, weil ich sie nicht erfleht, ihr nicht nachgewimmert hatte. Vielleicht war es so“, gickerte Wondrasch und seine Augen blitzten vor Lachen.

Warum soll ich es leugnen, dass ich Wondrasch beneide, dass ich mich auch etwas schäme, wenn ich beim nächsten Herzstechen den Infarkttod vor Augen sehe, während Wondrasch Angst und Schmerz schon mit seinem Blick vertreiben kann. Ich traue mich nicht zu fragen, was er mit dem Schmerz tat, als seine Frau plötzlich starb.

Aber ich stelle mir vor, wie er an ihrem Totenbett saß und lange in das Loch starrte, das sich als schwarzer Abgrund vor ihm auftat.

Und jetzt sehe ich es genau: Er starrte so lange und intensiv in die Kluft, bis sie sich mit kühlem, dunklen Wasser gefüllt hatte.


Dann stieg Wondrasch in dieses tiefe stille Wasser  und schwamm ,  und  schwamm……

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

Willkommen im reizenden Glockenbachtal


Einfach draufloslaufen, die Freiheit liegt so nah, fast vor den Toren der Stadt. Auf geht’s! „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!“ Was brauch ich eine Karte? Dieser Weg da lädt mich einfach ein, Schilder und Routenlenker gibt’s in der Stadt genug, hier Gottseidank nur Grün, Bäume, Stege, Pfade, verwunschene Senken, Schleichwege, die durch’s Unterholz mäandern. Wie doch die Natur immer wieder den Kopf durchschütteln kann! Dieser Buchenstamm ist eindeutig ein Elefantenbein, Vorhut einer monströsen Herde. Auf dem Bein des Urtiers, nein, bitte nicht – ein Schild: Pfeil nach links der Streuobstweg nach Partelstein. Im rechten Winkel Pfeil nach unten, nach unten? Okay, rechts unten nach Wirkelbach. Ich nehm‘ den dritten Weg, den ohne Richtungsschild. Ich will, dass heute alle Wünsche für mich offen bleiben. Lauf deinem Geheimnis nach! Sowas ist geil.
Gefühlte vier Kilometer weiter nagelt mich ein Totempfahl fest, der in zwanzig Winkelvarianten nach Glockenbach weist. So wie früher auf den Marktplätzen die Nostalgiewegweiser die Weite der verlorenen Heimat im Osten wachhielten: Danzig 732 km, Königsberg in Preußen 849 km, 975 km nach Memel, Kattowitz oder Oels.
Jesus, es gibt keine unausgeschilderten Wege mehr!
Ich bestreite ja nicht, dass es Schilder geben muss. Eines mit „Vorsicht Abgrund“ oder „Müllhalde – Besteigen auf eigene Gefahr“ erfüllt schon einen Zweck, aber meine Freiheitssehnsucht, „die Gedanken sind frei“, ein bisschen Vision – Quest im fränkischen Wald halt. Ich brauche sie, ich bestehe auf der Magie des unbeschilderten Weges. Auch wenn der Heimatverein Quendelbach in mühevoller Kleinarbeit den Tonscherbenweg im Königswald neu ausgeschildert hat. Ich mag auch keine Hinweistafel, auf der breit dargelegt wird, dass hier einmal eine Burg stand, die die Leuchtenberger 1368 an die Hennensteiner übergeben mussten und die dann 1440 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Ganz zu schweigen vom Peter-Handke-Gedächtnisweg, dem Kohlberger Skulpturenweg oder dem Lyrikpfad, auf dem alle 300 Meter in Stein gemeißelte Reime die Sonnenkraft, den Wuchs der Pflanzen und das Alter alter Steine besingen. Und den Jakobsweg mit seiner Muschel mag ich schon gar nicht, überall ist Jakobsweg, Deutschland ist bis Spanien ein Jakobsweg. I don’t like, can’t smile.
Wo bin ich?
Schließlich lande ich auf einem Kräuterriecheventweg mit Sportparcours in Glockenbach, wo ich garantiert nicht hinwollte.
Der Freiheitsraub dauerte 19 km und ich bin unangemessen müde. Was ist los mit meinem Kreislauf? Und warum bin ich so depressiv?
In mir blinken Warntafeln auf: „Follow me!“ In roten Buchstaben auf blauem Schirm „Kein Alkohol, keine Kohlehydrate nach 17.00 Uhr mehr!“, gefolgt in flottem Pink auf Lila „Frustrationsseminar im Maria-Bernstein-Centre buchen!“

Willkommen im reizenden Glockenbachtal!

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

Montag, 10. Juni 2013

Tor auf, Tor zu

Frisch gedruckter Führerschein. 1. Fahrt mit neuem Käfer in die Garage. Kotflügel vorne rechts. Quietsch. Kotflügel hinten links. Quietsch. Motor aus. Tor zu.
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August -Oktober

Tina ausgezogen, Bernd bleibt bei seinem Vater im Haus. Umzug in meine neue, alte Wohnung mit Lisa und Hund. Lisa zieht aus, der Hund stirbt. Ich bin alleine.
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Nonnenbunker


Ich stehe neben der hölzernen Schulbank stramm. Meine rechte Hand liegt ordentlich auf der abgeschrägten Tischplatte. Nur mein Zeigefinger fährt in klitzekleinen Kreisen über das eingeritzte Herz.
Fräulein Pritorious steht hinter ihrem Pult und tippt immer wieder auf das Heft vor ihr. Mein Heft. Eine sechs. In Englisch. Wieder.
Über und hinter ihr an der Wand hängt am hölzernen Kreuz ihr toter Jesus. Ihr Mund geht auf und zu. Worte mit Spucke angereichert werden aus dem Vulkanschlund heraus gespeiht. Sie fallen vor der ersten Schulbank ins Nichts. Ich bin mitten drin, im Stummfilm.
Eine dunkelblond, melierte Haarsträhne löst sich aus ihrem Dutt. Unverschämt. Energisch streicht sie sich mit der Linken die Knopfleiste ihrer Twinset Jacke über ihre flache Brust gerade. Ob sie, wie die Nonnen hier im Mädchengymnasium, ihre Brüste platt an den Körper bindet?
Ein Knall! Mit der flachen Hand hat sie auf mein Heft geschlagen.  Ihre roten Bäckchen vibrieren, als wollten auch sie ausbrechen. Mit einem energischen Ruck wird die vorwitzige Haarsträhne lang und glatt gezurrt und an Ort und Stelle wieder in den Haarclips eingeklemmt.

Wie in Zeitlupe bücke ich mich herunter, löse meinen Ranzen vom Haken, packe Buch und Stifte hinein, schultere ihn, schlängle mich durch die Reihen und  im hohen Bogen am Pult vorbei. Nie wieder betrete ich diesen Nonnenbunker.

Sonntag, 9. Juni 2013

Dann doch

Letzte
Tage, Stunden,
Minuten, Sekunden. Abschieden
folgen Ankünfte, Enden werden
Anfänge














Foto Copyright @ Fürtherin

Prüfung

Die Spannung lässt nach, die letzten Buchstaben kratzen sich in das billige Papier.

Kopf leer, Körper müde, die verkrampften Finger finden Ruhe.

Abschluss geschafft.
Foto Copyright @ Fürtherin

Regentropfen

Tropf, tropf, schwerer Regenguss, tropf, tropf, tropf...

Der letzte Regentropfen versickert sicherheitshalber noch in der trockenen Erde, damit die heiße Augustsonne ihn nicht noch in Dunst auflöst.
Foto Copyright @ Fürtherin

Ein Ende

Tock, tock, tock, Gong...... 
Aufstehen, Hände falten, verbeugen. 
Den Raum verlassen, ihn mit Verbeugung verabschieden. 
Gehen. Ein bis zwei Runden um das Zendo herum. 

Liebgewonnene Routine in der völligen Stille. Diese endet heute jäh mit dem Gong. 

Jeder nimmt das, was er am ersten Tag an seinen Platz drapiert hat wieder mit. Unruhe die diesem Ort unwürdig erscheint. Die Schleier sind gefallen, die Achtsamkeit, die man tagelang trainiert hat, stürzt in ein Zivilisationsloch. Auf einmal ist die Ruhe weg. Der Kokon in dem man tagelang fern der Welt lebte, bekommt böse Risse. Die Welt und der Lärm dringt ein, erreicht den Kopf, macht Töne hörbar, für die man noch nicht bereit ist. Man wirft Blicke die die Hülle weiter aufsprengen. Die Neugierde dringt ein und man verlässt sich und seine eigene Welt, den eigenen, schwer zurück erkämpften Mikrokosmos. In einem schreit es, man will da nicht raus. Eine Woche vorbei? Die Gedanken schlagen wieder Purzelbäume. Wie wird Morgen früh das Abgeholt werden? Es klopft das schlechte Gewissen von hinten an die Schulter, dass man keinen einzigen Gedanken an die Lieben daheim verschwendet hat. Will ich den Abend ruhig abschließen oder will ich mich unter die Menschen mischen, die ich nur auf einer anderen Ebene kennengelernt habe. Einer, die mir bisher völlig fremd war. Das neue Gemeinschaftsgefühl, das sich aufgebaut hat über Berührung und ohne Worte wird zerbrechen. Spätestens nach dem Frühstück. 

Der Abend in Gesellschaft ist schön und traurig zugleich. Heiterkeit, ein Geburtstag, sogar eine Gitarre. Aber da ist auch eine Traurigkeit, denn ein paar Menschen, die man heute Abend doch nicht trifft, weil sei die letzte Ruhe vor der Welt gewählt haben, macht sich breit.

Nähe, Wärme, Menschlichkeit die man von völlig fremden Menschen bekommen hat, die man aber nun wieder gehen lässt, schleichen sich weg. Katerstimmung wie bei einer Klassenfahrt, weil Morgen alles vorbei ist. Nur, dass die Klasse sich danach noch hat, die Gruppe hier aber in alle Windrichtungen verstreut sein wird. Der Austausch der Telefonnummern, der zu vereinzelten Kontakten führt, die sich nicht aufrecht erhalten lassen werden. Man weiß es, tut es aber trotzdem, weil man damit versucht, den Moment, die Stille, die Gefühle, die Geborgenheit festzuhalten. Der Versuch damit ein Stück in den Alltag zu retten. Man lernte viel über sich und die Anderen. Der Intuition zu folgen, den richtigen Moment zu finden. Loszulassen und im ich zu schweben und im Gegensatz zu sonst mal 100 % man selbst zu sein und keine Rolle zu bedienen.


Tock, tock, tock, Gong.....

Foto Copyright @ Fürtherin