Montag, 23. Juni 2014

Noch kürzere, eingedampfte Wendepunkte

Ja verreck, war die schee. A jeder hat si in der Schul verlibt in die Gudrun. Und etz? Lebds mit aner Fraa, die blaide Sulln…



Tina hatte alles, Mann, Kind, Haus, Hund, Cabrio und hätte glücklich sein können. Geld war auch im Überfluss vorhanden. Genauso wie das Schwiegermonster.


Schneewittchen war aus dem Weg geräumt. Die Stiefmutter konnte getrost ihren Spiegel befragen.
Wäre da nicht ihre 15 Jahre jüngere Stiefschwester gewesen.
























Der Kirschbaum war in voller Blüte, ein gutes Kirschenjahr kündigte sich an. Wilfried sah schon Marmeladengläser in den Ästen hängen.
Und dann kam Wiebke.



Kratz mich, beiß mich, gib mir Tiernamen, fleht die ans Bett gefesselte Siglinde. Erschöpft und befriedigt fallen sie ineinander.
Seine 100 kg auf ihre 60. Herzinfarkt.





Eingedampfte Wendepunkte

Da war diese 80 Jahre alte, einsame Frau, verwitwet und vom Leben gezeichnet. Margaretha, einsam auf ihrem Hof in Monte del Torro. Mir kommt kein Mann mehr ins Haus. Männer machen nur Arbeit und man muss für sie kochen. Sie hasste kochen, obwohl sie gerne aß.

Der neue Nachbar war so nett mit seinen 73 ein flotter Feger. Der sie eines Abends einlud zum Einstand. Verliebt hat sie sich sofort. In die besten Schäuferle der Welt.



Da waren Willi und Gabriele am Rande der Verzweiflung. Der schöne Garten kurz vor dem Kollaps. Hängende Blumen überall, Wasservorräte leer, die große Dürre. Gießverbot von der Stadt erlassen, streng überwacht.

Sie sorgten sich und sinnierten was man tun könnte. Sämtliche Alternativen wurden in Betracht gezogen. Schamanen, Indianer, Esotanten. Es wurde so einiges probiert und die Stierberger Nachbarn sagten schon: Etz spinners dodal, erscht Depression, dann Philosophie und etz a nu Deifelszeich. Hüpfen singend im Gardn als dädns Muggn fanga wolln und des Gejaule dazou…

Wussten aber, worum es ihnen ging, den Zugereisten. Und dann plötzliche Erfurcht, denn am Abend kam Wiebke.

Fürtherin, 26.05.2014 in Stierberg



Mittwoch, 18. Juni 2014

Drei kurze Wendungen

Herr H. verzweifelte jeden Tag bereits am Morgen. Sein Dienst im Finanzamt begann um 7.30 Uhr. Allein der Weg dorthin war eine Strafe.  Drei Fünftel aller Bürger der Stadt waren zu dieser Zeit unterwegs, alle Straßen verstopft. Also fuhr Herr H.  Öffentliche. Auch der Bus war jeden Morgen überfüllt. Schreiende, drängelnde Kinder trampelten auf seinen Füßen und seinen Nerven herum, der Achselschweiß der anderen beleidigte seine Nase und der Knoblauchduft des zahnlosen Rentners, der sich jeden Morgen zu ihm gesellte, brachte ihn nahe an eine Ohnmacht. An seiner Haltestelle stieg er aus, befreit von der Nähe der anderen, voller Grauen vor dem Kommenden. Acht Stunden Dateneingabe – nur Zahlen tippen, nur die Finger bewegen. Jeden Tag acht Stunden Ödnis. Jeden Morgen glaubte er die große Glastür nicht mehr öffnen, die Stufen zu seinem Büro nicht mehr bewältigen zu können. Jeden Tag gelang es dennoch. Hatte er seinen Schreibtisch erreicht, wo ihn der Computer mit schwarzem, gähnendem Rachen erwartete, atmete er schwer.
Aber heute, am Freitag, den 13, hatte der Bus sieben Minuten Verspätung. Es hatte einen Unfall gegeben. Herr H. ging etwas eiliger, bebender zur großen Glastür. Er musste Atem holen, bevor er sie öffnen konnte.
„Verzeihung“, sagte eine weiche Stimme neben ihm. „Könnten Sie mir bitte helfen?“
Er sah auf. Die Frau war jung, schön, blond, üppig und hatte die sanftesten Augen, die er je gesehen hatte. Sie lächelte. Neben ihr glänzte ein Porsche Cabrio.
„Wie?“ Er wusste nicht, ob er es gesagt oder nur gedacht hatte.
„Wie immer Sie wollen.“
Er überlegte lange. Dann lehnte er seine Aktentasche an die große Glastüre und stieg in den Wagen. „Würden Sie mich mitnehmen?“
„Wohin?“
„Wohin Sie wollen.“
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Es ging ihr gut. Es ging ihr unbeschreiblich gut. Sie hatte ihren Ruhestand erreicht, ihren Mann das Kochen und Bügeln gelehrt, hatte vor zwei Monaten einen nicht unerheblichen Betrag im Lotto gewonnen und diese Wohnung, die sie so sehr liebte, gekauft. So konnte sie es einfach nicht fassen, dass sie, als sie an diesem Morgen aufwachte, tot war.
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Er war so stolz auf sein neues Auto. Glänzend schwarz, stromlinienförmig, schnell -  damit konnte er punkten. Er hatte sich gestylt, passend zum Wagen. Lisa sollte staunen. Er fuhr rasant, hatte es schließlich eilig, nahm die letzte Kurve knapp – verfluchtes Katzenvieh! Unwillkürlich verriss er das Steuer, durchbrach den niedrigen Zaun und stand auf der Terrasse. Lisa blickte erschrocken aus dem Fenster. Dann schloss sie es sacht.
Stierberg, 25.05.14
Sonja Meier
....und ....
Eine letzte Wendung
Dietmar Dills Leiden endeten, als er entdeckte, dass er, indem er Zeige- und Mittelfinger der linken Hand kreuzte und mit Ringfinger und Daumen der rechten einen Kreis formte, die Haut eines anderen verfärben konnte, wenn er diesen anblickte. Er entschied sich für grün. War er vorher, weil klein und pummelig, der Prügelknabe der Klasse gewesen, so schaffte er sich nach und nach eine gewisse respektvolle Distanz. Gewiss, von heute auf morgen ging es nicht. Die Knaben, die sich über ihn lustig machten, seine Unsportlichkeit verhöhnten, die ihn drangsalierten, ja manchmal verprügelten, brauchten eine gewisse Zeit, die Zusammenhänge herzustellen. Keiner von ihnen hätte sich am Verfärben an sich gestört, von Torsten Teufel einmal abgesehen, der sich schwarz wünschte, aber die abendlichen Reinigungszeremonien waren anstrengend und da die Haut vom Schrubben immer dünner wurde, schließlich schmerzhaft. Dietmar Dill gewann an Ansehen. Anfänglich wendete er den Blick für Süßigkeiten oder Cola ab und hielt die Finger ruhig. Dann verlangte er die Übernahme seiner Hausaufgaben, schließlich Geld. Nach und nach wurde er zum unumschränkten Herrscher des Pausenhofes.
Seine Vormachtstellung begann zu bröckeln, als Rita Ratz entdeckte, dass sie durch bloßes, konzentriertes Betrachten die Ohren ihres Gegenübers  in von ihr gewünschte Größe und Form wachsen lassen konnte.
Nachträglich, im Geist von Stierberg, 27.05.14
Sonja Meier


Suppenhühner


Als ich von der Erbschaft erfuhr, war ich gerade im Stress. Ich hatte  meine Wohnung renoviert oder vielmehr renovieren lassen und das „lassen“ hatte mindestens soviel Arbeit, Ärger und Zeitaufwand gekostet, als hätte ich es selbst gemacht. Aber immerhin, das Ergebnis konnte sich sehen lassen: klare Linien, weiße Wände, weiße Türen, weiße Fliesen. Durch große Fenster der Blick über die Dächer der Stadt.
Ich war im Begriff mich neu einzurichten, die Lieferung der Möbel verzögerte sich um Wochen. Drei Monate lebte ich auf einer Baustelle, entnahm die Dinge des täglichen Bedarfs verschiedenen Kisten, verstaute sie abends wieder in anderen und verbrachte die Tage in Auseinandersetzungen mit Handwerkern und Raumausstattern und die Abende mit suchen. Und dies alles neben meinem Job. Ich bin Geschäftsführerin eines kleinen Modeateliers, zutreffender wäre allerdings Mädchen für alles. In meinen Kompetenzbereich fällt die Preiskalkulation genauso wie der Kauf der Stoffe, Kundenpflege, Werbung, Planung der Messetermine und der Einkauf des Klopapiers. Während der Renovierungsarbeiten hatte mein Arbeitstag dreizehn Stunden.
Jetzt endlich der Endspurt: das  Mobiliar wurde geliefert, ich fing an einzuräumen, neu zu ordnen, vieles wegzuwerfen, mich wieder zu organisieren. Dazwischen platzte die Nachricht vom Erbe des Häuschens in Niedersachsen, hinterlassen von meiner kinderlos gebliebenen Tante, eigentlich meine Großtante, mütterlicherseits. In Kindertagen war es für ein paar Jahre mein Feriendomizil gewesen; für ein Stadtkind ein Ort unvorstellbarerer Freiheit, voll von Abenteuern, mit fremden Gerüchen, selbst gemachter Marmelade und frischen, noch nestwarmen Frühstückseiern. Das lag über dreißig Jahre zurück, und nun empfand ich nicht einmal Dankbarkeit für die Zuwendung, nur Überdruss. Ich hatte mich auf mein neues Wohngefühl gefreut, auf die so sorgsam wieder hergestellte Ordnung, auf endlich  unzerknitterte Kleidung und auf Schuhe, die sich nicht hartnäckig einzeln in wechselnden Kappboxen verbargen. Ich hatte mich auf Kino, Konzert und Theater gefreut, auf all das, was man mit Freunden unternimmt, wenn man Zeit dazu hat. Nach drei Monaten Chaos wollte ich mich nicht auch noch mit dem Verkauf einer abgewirtschafteten Immobilie in Niedersachsen befassen.
Aber ich musste wohl.
Ich verband den ersten Besuch mit dem von Freunden in Hamburg. Ich freute mich auf die Stadt und auf die alten Freunde.
„Ach, ziehst du jetzt etwa auf’s Land?“ fragte Eva belustigt, als ich erzählte. „Dann müssen wir Gummistiefel kaufen gehen“.
Wir standen in Sarah Willmers Galerie und feierten den allerersten Verkauf eines von Evas Bildern.
„Karin nimmt ein Sabbatical“ grinste Jörg. „Sie vergisst für ein Jahr Mode und Modemachen und bestellt die eigene Scholle.“
Ich wusste nicht mal mehr genau, wo sich die Scholle befand, geschweige denn, wie sie aussah. Mein letzter Besuch lag Jahrzehnte zurück. Ich fuhr am nächsten Tag los, noch ein wenig verkatert von Evas Feier, fuhr über ebenes Land nach Süden, durch Dörfer, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Zweimal meldete mein Navi, eine Wegempfehlung könne nicht gegeben werden, aber nach knapp zwei Stunden erreichte ich doch Emdachsen. Das Häuschen lag am westlichen Ortsende, an ungeteerter Straße. Es war gänzlich zugewachsen von Efeu, wildem Wein, von Büschen, Bäumen, vom Wildwuchs der Natur, die längst die Überhand gewonnen hatte. Die Nachbarin gab mir den Schlüssel. Ich tastete mich den schmalen, Moos bedeckten Weg entlang, schlängelte mich durch hüfthohe Brennnesseln, streifte durch Spinnennetze und verfluchte meine Pumps. Die Steintreppe wies Frostlöcher auf, die Haustür klemmte. Als ich mich dagegen stemmte, riss mein Top an einem Holzspan. Im Stillen verfluchte ich auch das Top. Drinnen sah es aus wie draußen: Verfall und Verlassenheit. Die wenigen Möbel trugen eine dicke Staubschicht, vergilbte Bilder an den Wänden. Ärmlichkeit. Langsam ging ich durch die kleinen Zimmer – Puppenstube, fiel mir ein. Ich sah die Tante vor mir: klein und mager, mit dicken Brillengläsern in dem runden, freundlichen Gesicht; Augen, die immer ein bisschen verwundert blickten und ein bisschen schüchtern.
„Sie war das letzte Vierteljahr im Heim“ sagte eine Stimme hinter mir. „Da ging’s einfach nicht mehr“. Der Nachbar stand in der Tür. „Wir haben uns ein bisschen gekümmert.“
Ich dankte, sagte, dass ich einen Makler beauftragen würde und ein Entsorgungsunternehmen, wenn ich alles gesichtet hatte.
„Und die Hühner?“ fragte der Nachbar.
„Hühner??!“
„Jou, drei sind noch da. Wir haben ja nicht gewusst, was Sie damit machen wollen; wir haben sie halt gefüttert die Zeit.“
Ich ging nach draußen, schlug mich ein weiteres Stück durch den Urwald und fand den kleinen Hühnerhof hinter dem Haus. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht, und ich rutschte auf dem Hühnerkot aus und wäre fast gestürzt. Der Nachbar fing mich auf. Er grinste. „Müssen Sie selber wissen, aber ich denk‘, die Schuhe sind hier nicht gut.“
Ich sagte nichts. Drei Hühner standen am Zaun und starrten mich an. Das erste legte den Kopf schief und gackerte.
„Anna, Berta und Dora“ sagte ich. „Mit C ist Tante Elsbeth nie ein Name eingefallen.“ Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. „Sie hat ihre Hühner immer alphabetisch benannt und sie konnte sie auseinander halten.“
„Aber die sind alt. Die legen schon lang nicht mehr. Wenn Sie wollen, dreh‘ ich ihnen die Krägen rum. Für eine Suppe tun sie’s noch.“
„Nein.“ Der Kloß steckte immer noch. Ich blickte auf den Urwald, blickte auf meine ruinierten Schuhe und straffte mich. „Tante Elsbeth hatte keine Suppenhühner.“
Ich würde Gummistiefel kaufen müssen.

Stierberg, 24.05.14

Sonja Meier

Tod durch Ertrinken

Hans-Hermann Hunsinger betrachtete sich im Spiegel, prüfte die Wunde, die der am Tag zuvor gezogene Backenzahn hinterlassen hatte, strich sich über die letzte, dünne Haarsträhne über seiner Stirn, registrierte die Tränensäcke unter den Augen mit dem Fassungsvermögen der Restmülltonne des Sechs-Parteien-Hauses und beschloss den Verfall  seines Körpers erheblich zu beschleunigen, indem er seinem Leben ein Ende setzte. Nicht auf die Art und Weise, die ihm vor einiger Zeit sein langjähriger, vertrauter Orthopäde angeraten hatte, der empfahl, wenn er, Hans-Hermann, in dem fortgeschrittenen Alter, also jenseits der Fünfzig, gänzlich schmerzfrei sein wolle, so solle er in dem Haus, in dem sich die Arztpraxis befand, in den obersten Stock fahren – es sei der dreizehnte – dort zur Feuertreppe hinaustreten, von der kleinen Plattform auf die Brüstung steigen und hinabspringen und er, Hans-Hermann, könne sicher sein, sozusagen ärztlich garantiert, in kürzester Zeit  von Beschwerden jeglicher Art befreit zu sein. Hans-Hermann war vom dritten Stock, in dem sich die Praxis befand, bin in die zehnte Etage gefahren und dann die restlichen drei Stockwerke langsam, den quälenden Fersensporn ganz bewusst wahrnehmend, zu Fuß hinaufgestiegen. Er blickte über die Brüstung auf die Bahnhofsgebäude und auf die Schienenstränge, bis zu dem Punkt, wo sie sich in der Ferne verloren, und er blickte auf den Parkplatz unter ihm, wo Asphaltarbeiten durchgeführt wurden. Das Knattern der Presslufthämmer drang hinauf bis zu ihm und beleidigte sein empfindsames Ohr. Da er zudem keine Lust verspürte, einem verschwitzten Bauarbeiter auf den Kopf zu springen, war er wieder gegangen, war die Stockwerke hinuntergefahren – diesmal alle – und hatte die Entscheidung vertagt.
Er wollte, dachte er nun vor dem Spiegel, eine so nachhaltige Operation mit einem gewissen Stil erledigen und den angekündigten strengen Nachtfrost nutzen. Er kleidete sich an, verließ das Haus, erwarb in der nahe gelegenen Apotheke eine große Packung Schlaftabletten und im Feinkostgeschäft zwei Straßen weiter eine Flasche 25 Jahre alten Cognac zu 348.--€. Am späten Abend packte er Tabletten, Cognac, ein Glas, ein Sitzkissen und eine Taschenlampe in den Packnickkorb, zog – angesichts des Vorhabens – nur eine leichte Jacke über, verzichtete auf den Schal und ging in den Wald. Er ging lange, bis er eine Stelle fand, die ihm geeignet schien, ließ sich nieder und nahm die Tabletten mit Hilfe des Cognacs ein. Da er wenig Erfahrung mit Schlaftabletten und Alkohol hatte, wurde ihm zwar übel, doch wurde er auch rasch etwas benommen. Die Welt begann sanft zu schaukeln, und nach dem Genuss etwa der Hälfte des Proviantes schlief er, eingebettet zwischen zwei Baumstämmen, schließlich ein.
Ein Reh, ein Fuchs und zwei Hasen, die das Geschehen mit lebhaftem Interesse verfolgt hatten, legten sich, nachdem der Fuchs um den Preis des im Glas verbliebenen Cognacs den anderen unbehelligten Aufenthalt und freies Geleit zugesichert hatte, neben und auf den Schlafenden, wärmten seine Flanken und seine Brust und da ein unerwarteter Föhnsturm über Nacht Regen und mildere Temperaturen brachte, wachte Hans-Hermann 24 Stunden später nass und mit heftigen Halsschmerzen, aber ohne Erfrierungen auf, versuchte sich zu erinnern und trottete schließlich nach Hause.  Noch etwas benommen, verschmutzt und mit Juckreiz am ganzen Körper – die Flöhe des Fuchses hatten die Gelegenheit zu einem Ausflug genutzt – entschloss er sich, ein Erkältungsbad zu nehmen und ließ Wasser in die Wanne. Er zögerte, als sein Blick auf den Fön fiel: 1800 Watt. Vorsichtig legte er das Gerät auf den Rand, dort wo dieser am breitesten war, und stieg in die Wanne. Das heiße Wasser umspülte seinen ausgekühlten Körper, die ätherischen Öle ließen ihn freier atmen. Er starrte den Fön an und schwankend zwischen Wunsch und Furcht hob er langsam das Bein, zögerte noch einmal, schloss ganz fest die Augen und schob das Gerät mit einer raschen Bewegung ins Wasser.
Es geschah nichts, gar nichts. Er öffnete die Augen wieder, vorsichtig, eines nach dem anderen, und ganz allmählich, geradezu mühsam, als müsse er sich einen Weg nach oben erarbeiten, stieg ein Gedanke in sein Bewusstsein: er hatte vergessen, das Kabel in die Steckdose zu stecken. Hans-Hermann setzte sich auf, nahm den nassen Fön aus der Wanne, stieg selbst heraus, ebenso zögernd und umständlich, wie vorher der Gedanke in sein Bewusstsein gedrungen war, öffnete den Wasserablauf  und trocknete sich zitternd ab. Er setzte sich im Wohnzimmer in einen der abgeschabten Sessel, starrte auf den staubigen Glastisch, den Picknickkorb mit dem klebrigen Glas und der halb leeren Flasche und schließlich füllten sich seine Augen mit Tränen, quollen über, die Tränen wuchsen sich aus zu kleinen Bächen, die anschwellend sein Gesicht und seinen Bademantel nässten. Er weinte und weinte und konnte nicht aufhören.
Als eine Woche später das Ehepaar, das die Wohnung unter ihm bewohnte, aus dem Skiurlaub zurückkehrte, fand es Decken und Wände durchnässt vor, auch der Boden trug feuchte Spuren. Da ihnen auf Klingeln und Klopfen im Stockwerk darüber nicht geöffnet wurde, riefen sie schließlich die Feuerwehr, die die Wohnung aufbrach. Sie fanden Hans-Hermann Hunsinger tot vor einem Sessel liegend, den Fußboden und die Wände auf halbe Höhe durchnässt vor. Polizei und Notarzt wurden verständigt. Der Gerichtsmediziner diagnostizierte Tod durch Ertrinken und auch die Obduktion gab keine weiteren Aufschlüsse. Rätselhaft blieb die Herkunft des Wassers. Weder die hinzugezogenen Chemiker des Fraunhofer Instituts noch Polizei und Gerichtsmedizin, die wochenlang Fakten prüften und mögliche Abläufe erwogen, fanden jemals eine Erklärung für die weißen Ränder an Decken und Böden. Nur dass es Salz war, das stand fest.

01.05.14
Sonja Meier


Der Moment, in dem du alles weißt

Gertrud erlebte als Kind noch so viel vom Krieg, dass ihr klare Erinnerungen blieben: die Bombardierung ihrer Heimatstadt München, die Evakuierung der Familie ins ungefährdete Rottal, das tägliche Warten der nervösen Mutter auf Briefe vom Vater an der Front. Später wird sie sagen, dass sie das tief prägte, viel grundsätzlicher und härter als ihr Teenagerdasein in der Zeit der frühen Bundesrepublik. Der Besuch des Mädchengymnasiums verlief quirlig, abwechslungsreich, forderte nichts Entscheidendes oder Beschwerendes. Eine leichtfüßige, fast tänzelnde Zeit für junge Frauen, wie das halt so üblich ist für Achtzehnjährige, deren Herz genauso aufgeregt bei der Lateinschulaufgabe pocht wie beim Anklopfen des Tanzpartners, der sie zum Kurs abholt und an der Eingangstür brav einen Diener macht. Vielleicht war auch das erstaunliche Wirtschaftswunder des jungen, zur Demokratie entschlossenen Staates daran schuld, dass Gertrud ihr Leben ein wenig wie beschwipst wahrnahm, prickelnd jedenfalls. Alles war möglich: Papa kam heil aus dem Krieg zurück, machte schnell Karriere als Notar und Senator, Mama gab die Lehrtätigkeit auf und übersetzte englische Literatur ins Deutsche, die ältere Schwester Dietlinde studierte selbstbewusst Jura. Die Familie fühlte sich mit Recht binnen kurzem der Münchner Oberschicht zugehörig, ihr Haus, ihr Lebensstil fingen an zu glänzen. Der Papa, liberal in der Grundhaltung und von gediegener Bildung, hatte Großes vor mit seinen beiden gescheiten Töchtern.
Besagter Tanzstundenpartner wurde manchmal zu Festen der Familie geladen; warum nicht auch er? Gertrud witzelte gerne über ihn, der tapfer Chemie studierte und so reizend ungelenk wirkte, wenn er den Kavalier zu spielen versuchte und sich dabei immer wieder in plumpe Ungeschicklichkeiten verstrickte, die natürlich seiner niederbayerisch bäuerlichen Herkunft entstammten. Aber er tanzte gut, war bisweilen witzig, wenn auch nicht wirklich geistreich. Amüsant zu sehen, wie er sich abrackerte, aber letztlich nicht wichtig in dem attraktiven Leben, das Gertrud genoss.
Und dann ging alles schnell, noch schneller, als es die junge Abiturientin schon kannte. Dieser Rudolf, so hieß der aufstrebende Bauernsohn, warb Tag für Tag heftiger um Gertrud. Er war immer präsent, rief an, schickte Präsente, Blumen natürlich auch, erbat einen Ausgehtermin nach dem anderen. Als Gertrud mit Freundinnen sechs Tage Urlaub am Gardasee verbringen durfte, brauste er mit seiner Vespa in ihr Feriendomizil und stand grinsend vor ihrer Hotelzimmertüre – „So, da bin ich, dein Rudi lässt nicht locker, gell?“  Ja, das war es, er nannte sich einfach „ihr Rudi“, erklärte unaufgefordert, er werde immer für sie da sein und sie nie im Stich lassen. Gertrud wunderte sich, wie er auf solche Schwüre kam, ließ ihn aber gewähren. Es war zu schmeichelhaft, so heftig begehrt zu werden, keine ihrer Klassenkameradinnen hatte das schon erlebt und nun passierte ihr das in solcher Überschwänglichkeit. Sie kicherte, als sie ihrer Freundin erzählte, dass Rudi mittlerweile vom Heiraten und Kinderkriegen sprach. Die Freundin kicherte mit ihr mit. Was sollten sie sonst anderes machen? Sicher, Gertrud litt auch manchmal an der Penetranz ihres Rudolf. Sie bemerkte, wie ihre ältere Schwester beim Erwähnen seines Namens die Augen verdrehte und ihr Vater die Stirn runzelte, aber sie war nicht fähig zu durchschauen, dass Rudi vorging wie ein Bauer, der im Frühjahr binnen zwei Tagen seinen Acker bestellen muss, „weil das Wetter g’rad passt“. Er stand kurz vor dem Examen und wollte fast zeitgleich mit der Familiengründung starten, wenn nicht jetzt gleich, wann denn sonst? Und „gepasst“ hat die schlanke Gertrud gut, denn sie kam aus reichem und angesehenem Haus, war halt wer. Und Rudi wollte auch wer sein, der Bauernsohn, der demnächst in Chemie promovierte. Die Ereignisse überschlugen sich, die planerischen Aktivitäten des Bräutigams, wie er sich nun nannte, wurden immer genauer und konkreter. Gertrud verfiel in ein Staunen darüber und über sich selbst. Suchte sie nach Erklärungen, sagte sie erstaunlich oberflächlich, sie beide seien halt etwas „früh dran“, studieren könne sie ja dann auch noch nach dem ersten Kind – „die einen so, die anderen so“, warum nicht? Die Eltern warnten, aber natürlich dezent, übten keinen wirklichen Druck auf sie aus, was zu ihrer toleranten Aufgeklärtheit ja auch nicht gepasst hätte.
Schließlich war es so weit, noch keine 20 heiratete Gertrud ihren 10 Jahre älteren Rudolf, Doktor der Naturwissenschaften. Sieben Monate hatte sein Werben gedauert und sich Schritt für Schritt unentwegt gesteigert. Die Eltern, die Kirche, alle gaben ihren Segen. Als Gertrud vor dem Tisch des Standesbeamten saß, sie den Ring mit ihrem Bräutigam austauschte und plötzlich mit dessen Nachnamen die Beurkundung bestätigen sollte, durchzuckte sie es. „Nein, das ist er nie und nimmer. Mit dem will ich doch nicht zusammen mein Leben verbringen.“ So glasklar blitzte es in ihr auf. Sie berichtete später einmal, dass in ihr der Satz „Das ist falsch, was du hier tust!“ Wort für Wort zu hören gewesen sei. Es blieb aber beim Aufblitzen, dem glasklaren. Folgen hatte es keine. Woher hätte auch der Mut zu dem für eine radikale Änderung notwendigen Eklat kommen sollen?

25 Jahre musste sich Gertrud mit dieser Ehe herumplagen, drei Kinder, die ihr große und größte Sorgen bereiteten, zog sie dabei auf, bis sie sich entschloss, Rudi zu verlassen.

Als ich Gertrud einmal in einem Gespräch, in dem es um „Momente, in denen man alles durchschaut“, ging, lächelte sie, ich glaube, sie lächelte entspannt.  

Wilfried Christel

Die Goldene

Sie wusste, dass das ein ganz entscheidendes Ereignis werden würde. Der Bürgermeister würde selbst zum Gratulieren vorbeikommen, die Leute vom Gemeindeblatt würden ein Foto machen. Bei der Goldenen erschien das dann automatisch. Oh Gott, sie brauchte noch einen passenden Friseurtermin kurz davor. Die Tochter war angewiesen, das kleine Häuschen  so umzuräumen, dass man eine Festtafel einrichten konnte. Der Sohn schaffte Getränke herbei. Unmengen von Kuchen und kalten Platten waren bestellt. Ob’s auch wirklich reicht? Ihr schwirrte der Kopf, alles hing an ihr, dachte sie. Aber er musste ja doch die längste Zeit liegen, war eben so. Dann rief sie nochmals die Gäste an. Sie wollte es direkt von ihnen hören, dass sie auch ganz sicher kämen. Nein, macht euch doch keine Umstände mit Geschenken, was braucht denn unsereins noch, Hauptsache ist, wir sehen uns. Langes Nachdenken, lange Gespräche , was sie denn anziehen sollte. Welches Kleid machte noch ein bisschen was her? Meinst du nicht doch lieber das plissierte oder das braune, das seidene? Wer kehrt den Hof noch einmal gründlich?
Dann war der Tag der Goldenen ganz rasch da. Alles lief wie am Schnürchen. Die Anrufe absolvierte sie tapfer, bemühte sich nach jedem Klingeln um einen frischen Ton; gerade bei den Floskeln gelang das immer wieder erstaunlich gut. Kam das Gespräch auf ihren Mann, zitterte ihre Stimme, ein paar Atemzüge lang weinte sie dann in den Hörer. Aber sonst klappte alles. Sie empfing die Gäste, lenkte Blumen und Geschenke auf den Gabentisch, dankte für die artigen Glückwünsche und Komplimente. Ja, ja, alles Gute für die nächsten 50 Jahre, danke, du Schelm. Warum nicht ein Tänzchen wagen? Tapfer schaute sie in die Fotokamera : das Glück festhalten und so lächeln, dass man später noch gerührt sein würde von ihrer Art zu schauen. Danke, Herr Bürgermeister, dass Sie persönlich, oh, Herr Pfarrer, wie schön, dass Sie auch verbeischauen. Ihrem Mann hatte der Hausarzt eine Art Wunderspritze verpasst. Er konnte danach tatsächlich Hände schütteln und ein paar von seinen alten Sprüchen und Witzen aufsagen. Später wechselte sie an der Tafel öfter den Platz, ganz die zugewandte Gastgeberin, wollte sie mit allen, die gekommen waren, auch persönlich reden. Auf den Stühlen, auf denen sie gesessen hatte, hinterließ sie nasse, braune Flecken im Polster. „Mutti, übernimm dich doch nicht. Bleib sitzen, die Leute kommen doch zu dir her!“, sagte die Tochter verlegen.

„Aber, das macht mir doch nichts!“
Sie strahlte. Ihre Augen blitzten unter der Perücke hervor, die sie seit der Chemo tragen musste. Ihre Goldene!

„Stellen Sie sich vor, wir feiern tatsächlich noch unsere Goldene!“

Wilfried Christel