Mittwoch, 18. Juni 2014

Drei kurze Wendungen

Herr H. verzweifelte jeden Tag bereits am Morgen. Sein Dienst im Finanzamt begann um 7.30 Uhr. Allein der Weg dorthin war eine Strafe.  Drei Fünftel aller Bürger der Stadt waren zu dieser Zeit unterwegs, alle Straßen verstopft. Also fuhr Herr H.  Öffentliche. Auch der Bus war jeden Morgen überfüllt. Schreiende, drängelnde Kinder trampelten auf seinen Füßen und seinen Nerven herum, der Achselschweiß der anderen beleidigte seine Nase und der Knoblauchduft des zahnlosen Rentners, der sich jeden Morgen zu ihm gesellte, brachte ihn nahe an eine Ohnmacht. An seiner Haltestelle stieg er aus, befreit von der Nähe der anderen, voller Grauen vor dem Kommenden. Acht Stunden Dateneingabe – nur Zahlen tippen, nur die Finger bewegen. Jeden Tag acht Stunden Ödnis. Jeden Morgen glaubte er die große Glastür nicht mehr öffnen, die Stufen zu seinem Büro nicht mehr bewältigen zu können. Jeden Tag gelang es dennoch. Hatte er seinen Schreibtisch erreicht, wo ihn der Computer mit schwarzem, gähnendem Rachen erwartete, atmete er schwer.
Aber heute, am Freitag, den 13, hatte der Bus sieben Minuten Verspätung. Es hatte einen Unfall gegeben. Herr H. ging etwas eiliger, bebender zur großen Glastür. Er musste Atem holen, bevor er sie öffnen konnte.
„Verzeihung“, sagte eine weiche Stimme neben ihm. „Könnten Sie mir bitte helfen?“
Er sah auf. Die Frau war jung, schön, blond, üppig und hatte die sanftesten Augen, die er je gesehen hatte. Sie lächelte. Neben ihr glänzte ein Porsche Cabrio.
„Wie?“ Er wusste nicht, ob er es gesagt oder nur gedacht hatte.
„Wie immer Sie wollen.“
Er überlegte lange. Dann lehnte er seine Aktentasche an die große Glastüre und stieg in den Wagen. „Würden Sie mich mitnehmen?“
„Wohin?“
„Wohin Sie wollen.“
                                               ------------------------------------------------------------------------
Es ging ihr gut. Es ging ihr unbeschreiblich gut. Sie hatte ihren Ruhestand erreicht, ihren Mann das Kochen und Bügeln gelehrt, hatte vor zwei Monaten einen nicht unerheblichen Betrag im Lotto gewonnen und diese Wohnung, die sie so sehr liebte, gekauft. So konnte sie es einfach nicht fassen, dass sie, als sie an diesem Morgen aufwachte, tot war.
                                               -------------------------------------------------------------------------
Er war so stolz auf sein neues Auto. Glänzend schwarz, stromlinienförmig, schnell -  damit konnte er punkten. Er hatte sich gestylt, passend zum Wagen. Lisa sollte staunen. Er fuhr rasant, hatte es schließlich eilig, nahm die letzte Kurve knapp – verfluchtes Katzenvieh! Unwillkürlich verriss er das Steuer, durchbrach den niedrigen Zaun und stand auf der Terrasse. Lisa blickte erschrocken aus dem Fenster. Dann schloss sie es sacht.
Stierberg, 25.05.14
Sonja Meier
....und ....
Eine letzte Wendung
Dietmar Dills Leiden endeten, als er entdeckte, dass er, indem er Zeige- und Mittelfinger der linken Hand kreuzte und mit Ringfinger und Daumen der rechten einen Kreis formte, die Haut eines anderen verfärben konnte, wenn er diesen anblickte. Er entschied sich für grün. War er vorher, weil klein und pummelig, der Prügelknabe der Klasse gewesen, so schaffte er sich nach und nach eine gewisse respektvolle Distanz. Gewiss, von heute auf morgen ging es nicht. Die Knaben, die sich über ihn lustig machten, seine Unsportlichkeit verhöhnten, die ihn drangsalierten, ja manchmal verprügelten, brauchten eine gewisse Zeit, die Zusammenhänge herzustellen. Keiner von ihnen hätte sich am Verfärben an sich gestört, von Torsten Teufel einmal abgesehen, der sich schwarz wünschte, aber die abendlichen Reinigungszeremonien waren anstrengend und da die Haut vom Schrubben immer dünner wurde, schließlich schmerzhaft. Dietmar Dill gewann an Ansehen. Anfänglich wendete er den Blick für Süßigkeiten oder Cola ab und hielt die Finger ruhig. Dann verlangte er die Übernahme seiner Hausaufgaben, schließlich Geld. Nach und nach wurde er zum unumschränkten Herrscher des Pausenhofes.
Seine Vormachtstellung begann zu bröckeln, als Rita Ratz entdeckte, dass sie durch bloßes, konzentriertes Betrachten die Ohren ihres Gegenübers  in von ihr gewünschte Größe und Form wachsen lassen konnte.
Nachträglich, im Geist von Stierberg, 27.05.14
Sonja Meier


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen