Herr H.
verzweifelte jeden Tag bereits am Morgen. Sein Dienst im Finanzamt begann um
7.30 Uhr. Allein der Weg dorthin war eine Strafe. Drei Fünftel aller Bürger der Stadt waren zu
dieser Zeit unterwegs, alle Straßen verstopft. Also fuhr Herr H. Öffentliche. Auch der Bus war jeden Morgen
überfüllt. Schreiende, drängelnde Kinder trampelten auf seinen Füßen und seinen
Nerven herum, der Achselschweiß der anderen beleidigte seine Nase und der
Knoblauchduft des zahnlosen Rentners, der sich jeden Morgen zu ihm gesellte,
brachte ihn nahe an eine Ohnmacht. An seiner Haltestelle stieg er aus, befreit
von der Nähe der anderen, voller Grauen vor dem Kommenden. Acht Stunden
Dateneingabe – nur Zahlen tippen, nur die Finger bewegen. Jeden Tag acht
Stunden Ödnis. Jeden Morgen glaubte er die große Glastür nicht mehr öffnen, die
Stufen zu seinem Büro nicht mehr bewältigen zu können. Jeden Tag gelang es
dennoch. Hatte er seinen Schreibtisch erreicht, wo ihn der Computer mit
schwarzem, gähnendem Rachen erwartete, atmete er schwer.
Aber heute, am
Freitag, den 13, hatte der Bus sieben Minuten Verspätung. Es hatte einen Unfall
gegeben. Herr H. ging etwas eiliger, bebender zur großen Glastür. Er musste
Atem holen, bevor er sie öffnen konnte.
„Verzeihung“, sagte
eine weiche Stimme neben ihm. „Könnten Sie mir bitte helfen?“
Er sah auf. Die
Frau war jung, schön, blond, üppig und hatte die sanftesten Augen, die er je
gesehen hatte. Sie lächelte. Neben ihr glänzte ein Porsche Cabrio.
„Wie?“ Er wusste
nicht, ob er es gesagt oder nur gedacht hatte.
„Wie immer Sie
wollen.“
Er überlegte lange.
Dann lehnte er seine Aktentasche an die große Glastüre und stieg in den Wagen.
„Würden Sie mich mitnehmen?“
„Wohin?“
„Wohin Sie wollen.“
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Es ging ihr gut. Es
ging ihr unbeschreiblich gut. Sie hatte ihren Ruhestand erreicht, ihren Mann
das Kochen und Bügeln gelehrt, hatte vor zwei Monaten einen nicht unerheblichen
Betrag im Lotto gewonnen und diese Wohnung, die sie so sehr liebte, gekauft. So
konnte sie es einfach nicht fassen, dass sie, als sie an diesem Morgen
aufwachte, tot war.
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Er war so stolz auf
sein neues Auto. Glänzend schwarz, stromlinienförmig, schnell - damit konnte er punkten. Er hatte sich
gestylt, passend zum Wagen. Lisa sollte staunen. Er fuhr rasant, hatte es
schließlich eilig, nahm die letzte Kurve knapp – verfluchtes Katzenvieh!
Unwillkürlich verriss er das Steuer, durchbrach den niedrigen Zaun und stand
auf der Terrasse. Lisa blickte erschrocken aus dem Fenster. Dann schloss sie es
sacht.
Stierberg, 25.05.14
Sonja Meier
....und ....
Eine letzte Wendung
Dietmar Dills
Leiden endeten, als er entdeckte, dass er, indem er Zeige- und Mittelfinger der
linken Hand kreuzte und mit Ringfinger und Daumen der rechten einen Kreis
formte, die Haut eines anderen verfärben konnte, wenn er diesen anblickte. Er
entschied sich für grün. War er vorher, weil klein und pummelig, der
Prügelknabe der Klasse gewesen, so schaffte er sich nach und nach eine gewisse
respektvolle Distanz. Gewiss, von heute auf morgen ging es nicht. Die Knaben,
die sich über ihn lustig machten, seine Unsportlichkeit verhöhnten, die ihn
drangsalierten, ja manchmal verprügelten, brauchten eine gewisse Zeit, die
Zusammenhänge herzustellen. Keiner von ihnen hätte sich am Verfärben an sich
gestört, von Torsten Teufel einmal abgesehen, der sich schwarz wünschte, aber
die abendlichen Reinigungszeremonien waren anstrengend und da die Haut vom Schrubben
immer dünner wurde, schließlich schmerzhaft. Dietmar Dill gewann an Ansehen.
Anfänglich wendete er den Blick für Süßigkeiten oder Cola ab und hielt die
Finger ruhig. Dann verlangte er die Übernahme seiner Hausaufgaben, schließlich
Geld. Nach und nach wurde er zum unumschränkten Herrscher des Pausenhofes.
Seine
Vormachtstellung begann zu bröckeln, als Rita Ratz entdeckte, dass sie durch
bloßes, konzentriertes Betrachten die Ohren ihres Gegenübers in von ihr gewünschte Größe und Form wachsen
lassen konnte.
Nachträglich, im
Geist von Stierberg, 27.05.14
Sonja Meier
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