Donnerstag, 28. November 2013

BAUMRINGEN

Wenn ich ein Vöglein wäre, würde ich Dinge sehen, die ich so niemals sehen kann. Ich könnte den Wind zwischen meinen Federn spüren, elegant in den Wolken schweben, dabei Melodien zwitschern, wundervolle Welten entdecken oder einfach nur fliegen, fliegen, fliegen... Irgendwann würde ich mir einen Ort suchen, mich ins sanfte Gras gleiten lassen, mir ein einladendes Gehölz mit schützendem Bewuchs suchen, mich niederlassen um ein Nest zu bauen. Wenn ich es will. Oder einfach weiter fliegen.

Ich bin aber kein Vogel, ich bin sein Gegenüber und stehe hier, mitten im Wald. Tief verankert, geben mir meine Wurzeln Halt. Aus dem Erdreich ziehe ich meine Energie. Das Federvieh in seiner ganzen Vielfalt spürt das und landet gerne in meinen weiten Verzweigungen. Meist kommen sie luftig aus der Höhe, wippen vergnügt auf und nieder, knüpfen Kontakte, trällern vergnügt und bringen mit ein Stück Leben von der weiten Welt mit. Seltener kommen auch welche heran stolziert. Ich denke da an den albernen Gockel und den eitlen Pfau. Ich muss nicht jedermanns Freund sein. Ein kurzes Rascheln mit meinem Kleid genügt und schon huschen sie davon.

In jungen Jahren suchten meine Nähe eher so Gesellen wie Bachstelze, Steinschmätzer, Feldlerche, Goldammer, Wiesenpieper oder diese Hänflinge. Lästig fand ich allerdings die Klappergrasmücken. Lustig und lebensfroh waren sie alle miteinander, wie auch Rotkehlchen und Spatz. Viel Spaß hatten wir zusammen, es war immer etwas los. Eines hatten alle diese jungen, flatterhaften Möchtegern Herrn der Lüfte gemeinsam: sie wollten vögeln. Viele habe ich in hohem Bogen unter lautem Protest davongejagt.

Bewundert, meist aus der Ferne, habe ich lange den wunderschönen Fischreiher. Elegant und selbstbewusst kommt er des Weges. Eine tolle Ausstrahlung hat er. Irgendwann wurde mir klar, dass auch er nur ein Kranich ist. Und die wissen ja nicht was sie wollen. Ziehen hierhin, ziehen dorthin und nirgends sind sie zuhause. Oder der kräftige, wunderschöne Adler, der seine Freiheit zu fliegen genießt. Freiheit bedeutet ihm sehr viel. Seine Vielseitigkeit und seine innere Stärke habe ich stets bewundert. Meist wenn er flog, gelandet ist er nie bei mir.

Einige Blätterwechsel später kamen die an Nestbau Interessierten zu mir. Ich hatte eine beträchtliche Höhe und die Reife dazu erreicht und das, was ich zu bieten hatte, ließ sich sehen. Ich bin eine recht anpassungsfähige und gesunde Kiefer. Warum nicht zulassen, dass sich jemand bei mir einnistet? Mein immer grünes Gehölz hat einiges zu bieten.

Zunächst klopfte der Specht an. Ein passabler Handwerker, der sogleich auch seinen Werkzeugkoffer auspackte. Aber den ganzen Tag das Gehämmere? Das ging mir durch Harz und Wurzeln und verletzte meine empfindsame Rinde zu sehr. Außerdem soll der Nachwuchs Nesthocker sein. Und wer will sich schon über lange Zeit blockieren?

Danach gurrte sich ein Tauberich heran. Schön und trotzdem nicht abgehoben. Das wundersame rein weiße Gefieder passte zu ihm. Gerne verkündete, säuselte und girrte er sinnreiche Sprüche. Nicht immer waren wir einer Meinung und meine Belange stießen auf Taubheit. Da half auch die Liebe und Verbundenheit nicht.

Dann doch lieber Meister Amsel mit seinem schwarzem Gefieder, einem braunen Blick und solidem Wesen. Und der vor mir, hatte nicht nur einen besonderen Dialekt, sondern war auch ein besonders stattliches Exemplar. Hätte ich besser hin geschaut. Ein Nichtsnutz war er, der seine Brut woanders deponierte. Zum Kuckuck!

Was war ich sauer. Aber im saurem Boden kann ich überleben oder wie jetzt, in die Jahre gekommen, in leicht kalkigem. Auch Liebes- und Wassermangel konnte ich wegstecken. Aber beschissen haben mich einige. Und ich habe geblutet. Getröstet hat mich der Uhu. Er ist heute noch mein bester Freund.

Dann kam der Elstermann. Immer wieder. Von oben, von rechts, von links. Er umwarb mich auf subtile Art. Geheimnisvoll und attraktiv beobachtete er mich, kam mir aber nie zu nahe. Das schwarze Gefieder passt zu seiner Art, weil es dunkel und dennoch schön ist. Es ist nicht so schwarz, wie die der anderen Rabenvögel. Die Federn schwarz-weiße. Auch er ist ein wenig in die Jahre gekommen.

Von Anfang an sagte er, dass er unabhängig und frei sein wolle, aber nicht in die Ferne schweifen würde, wie der Adler. Er gehöre zu den Elstern die alleine leben. Von Nestbauern hatten meine Zweige die Nase voll. So ließ ich mich drauf ein, trotz unken des Uhu, der mich wegen seiner diebischen Ader warnte.

Geistreich und gesellig ist der Elstermann und gerne sehe ich mir das Sammelsurium seiner glänzenden Gegenstände an, die er immer wieder in sein Nest schleppt. Manchmal bin ich froh, dass er sein Nest nicht bei mir hat. Es würde mich verbiegen. Und doch hätte ich ihn gerne bei mir.

Viele harte Jahreszeiten liegen nun hinter mir. Um mich herum ist es licht geworden. Die einen in meiner Nachbarschaft sind verheizt worden, andere haben sich zum Hampelmann machen lassen. Einen hat der Blitz getroffen, manche sind einfach abgestorben. Auch ich habe einige Kämpfe hinter mir. Fremdkörper und andere Parasiten haben meine Kraft geschwächt. Teile meiner Äste habe ich absterben lassen und abgeworfen, um zu überleben. Nun bin ich nicht mehr astrein, dafür ist mein Stamm um einiges breiter. Mein Anblick war einmal schöner. Aber auch das hat seine Vorteile: Ich muss nicht mehr so viel Vogelvieh abschütteln.

Der Elstermann kommt jetzt schon seit zig Baumringen nach wie vor an sammelfreien Tagen zu mir. Beschissen hat er mich noch nie. Gut arrangiert haben wir uns. Er hat seine Freiheit und ich meinen Standort.

Seit kurzem taucht der Papagei bei mir auf. Was hat diesen Paradiesvogel hierhin verschlagen? Aus einer fremden Welt kommt er und spricht in fremder Sprache. Denke ich an ihn, kommen mir Piraten in den Sinn. Wo mag er herkommen, der Exot? Amazonas, Brasilien, Rio …? Er bringt mein Harz zum Fließen bis in die tiefste Wurzelspitze. Wenn er auf mir landet, wird mir ganz anders. Mein Kieferduft betört ihn, an meinen Zapfen knabbert er. Er lockt mit der Fremde, weckt Sehnsucht in mir, lädt mich ein ihm zu folgen. Eine neue Welt entdecken? Ich blicke auf meine Wurzeln, die verlässlichen, die mich stützen und halten. Wie soll das gehen? Ich bin hier verankert. Weg von hier? Weg von meinem Leben?

Da hebt das bunte Gefieder ab. Wie ein Regenbogen umfließt er mich. Es entsteht eine Bö, ein Wind, nein ein Sturm, ein Sog. Das Erdreich gibt nach. Meine gekrümmten Wurzeln bewegen sich, lockern sich, strecken sich. Aus Lehm wird Sand. Treibsand. Er rieselt durch meine Wurzeln. Hilfe, ich verliere meinen Halt. Ich verliere den Boden unter den Füßen. Ich schlage mit meinen Ästen wie mit Flügeln, höre den Elstermann, krarrrr, krarrrr. Er umkreist mich, flattert und sagt nicht: Bleib! Der Uhu schweigt. Da hebe ich ab. Gewinne Höhe. Amazonas, Rio, Brasilien… Ich komme.

Wenn ich ein Vöglein wär‘, würde ich fliegen, fliegen, fliegen …

© Frau Gunkelberg  2013