Dienstag, 7. Februar 2017

Weniger als ein Jahr

„Möchtest du ein Lätzchen?“ fragte Hubert und starrte den Fleck auf ihrem T-shirt an. Ein kleines Stück Rührei war ihr von der Gabel gefallen; sie kratzte ein wenig daran herum und lächelte ein halbes Lächeln. Hubert trank den letzten Schluck Kaffee, warf die Zeitung auf den Tisch und stand auf. „Es wird spät heute Abend. Wir besprechen die Änderungen zum kommenden Jahr und Schultze II war noch nie pünktlich. Ich komme wohl erst morgen wieder.“ Elfi blieb sitzen und blickte ihm nach, wie er das Esszimmer verließ; immer noch groß und stattlich, aber schon etwas schwerfällig. In weniger als einem Jahr würde er zu Hause sein. Hier. Jeden Tag. Rasch schob sie den Gedanken beiseite und begann den Tisch abzuräumen, hörte die Haustüre ins Schloss fallen und wenig später den Wagen starten. Jetzt war sie allein.
Es war still im Haus, das nie das ihre geworden war; ein großer Kasten, immer ein wenig dunkel, ohne je heimelig zu sein. Die Fichten des Waldrandes nahmen viel Licht. An windigen, verregneten Tagen sahen sie aus wie Mitglieder des Ku-Klux-Klans, die in geschlossener Reihe näher rückten. Sie hatte sich oft gefürchtet. Es war immer Huberts Haus gewesen, das Haus seiner Eltern, das er unbedingt erhalten wollte und vor fünfzehn Jahren mit Hilfe eines Architekten – ein alter Freund aus Studientagen – renoviert hatte, um es mit der Familie selbst zu bewohnen. Die Kosten waren höher als kalkuliert gewesen, doch das Ergebnis wurde allseits gelobt und bewundert; die nun abgeschliffenen und versiegelten Eichenholzdielen, die restaurierten Einzelstücke des alten Mobiliars, die mit spezieller Wischtechnik marmorierten Wände. Aber immer fiel durch die hohen Fenster und die Terrassentüren der Schatten des Waldrandes und ließ Teppiche und Mobiliar eine Art dunkle Regentschaft führen. Jedenfalls empfand sie es so. Wieviel wohler hatte sie sich in der Stadtwohnung gefühlt, die hell, modern und praktisch gewesen war, am Stadtrand gelegen, mit guter Infrastruktur und bester Verkehrsanbindung zur Innenstadt. Die Nachbarn waren junge Familien. Aber mit der Zeit wurde die Wohnung zu eng, Hubert brauchte mehr Platz für sein Arbeitszimmer, oft war es ihm zu laut, wenn die Kinder lachten oder tobten. Immer öfter gab es Streit.
Ihr Blick fiel auf die kleine Fotogalerie in der Nische neben dem Kachelofen; Momentaufnahmen des Familienlebens, vergilbte Schwarzweißbilder mit starren Gesichtern, denen man die lange Belichtungszeit ansah, Kinderbilder, ihre Söhne, Bilder ihrer Großnichten. Auch ihr eigenes Hochzeitsbild war dabei, die Dokumentation ihres Glücks; sie: jung, schön, strahlend in duftigem Weiß, Perlen im locker aufgesteckten Haar, mit glücklichem Lächeln auf dem beinahe noch kindlich anmutenden Gesicht. Auch er mit einem Lächeln, deutlich älter, gereift. Hinter dem Lächeln stehen schon die Alltagspflichten. Sein Arm liegt fest um ihre Schultern – Sicherheit und Beständigkeit. Damals, als sie mit gerade einundzwanzig Jahren dem Werben des fast fünfzehn Jahre älteren Mannes nachgab, war es genau das gewesen, wonach sie sich sehnte: Sicherheit. Eine Flucht war es, aus dem ärmlichen Elternhaus, das der wortkarge, nach dem frühen Tod der Frau mit der Erziehung der gerade pubertierenden Tochter hoffnungslos überforderte Vater mühsam führte. Die älteren Brüder lebten schon ihr eigenes Leben. Orientierungslos war sie damals gewesen. Schließlich folgte sie dem Drängen des Vaters und nahm nach dem Abschluss der Handelsschule eine Stelle als Datentypistin beim Finanzamt an. Die ersten Jahre machten sogar Spaß, alles war neu, die Kollegen nett, sie verdiente eigenes Geld, aber bald langweilte sie die eintönige Tätigkeit, die Monokultur der Zahlen und Paragraphen mit ihren trockenen, langwierigen Begründungen. Es war nicht ihre Welt. Manchmal erwog sie, etwas Neues anzufangen, aber dann lernte sie Hubert kennen, der ihr die starke Schulter bot, die sie in ihrer Jugend so vermisst hatte, für ein Zuhause, für eine eigene Familie. Sie versuchte sich an die ersten unbeschwerten Ehejahre zu erinnern. Damals war es ihr leicht gefallen sich anzupassen, seine Ansprüche zu erfüllen und für ein Zuhause zu sorgen, in das sie gerne heimkehrten. Als das erste Kind kam, gab sie die Stelle beim Finanzamt auf. Wie hatten sie sich gefreut – ein Sohn, Gott sei Dank, das war ihm wichtig. Aber bald musste die Familie mehr und mehr hinter seinem Beruf zurückstehen, hinter seinen Mandanten und seinen ehrgeizigen Fortbildungen.
Kein Jahr mehr. Sie seufzte, straffte sich und trug das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr in die Küche. Ihr Mann schied als Gesellschafter der Kanzlei aus und würde einzelne Mandanten – Mandate, die er seit Jahrzehnten hielt, einige hatte er quasi geerbt – von zu Hause aus betreuen. Nun ja, Raum genug gab es hier. Der alte Kasten verfügte über ungeahnte Tiefen und das große Arbeitszimmer über einen eigenen Eingang. Als sie heirateten, arbeitete Hubert als angestellter Steuerberater in der Kanzlei. Später bot man ihm Teilhaberschaft und Leitung des Würzburger Büros an, ein ungeheurer Aufstieg und ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. Sie hatten das Haus gerade bezogen, das ziemlich abgelegen am Rande einer mittelfränkischen Marktgemeinde lag, die Fahrtzeiten waren nun beträchtlich und nicht mehr täglich zu bewältigen. Hubert nahm sich ein möbliertes Zimmer nahe der Kanzlei und übernachtete zwei- bis dreimal die Woche dort. Sie war viel allein in dem Haus mit den beiden Söhnen, damals acht und elf Jahre alt, die den Umzug als  Abenteuer betrachteten, das große, etwas geheimnisvolle Haus und die ländliche Umgebung mit kindlicher Begeisterung eroberten und rasch neue Freundschaften schlossen. Sie selbst tat sich schwerer, so offen und Menschen zugewandt sie war, aber die nächsten Nachbarn – und es waren nicht viele - hatten das Rentenalter wenn nicht schon erreicht, dann doch in unmittelbarer Aussicht. Und anfangs gab es so viel zu tun. Sie hatte – mit nur gelegentlicher Hilfe eines Gärtners, Hubert war ein sparsamer Mann – den Wildwuchs des Gartens gebändigt, ausgelichtet, geschnitten, Beete angelegt und bepflanzt; wo genügend Sonne hinkam, sogar ein wenig Gemüse gezogen und die Terrasse mit bunten Blumen und Terrakottakübeln geschmückt. Den Garten, ja den Garten hatte sie sich zu eigen gemacht und die Arbeit darin geliebt. Trotzdem hätte sie die Einsamkeit in der abgelegenen Straße, das Fehlen anderer junger Familien vielleicht nicht ausgehalten, hätte sie nicht Johanna kennengelernt.
Johanna bewohnte mit ihrem Mann ein ehemaliges Austragshäuschen – auch so ein alter Kasten, sagte sie lachend – auf der anderen Seite der Marktgemeinde, versorgte neben ihren diversen Haustieren immer irgendwelche kranken, aus dem Nest gefallenen, verstoßenen oder sonst wie dem Tod geweihten Wildtiere und verdiente sich ein Taschengeld – wie sie augenzwinkernd sagte - mit Nachhilfestunden. Sie war kinderlos, mutig und streitbar. Elfi lernte sie auf dem Feuerwehrfest kennen, für das sie beide Kuchen gebacken hatten und Johannas Kuchen war, zumindest äußerlich, ziemlich verunglückt. Elfi kaschierte geschickt, cremte und stäubte mit Erfolg. Die Kuchen wurden hoch gelobt, Johanna amüsierte sich köstlich und setzte den Preis unauffällig um fünfzig Pfennige hoch. Es wurde eine tiefe, belastbare Freundschaft.
Von Johanna hatte sie damals auch Amadeus bekommen, aber Amadeus bedeutete den größten Riss in ihrer Ehe, die schon gezeichnet war von Rissen. Die Verschiedenheit ihrer Charaktere, Huberts Pedanterie, seine ständige Abwesenheit. Sie hatten sich in einem distanzierten Nebeneinander eingerichtet und verdeckten die fehlende Gemeinsamkeit mit sachlicher Routine. Aber der große Riss, die klaffende Wunde, das war Amadeus gewesen. Elfi hatte den nicht mehr jungen, halbblinden, ängstlichen und etwas lebensuntüchtigen Kater von Johanna übernommen. Es tat ihr gut, das anhängliche, hilfsbedürftige Wesen zu versorgen, während ihre Jungs sich abzunabeln begannen und mehr und mehr eigene Wege gingen. Seinen Namen verdankte er einer gewissen Musikalität, mit der er gespielte Stücke maunzend zu begleiten pflegte. Hubert mochte ihn nicht gerne im Haus haben, aber aus unerfindlichen Gründen hegte der Kater eine große Zuneigung zu ihm und suchte – war Hubert denn einmal zu Hause – ständig dessen Nähe. Der setzte ihn mehrfach vor die Tür, aber Amadeus fürchtete die Welt draußen, mit der er noch nie zurechtgekommen war und blieb, in den höchsten Tönen sein Leid klagend, an der Haustüre sitzen, wo Elfi ihn abzuholen und unauffällig wieder ins Haus zu schmuggeln pflegte. Sie nannte ihn ihren Hausschutzgeist, wenn er wie ein kleiner Kobold auf dem Telefontischchen in der Diele saß und scheinbar alles überwachte. Arbeitete sie im Garten, lag er oft auf dem runden Mosaiktisch neben der Kletterrose, den ungewöhnlich langhaarigen Schwanz um sich drapiert wie eine Diva ihre Federboa. Er hatte panische Angst vor Gewittern und suchte dann Schutz bei Elfi. Seinen Kopf in ihrer Achselhöhle verborgen, überstanden sie gemeinsam Blitz und Donner und die Veitstänze der Fichten zusammengekuschelt auf dem Sofa, beide dankbar dafür, den anderen zu haben.
Und dann war Amadeus weg. Hubert hatte das Tier ärgerlich vor die Tür gesetzt, als Elfi eine Woche bei ihrem Vater verbrachte. Als sie zurückkam, war der Kater verschwunden. Sie fragte die Nachbarn, sie suchte und rief, aber sein hohes, jammerndes Singen war nirgends zu hören. Sie sollte ihn erst drei Wochen später finden. Abgemagert, verletzt und fiebernd entdeckte sie ihn auf einem ihrer langen Spaziergänge im Schutze einer Hecke. Es regnete. Sie konnte einen Autofahrer anhalten, der die nasse, schmutzige Frau und ihr klägliches Bündel zum Tierarzt fuhr. Es ging alles ganz schnell, leise, konzentriert; Fieber messen, Reinigung der Wunde, die Infusion. Und trotzdem: Amadeus starb noch auf dem Behandlungstisch. Später konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie aus der Praxis nach Hause gekommen war. Irgendwie hatte sie die Treppe in den ersten Stock geschafft, sich ins Schlafzimmer geschleppt und nass und verdreckt, wie sie war, aufs Bett geworfen und hatte geweint; geweint mit harten, trockenen, schmerzenden Schluchzern, die den ganzen Körper schüttelten, bis sie irgendwann eingeschlafen war. Sie fieberte drei Tage, allein in dem Haus, auch die Söhne waren nicht da. Sie verließ das Schlafzimmer kaum. Damals hatte sie gehen wollen, aber sie fühlte sich zu matt und dann kamen die Jungs von der Rucksacktour zurück, vorzeitig. Dominik hatte sich das Schlüsselbein gebrochen. Also funktionierte sie wieder.
Sie hatte angefangen, sich ein wenig wegzuträumen aus der Realität und dachte oft an den Fremden, der sie mitgenommen hatte, versuchte ihn sich vorzustellen, aber es gelang ihr nur vage. Sein Gesicht blieb ein leeres Oval in ihrer Erinnerung. Er war groß gewesen und schlank, seine Stimme ruhig und ein wenig rau und seine Hände – an die erinnerte sie sich gut. Als sie taumelte vor Erleichterung, dass er sie mitnehmen würde, hatte er sie aufgefangen und einen Moment an den Schultern gehalten, eine sachte und doch feste Berührung. Nur dieser Augenblick, nur diese beiden Hände, aber damals war ihr, als legte sich ein Mantel um sie. Manchmal, in dunklen Stunden,  träumte sie sich diese Hände herbei und fühlte ihre Wärme und die Nähe und den Schutz seines Körpers und manchmal seine Lippen auf ihren.
Als sie damals aufgewacht war aus dem erschöpften Schlaf, hatte sie seine Visitenkarte in der fest geschlossenen Hand gehalten, ohne sich erinnern zu können, dass er sie ihr gegeben hatte. Martin Gertkampp, Kaufmann, eine Adresse in Bielefeld, eine Telefonnummer. Einmal hatte sie die Nummer gewählt. Familie Gertkampp sei derzeit nicht erreichbar, man würde gerne zurückrufen. Familie … natürlich, was hatte sie denn erwartet? Mit Herzklopfen legte sie auf, ohne auf das Band zu sprechen.
Hubert hatte ihr erlaubt sich eine Katze vom Bauern zu holen – „die sind wenigstens nicht so zickig, oder nimm dir einen Hund, der folgt und du hast Bewegung“ – aber sie lehnte ab, so heftig, dass er irritiert aufsah. „Vielleicht nächstes Jahr“ sagte sie. Sie verbrachte den Winter in einer Art Kokon, den sie aus Alltagspflichten und Träumereien gesponnen hatte und der sie die Außenwelt gedämpft wie durch Milchglas erleben ließ. Manchmal fühlte sie die Blicke Dominiks, des jüngeren, sensibleren der beiden Söhne auf sich, aber er sagte nie etwas.
Johanna war es schließlich, die sie aus ihrer Lethargie riss und überredete, in der Gärtnerei im Ort auszuhelfen, die nun auch Schnittblumen anbieten wollte und deshalb für wenige Wochenstunden eine Floristin suchte. Nicht, dass sie das gelernt hatte, aber  sie war sehr geschickt in diesen Dingen und die Leute mochten sie. Die Abwechslung tat ihr gut. Sie hatte Freude am Gestalten und begann diese neu gewonnene kleine Freiheit zu genießen. Außerdem verdiente sie nun ein Taschengeld, über das sie keine Rechenschaft ablegen brauchte, das kein Posten im Haushaltsbuch war, über das Hubert mit Buchprüferaugen wachte. Später, als die Söhne das Haus verließen, arbeitete sie mehr. Es war still geworden in dem großen Haus, während sich das Leben in der Gemeinde verändert hatte. In dem Neubaugebiet im Norden wohnten junge Familien, die Kundenzahlen des Ladens stiegen und sie teilte sich die Arbeit jetzt mit einer Kollegin.
Weniger als ein Jahr…Hubert würde wohl erwarten, dass sie die Stelle aufgab und die Schreibarbeiten für seine Beratertätigkeit erledigte. Sie stellte sich vor, wie er wieder Besitz ergreifen würde von Ihrem Leben, das sie die letzten fünfzehn Jahre mehr oder weniger auf sich gestellt hatte meistern müssen, und schauderte. Eigentlich mag ich ihn nicht mehr, dachte sie. Das, was sie sich am sehnlichsten gewünscht hatte, konstatierte sie, hatte sie niemals gehabt: Geborgenheit. Als ein Wasserrohrbruch, zwei Jahre nachdem sie das Haus bezogen hatten, den Keller überschwemmte, war Hubert  in Würzburg unabkömmlich. Sie war allein, als der damals elfjährige Dominik wegen eines Hundebisses ins Krankenhaus musste.  Nie würde sie die nächtliche Fahrt bei Sturm und strömendem Regen vergessen, auf langwierigen Umwegen über kleine Nebenstraßen, weil die Landstraße durch einen umgestürzten Baum unpassierbar war. Und als Kai in der Pubertät größte Schwierigkeiten machte und einmal gar in Polizeigewahrsam kam, war sie es, die ihn abholte, fassungslos über den Schaden, den er mit seinem groben Unfug angerichtet hatte und schamrot  bei den ernsten Worten des Polizisten. Erbittert ließ sie Huberts Vorwürfe an sich abprallen. Sie hatte immer seinen Anteil an der Erziehung einfordern, mit ihm reden wollen – aber stets fehlte der rechte Augenblick. Gewiss, materielle Sicherheit bot er ihr;  auch waren sie gereist, sie hatte London, Paris, Rom, sogar New York gesehen,  aber er neigte zu Geiz und entwickelte eine Schnäppchenmentalität, die ihr zuwider war. Als mit der wachsenden Entfremdung auch sein sexuelles Interesse nach und nach erlosch, registrierte sie das nur noch mit stiller Erleichterung. Den Hauch eines fremden Geruchs, den sie manchmal, nicht oft, an ihm wahrnahm, ignorierte sie geflissentlich. Sie hatte sich eingerichtet in ihrer eigenen Welt, hatte die Kinder groß gezogen – erfolgreich groß gezogen, sagte sie sich – und all ihre Aufgaben bewältigt, so gut sie konnte. Sie hatte eine Stelle angenommen, als die Zeit es erlaubte, und sich im Laufe der Jahre ein gewisses Ansehen in der Gärtnerei erworben.
Elfi unterhielt ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Chefin, Christine Hofmann, einer tatkräftigen, geradlinigen Frau Ende fünfzig, die für jeden ein offenes Ohr hatte. Und dann gab es noch Reinhardt, der vor etwa einem Jahr  zugezogen war, in der nahen Kreisstadt wohnte  und  als Landschaftsarchitekt lose mit der Gärtnerei zusammenarbeitete. Er mochte Ende vierzig sein, auf eine beiläufige Art gutaussehend, immer gut gelaunt, aber oft ein wenig nachlässig, was er dann mit so viel entwaffnender Zerknirschung zu entschuldigen pflegte, dass ihm niemand etwas verübeln konnte. Er lebte allein, seine Frau war ihm irgendwie abhandengekommen, es gab Gerüchte, aber keine Gewissheiten und er sprach nie darüber. Hin und wieder sah sie ihn mit zwei jungen Damen – seine Töchter, wie er ihr verriet, die in Bayreuth wohnten -, Zwillinge, vielleicht Anfang zwanzig, einander so ähnlich, dass sie nicht auseinanderzuhalten waren. Ihn amüsierte das Verwirrspiel, wie er überhaupt Freude an kleinen Späßen hatte. Elfi gegenüber gab er sich besonders charmant, nannte sie manchmal „Vöglein“ in Anspielung auf ihre zierliche Gestalt und die großen, braunen Augen und flirtete ungeniert. Sie genoss diese kleinen Aufmerksamkeiten. Einmal schenkte er ihr eine gerade erblühte Rose, auf der noch der Tau stand und die er von einem Strauch der Gärtnerei geschnitten hatte – sie hatte es beobachtet – und sie lächelte noch, als sie schon nach Hause fuhr, wie sie überhaupt immer lächelte, wenn er da war. Seine Leichtigkeit trug sie und manchmal, wenn sie die Frage in seinen Augen las, wollte sie ja sagen. Einmal hätte sie es fast getan. Als er sie und ihre Kollegin nach der Weihnachtsfeier der Gärtnerei  nach Hause fuhr, sie trotz ihrer Proteste bis zur Haustür brachte – da hätte sie beinahe nachgegeben. Als sie sich wortlos kopfschüttelnd der Umarmung entzog, lächelte er nur. Ihr Verhältnis blieb ungetrübt und ohne Peinlichkeit, trotz ihrer Befangenheit bei der nächsten Begegnung, die Reinhardt gar nicht zu bemerken schien oder einfach mit dem ihm eigenen jungenhaften Charme überspielte. Er flirtete weiter ausgiebig mit ihr und manchmal auch mit anderen.
Elfi blickte auf die Terrasse, wo der Wind sein Spiel mit Blättern und kleinen Ästen trieb, die das Gewitter in der vergangenen Nacht von den Bäumen gerissen hatte. Sie würde Hubert verlassen, Hubert und diesen großen, kalten, alten Kasten. Manchmal, wenn die dunkle Regentschaft des Hauses übermächtig geworden war, hatte sie von einer eigenen kleinen, sonnigen Wohnung  geträumt. Sie würde nicht einsam sein, nie konnte sie einsamer sein als hier. Und sie wäre auch nicht gänzlich mittellos. Hubert würde Unterhalt zahlen müssen, jedenfalls eine Weile und Christine hatte ihr mehrfach angeboten, mehr zu arbeiten. Gestern hatte sie im Supermarkt den Aushang einer Zwei-Zimmer-Wohnung gelesen. Sie lag im Nachbarort, die Gemeinden waren beinahe zusammengewachsen; ein Katzensprung für sie zu ihrer Arbeitsstelle. Jetzt oder nie. Sie stellte das Tablett auf seinen Platz, schloss die Küchentür, nahm Mantel, Tasche, Autoschlüssel und ließ einen letzten Blick durch Diele und Wohnzimmer schweifen. Dann verließ sie das Haus.
Zwei Monate später zog Elfi aus. Nach einem Sturm hässlicher Szenen, bitterer Worte, Wut und Tränen war es beinahe eine Flucht mit dem Gefühl, aus einem langen, dunklen Tunnel ins Licht zu treten. Sie nahm wenig mit, richtete sich einfach und praktisch ein und teilte ihren Söhnen die neue Adresse mit. Jetzt war sie frei. Johanna und ihr Mann hatten ihr geholfen, Möbel geschleppt, geschraubt, gedübelt und geputzt und mit ihr eingeräumt. Reinhardt kam, als sie fast fertig waren, mit einem entschuldigenden Lächeln, brachte Pizza mit und Wein und erklärte die Tafel für eröffnet. Johanna, die ihn nicht mochte, verabschiedete sich bald, Karl folgte ihr und so blieben sie allein auf dem kleinen Balkon und genossen den milden Sommerabend und einander. Sie kuschelte sich an ihn, überließ sich seinen Zärtlichkeiten und schlief irgendwann ein. Als sie aufwachte, war sie mit einer Wolldecke zugedeckt und allein. Am nächsten Abend kam er wieder und diesmal liebten sie sich. Es war heiter und leicht, ihre Unsicherheit löste sich auf unter der Selbstverständlichkeit seiner Berührungen. Wie lange war es her, dass sie mit Hubert geschlafen hatte? Jahre. Sie wusste es nicht und wollte es nicht mehr wissen. Sie tauchte ein in die Lust, die seine Lippen, seine Hände, seine Haut ihr schenkten und genoss die Leidenschaft des Tastens und Erkundens als das Stillen eines tiefen Durstes. Es war ein Heimkommen.
Sie hielten ihr Verhältnis nicht wirklich geheim, waren jedoch diskret in Gegenwart anderer. Immer trafen sie sich bei ihr, er hatte ein paar Sachen dort deponiert: Zahnbürste, Rasierapparat, Bademantel, etwas Wäsche. Sie hätte gerne seine Wohnung kennengelernt, doch er wiegelte stets ab. Seine Junggesellenbude sei ihr nicht angemessen. Einmal, als sie Besorgungen in der Stadt zu erledigen hatte, wollte sie ihn mit ihrem Besuch überraschen, doch auf ihr Läuten wurde nicht geöffnet, obwohl sein Wagen vor der Tür stand. So ging sie wieder.
Sie hatte sich gewünscht, nach ein paar Monaten, dass die Beziehung enger, verbindlicher werden würde, doch Reinhardt behielt seine Wohnung als sein Terrain, das zu teilen er nicht bereit war, und kam er zu ihr, war er Besuch. Natürlich war sie auch noch nicht geschieden und so übte sie sich in Geduld, Johannas bissigen Bemerkungen zum Trotz und verzieh seine kleinen Unzuverlässigkeiten  im Privaten, wie sie es beruflich immer getan hatte. Sie genoss das, was er ihr zu geben verstand: Heiterkeit, Unbeschwertheit und das schmeichelnde Gefühl, begehrt zu werden.
Es war ein milder Vorfrühlingstag im März, als Jens Hollweg in die Gärtnerei kam. Elfi mochte den knorrigen, alten Mann, der längst seinen Ruhestand hätte genießen können, aber immer noch in der nun vom Sohn geführten Gärtnerei werkelte und fast jedes Jahr um diese Zeit drei Paletten Rosen abholte, weil, wie er sagte, keiner an die Qualität der „Hofmann-Rosen“ hinkam. An der Tür stieß er fast mit Reinhardt zusammen, der nur etwas vergessen und es eilig hatte, zur Baustelle zu kommen.
„Das war doch“, sagte Hollweg kopfschüttelnd, „Reinhardt Maas.“
„Er arbeitet lose mit der Chefin zusammen“ erwiderte Elfi freundlich. „Seit zwei Jahren etwa“.
„So klein ist die Welt.“ Hollweg lachte ein kleines Lachen. „Ich kenn‘ ihn noch aus Bayreuth. Juniorpartner im Büro Segfeldt, Brecht und Maas. Ein cleverer Bursche, hatte tolle Ideen und irgendwie immer gute Verbindungen; hat das Büro damit richtig voran gebracht – aber ständig Weibergeschichten…War vielleicht Teil des Erfolgs, hat aber jede Menger Ärger gemacht. Ein Mordsskandal, als er sich mit der Frau vom Bauamtsleiter einließ; na ja, das hätte der alte Segfeldt wohl noch hingenommen, aber als Maas dann was mit den Töchtern vom Chef anfing…bildhübsche Zwillinge, noch keine zwanzig und nicht auseinanderzuhalten -  da flog er raus. Ich glaube ja, die Mädels wollten nur ihren Spaß, aber Segfeldt…Ist Ihnen nicht gut, Frau Rossner? – Geht’s wieder?
Also, jedenfalls war das das Ende der Karriere. Na ja, vielleicht kommt er ja hier weiter…Also, die Rechnung an Peter Hollweg, wie immer.“ Er schüttelte ihr herzlich die Hand.
Elfi blieb an der Ladentheke stehen und blickte ihm nach, wie er leicht hinkend durch die Glastüre ins Freie trat, wo die Sonne mit den Schatten der kahlen Zweige spielte. Die Strauchrose am Eingang zeigte die ersten frischen Triebe und auf dem zarten Grün glitzerten Wassertropfen im Licht.


28.01.17
Sonja Meier