Montag, 27. Januar 2020

Linsen


Ich bin so frei, sagte er und setzt sich neben mich, nicht zu nah, aber doch nah genug, um in meine persönliche Distanzzone einzudringen. Ich nehme meine Kaffeetasse, trinke einen Schluck, und rücke meinen Stuhl möglichst unauffällig ein paar Millimeter von ihm weg. Tue so, als würde ich seine Anwesenheit nicht bemerken, versuche angestrengt, ihn zu ignorieren.
Aber probieren Sie das mal, einen zu ignorieren, der so frei war, sich neben Sie zu setzen, sie nun anschaut, auffordernd lächelt und fragt: „Na, wie hat Ihnen das Stück gefallen?“ Und ich? Sage: „gut!“ Das ist erstens gelogen und zweitens, blöd, weil ich wollte doch gar nicht mit diesem Typen sprechen.
Wissen Sie, ich antworte immer reflexartig, wenn man mir eine Frage stellt, alles andere ist unhöflich, ein ‚no go‘. Höflich bleiben, das habe ich gelernt, vielleicht ist Höflichkeit sogar in meinen Genen festgeschrieben – ja, doch, ich glaube, ich habe das Höflichsein von meiner Mutter geerbt. Leider nicht von meinem Vater, der hat gebrüllt, wenn ihm was nicht gepasst hat, der konnte fluchen und schimpfen, aber meine Mutter, meine Mutter blieb höflich.
Aber sie dürfen jetzt nicht denken, meine Mutter sei unterwürfig gewesen oder so. Nein, meine Mutter war eine rebellische Frau – innerlich. Sie liebte die Freiheit und verteidigte sie mit Guerillastrategien, nie offen, aber oft erfolgreich. Obwohl, ob es ein Erfolg ist, wenn der Ehemann hungrig in die nächste Kneipe geht, weil er Linsen hasst. Und ihm die Ehefrau Linsen gekocht hat, als Strafe dafür, dass er in der Kneipe war. Na ja, aber unhöflich ist das ja nicht, Linsen zu kochen, oder?
Aber egal, ich muss mir jetzt überlegen, wie ich da wieder raus komm aus der Nummer. Der Typ scheint wirklich mit mir sprechen zu wollen. Und tatsächlich, er schaut mich wieder an mit so einem ‚Du gefällst mir und ich bin doch superschlau‘-Blick und er sagt: „Ja, ich fand das Stück auch gut, vor allem, wie der Begriff der Freiheit verhandelt wurde, Freiheit, ein nicht veräußerbares Gut, ein Menschenrecht so zu sagen, ein Bürgerrecht.“
Ja, die Freiheit, denke ich mir, schaue wieder auf meine Kaffeetasse, trinke noch einen Schluck und sage: „Da haben Sie Recht, aber ich muss jetzt nach Hause, Linsen kochen“.
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Eigentlich hatte er nichts gegen Linsen, im Gegenteil, eigentlich mochte er Linsen ganz gerne. Aber seit er Luisa kannte, hatte er den Eindruck, dass Linsen der Gradmesser ihrer Laune oder vielleicht sogar ihrer Beziehung waren. Inzwischen konnte er schon am Geruch im Hausflur erkennen, ob es am Abend Sex oder Diskussionen gab. Und das hatte meistens nicht unbedingt etwas mit ihm zu tun…
So zum Beispiel am Montag, da war Luisa nach Hause gekommen, die Mundwinkel nach unten gezogen, hatte etwas von Freiheit gemurmelt, und dass Freiheit auch nicht das Maß aller Dinge sei, schließlich schränke die Freiheit eines einzelnen vielleicht die Freiheit von anderen ein. Also wenn sich einer in Freiheit eine Frechheit rausnimmt, dann könne sie auf diese Freiheit doch verzichten. Aus der Einkaufstasche sah Ernst schon die Linsen rausspitzen. Sie packte aus, schnitt die Verpackung auf und füllte Wasser in den Topf und sah ihn dann herausfordernd an. Was meinst Du denn dazu?
Ernst fiel nichts anderes ein als zu sagen: Schatz, wollen wir heute Abend nicht lieber auswärts essen gehen?

Brigitte Stenzhorn 23.01.2020

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