Ich bin so frei, sagte er und setzt sich neben mich, nicht
zu nah, aber doch nah genug, um in meine persönliche Distanzzone einzudringen.
Ich nehme meine Kaffeetasse, trinke einen Schluck, und rücke meinen Stuhl
möglichst unauffällig ein paar Millimeter von ihm weg. Tue so, als würde ich
seine Anwesenheit nicht bemerken, versuche angestrengt, ihn zu ignorieren.
Aber probieren Sie das mal, einen zu ignorieren, der so frei
war, sich neben Sie zu setzen, sie nun anschaut, auffordernd lächelt und fragt:
„Na, wie hat Ihnen das Stück gefallen?“ Und ich? Sage: „gut!“ Das ist erstens
gelogen und zweitens, blöd, weil ich wollte doch gar nicht mit diesem Typen
sprechen.
Wissen Sie, ich antworte immer reflexartig, wenn man mir
eine Frage stellt, alles andere ist unhöflich, ein ‚no go‘. Höflich bleiben,
das habe ich gelernt, vielleicht ist Höflichkeit sogar in meinen Genen
festgeschrieben – ja, doch, ich glaube, ich habe das Höflichsein von meiner
Mutter geerbt. Leider nicht von meinem Vater, der hat gebrüllt, wenn ihm was
nicht gepasst hat, der konnte fluchen und schimpfen, aber meine Mutter, meine
Mutter blieb höflich.
Aber sie dürfen jetzt nicht denken, meine Mutter sei
unterwürfig gewesen oder so. Nein, meine Mutter war eine rebellische Frau –
innerlich. Sie liebte die Freiheit und verteidigte sie mit Guerillastrategien,
nie offen, aber oft erfolgreich. Obwohl, ob es ein Erfolg ist, wenn der Ehemann
hungrig in die nächste Kneipe geht, weil er Linsen hasst. Und ihm die Ehefrau
Linsen gekocht hat, als Strafe dafür, dass er in der Kneipe war. Na ja, aber
unhöflich ist das ja nicht, Linsen zu kochen, oder?
Aber egal, ich muss mir jetzt überlegen, wie ich da wieder
raus komm aus der Nummer. Der Typ scheint wirklich mit mir sprechen zu wollen.
Und tatsächlich, er schaut mich wieder an mit so einem ‚Du gefällst mir und ich
bin doch superschlau‘-Blick und er sagt: „Ja, ich fand das Stück auch gut, vor
allem, wie der Begriff der Freiheit verhandelt wurde, Freiheit, ein nicht
veräußerbares Gut, ein Menschenrecht so zu sagen, ein Bürgerrecht.“
Ja, die Freiheit, denke ich mir, schaue wieder auf meine
Kaffeetasse, trinke noch einen Schluck und sage: „Da haben Sie Recht, aber ich
muss jetzt nach Hause, Linsen kochen“.
……………………………………………….
Eigentlich hatte er nichts gegen Linsen, im Gegenteil,
eigentlich mochte er Linsen ganz gerne. Aber seit er Luisa kannte, hatte er den
Eindruck, dass Linsen der Gradmesser ihrer Laune oder vielleicht sogar ihrer
Beziehung waren. Inzwischen konnte er schon am Geruch im Hausflur erkennen, ob
es am Abend Sex oder Diskussionen gab. Und das hatte meistens nicht unbedingt
etwas mit ihm zu tun…
So zum Beispiel am Montag, da war Luisa nach Hause gekommen,
die Mundwinkel nach unten gezogen, hatte etwas von Freiheit gemurmelt, und dass
Freiheit auch nicht das Maß aller Dinge sei, schließlich schränke die Freiheit
eines einzelnen vielleicht die Freiheit von anderen ein. Also wenn sich einer
in Freiheit eine Frechheit rausnimmt, dann könne sie auf diese Freiheit doch
verzichten. Aus der Einkaufstasche sah Ernst schon die Linsen rausspitzen. Sie
packte aus, schnitt die Verpackung auf und füllte Wasser in den Topf und sah ihn
dann herausfordernd an. Was meinst Du denn dazu?
Ernst fiel nichts anderes ein als zu sagen: Schatz, wollen
wir heute Abend nicht lieber auswärts essen gehen?
Brigitte
Stenzhorn 23.01.2020
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