Wenn ich Oma denke, denke ich sofort an ihre
Küche. Großmutters Küche war Omas Reich und mein Zuhause. Oma war der Dreh- und
Angelpunkt meiner Kindheit und die Küche war der Ort, wo Großmutter sich
meistens aufhielt, also war diese Küche
mein meistens sicherer Ort. Der Tag fing hier an und hörte hier auf. Alles
Wichtige in meiner Kindheit spielte sich hier ab. Und diese Küche hat mich nie
verlassen, Großmutter natürlich auch nicht, aber das wird dann eine andere
Geschichte. Diese Küche ist eingebrannt in meinem Gedächtnis, sie verändert
sich nie. Hier war ich umsorgt und geborgen. Die Welt war ausgesperrt. Auch wenn ich dement werde, wird sie da sein.
Der sichere Ort meiner Kindheit. Auch auf die Gefahr hin, den möglichen Leser,
die mögliche Leserin zu langweilen, werde ich diese Küche detailliert
beschreiben, die Gerüche kann ich leider nicht mitliefern.
Eine ziemlich große, weißlackierte Türe, schon
reichlich mit Gebrauchsspuren versehen – heute wäre sie schicker „shabby-style“
– öffnete sich schwergängig zu einem kleinen kompakten Raum, der von einem
rechts platzierten Tisch beherrscht wurde. Die Nischen – eine gleich neben der
Tür wurde ausgefüllt von einem ebenfalls weißlackierten Stuhl, dessen Sitz mit
einem bunten Kissen etwas bequemer gemacht wurde. Über diesem Stuhl war an der
Wand ein braunes Brett angebracht, auf dem ein schwarzes Radiogerät aus Bakelit
stand. Zwischen der Unterseite des braunen Brettes und der oberen Stuhlkante
waren an der Wand ein Herrenhuter Kalender und ein weiterer Übersichtskalender
für das ganze Jahr befestigt. Dieser Platz konnte nur von kleinen
schmalwüchsigen Personen benutzt werden, war also in der Regel Kindern
vorbehalten. Der rechteckige Tisch hatte schwere gedrechselte Beine, an der
Vorderseite eine Schublade, die alles Wichtige und Unwichtige enthielt, also
das Quittungsbuch für die Miete, der Rentenausweis, die Bibel, ein kleiner
Block, echte Bleistifte, an denen man keinesfalls lecken durfte, da man sich
sonst vergiftete (blaue Zunge, man wurde immer entdeckt), rote und grüne
Kopierstifte – ich liebte sie, weil sie Farben hatten, die sich nicht bei
normalen Buntstiften finden ließen -
Eukalyptusbonbons, Gummis, Knöpfe. Ein ganzer Kosmos war zu entdecken. Bedeckt
war dieses Monstrum mit einer Wachstuchtischdecke, ebenfalls bunt gemustert,
meistens prangten darauf irgendwelche Blumenmotive. An der Wandseite lagen
Zeitungen, der Monatsgruß, das Gesangbuch, Medikamente, aber auch ein kleiner
Korb mit Strümpfen und Unterwäsche, die gestopft werden mussten. Unter dem
Tisch befand sich eine vierbeiniger Hocker – der Platz meiner Großmutter –
dessen Sitzfläche sich aufklappen ließ und ein Waschbecken aus Emaille verbarg.
Auf der linken Seite sorgte ein
„Allesbrenner“, so genannt, weil man alles bis auf Autoreifen darin verschüren
konnte, für Wärme, Essen und saubere Wäsche, vorzugsweise Windeln. Das
ökologische Bewusstsein war noch nicht so ausgeprägt. Die Nische zwischen der
Tür und dem Ofen war angefüllt mit alten Zeitungen, Holzscheiten und –spänen, Kohlenschütte,
Schürhaken, Kohlenschaufel, Eisenheber, um die Ringe der Ofenplatte zu öffnen. Über
dem Herd war ein hölzernes Trockengestell angebracht, das zusammenschiebbar war
und dann an die Wand geklappt werden konnte, dies passierte aber nur zu hohen
Festtagen. Alles, was getrocknet werden
musste, wurde auf diesem Gestell aufgehängt. Auf dem Herd stand sommers wie
winters ein rot emaillierter Einwecktopf für die vielen Babywindeln. Neben dem
Herd befand sich ein schmales halbhohes Regal auf dem oben ein kleiner
Gaskocher mit zwei Kochstellen thronte. In dem Regal hatten Abwaschschüsseln,
Pfannen, Spülmittelpulver, Spüllappen, Putzrasch, Ata und Sil ihren Platz.
Geschlossen wurde das Regal mit einem zerfallenden Vorhang, der nicht mehr in
der Lage war, das Sammelsurium zu verdecken.
Rechts, in der anderen Nische hatte ein
ebenfalls weißlackierter Stuhl seinen Platz, genauso verschönert wie sein
Pendant auf der gegenüberliegenden Seite. Daran schloss sich ein auch
weißlackiertes Küchenbüffet an, bestehend aus einem Unterteil, bezogen mit grün
gesprenkeltem Linoleum, darauf das Oberteil, konstruiert wie ein wuchtiger
Triumphbogen, also einem offenen Fach. In den seitlichen Säulenteilen befanden
sich zwei mittelgroße Gelasse mit Türchen. Abgeschlossen wurde das Oberteil mit
einem durchgehenden Kasten, der mit drei Glastüren ausgestattet war und in dem
sich Teller, Tassen, Gläser und diverses befand. Diesen konnte ich leider nur
mit einem Stuhl erreichen, was Großmutter aber meistens zu verhindern wusste.
In den beiden Schränkchen zwischen denen der Brotkasten stand, waren Gewürze,
Brühwürfel, Zucker, Mehl, Reis, Nudeln, Graupen untergebracht. In einem dieser
Schränkchen musste irgendwann auch Sacharin aufbewahrt worden sein, denn wenn
ich meinen Finger befeuchtete und über den Boden strich und ihn dann
abschleckte, schmeckte er wunderbar süß. Wenn mich meine Großmutter dabei
erwischte, schimpfte sie erst mal heftig, denn das gehörte ebenfalls zu den
verbotenen Dingen. Allerdings machte sie die Schimpferei wieder wett, indem sie
mir dann einen Eukalyptusbonbon aus ihrer Kirchenhandtasche gab, oder falls
welche darin waren, Pfefferminzplätzchen. Das waren die kleinen weißen, die
Tabletten ähnelten. Es konnte jedoch passieren, dass sie nach einem längeren
Aufenthalt in Großmutters Tasche nach 4711 schmeckten mit einer alles
überlagernden modrigen Note.
Zwischen dem Küchenbüffet und der Rückwand der
Küche stand eine elektrische Schleuder, die sonntags immer dazu benützt wurde,
die geriebenen Kartoffeln „auszupressen“, sie tanzte dann immer herum und mein
Vater musste sie festhalten, damit sich die darunter wohnenden Nachbarn nicht
beschwerten. Doch, die Schleuder wurde auch zum Wäsche Schleudern verwendet und
einmal im Monat für den großen Waschtag musste mein Vater sie in die Waschküche
im Keller schleppen. Dort lassen konnte man sie nicht, denn andere hätte sie ja
benützen und vielleicht beschädigen können.
Gegenüber dem Küchenbüffet stand eine
wuchtige, auch wieder weißlackierte Kommode, die bei seltenen Gelegenheiten den
Einwecktopf, andere große Töpfe und sonstiges Kücheninventar beherbergte. Die
Oberseite dieser Kommode war mit einem grün-grau-weißgesprenkeltem Linoleum
bedeckt, auf der sich immer viele Sachen, die gerade nicht gebraucht wurden,
befanden. Daran schloss sich eine Waschmaschine an, deren quadratische
Säulenform sich durchaus als Vorläufer moderner Maschinen betrachten ließ.
Diese Waschmaschine, die meine Großmutter nie benützte, war dem schlechten
Gewissen meiner Mutter geschuldet, weil sie ihrer Mutter so viel zumutete. Weil
sie, die Maschine, nie benützt wurde, fungierte der Deckel als
Kosmetikschränkchen, also lagerten dort Seife, Zahnbürsten, Zahnpasta, Bürsten
und Kämme. Das war praktisch, da direkt daneben ein Ausguss war, ein innen
weißemailliertes Monstrum aus Gusseisen, außen grün-grau gestrichen, er
erinnerte in der Form an einen halbierten Kelch, dessen längere Schnittkante an
der Wand befestigt war, in der Unterseite waren kleine Löcher, durch die das
Wasser abfließen konnte, die Rückwand war leicht barockisiert und wurde oben
von einem Messingwasserhahn gekrönt, der allerdings nur kaltes Wasser spendete.
In der Mitte der Rückwand war ein Gitterrost befestigt, der auf dem Rund der
unteren Hälfte auflag, aber auch hochgeklappt werden konnte. An der Rückwand
befand sich ein kleines zweiflügeliges Kästchen an der Wand, an dessen
Unterseite eine Stange befestigt war,
über die ein besticktes Tuch drapiert war und hinter dem sich die
Handtücher und Waschlappen verbargen. Damit hatte man die Länge der Küche
durchschritten.
Und dann kam meine kleine Freiheit, hinter
einer zweiflügeligen Tür ging es hinaus
auf einen kleinen Eisenbalkon. Gerahmt wurde diese Tür durch einen etwas
fadenscheinigen, ausgewaschenen Vorhang, der eigenartigerweise nicht geblümt
war, sondern den rechtwinkelige, spitzwinkelige Dreiecke, sehr schiefe Rhomben,
die wie betrunken über den Stoff torkelten und mit in meinen Augen willkürlich
gesetzten schwarzen Linien bedruckt war, seltsam unpassend für diese Küche
waren.
Oma ging immer sehr sparsam um mit allem, was noch irgendwie verwertbar war.
Oft genug hasste ich sie dafür, weil ich gestopfte, durch häufiges Waschen
kratzig gewordene Strümpfe angezogen bekam. Diese verfluchten Strümpfe wurden
mit Strapsen befestigt, die sich an einem Leibchen befanden, das wie ein
dickeres Unterhemd aussah. Die Strapse rissen immer wieder ab oder ich verlor
die Knöpfe, mit denen die Strümpfe festgezurrt wurden, so dass natürlich auch
die blöden hässlichen verhassten Teile rutschten und noch störendere
Falten warfen. Ich kam mir dann wie ein
Bettelkind, zumindest aber verwahrlost vor. Dabei brachte mir meine Mutter ab
und zu recht hübsche Anziehsachen vom Kaufhof mit – sie arbeitete dort. Vor
Omas Augen fanden diese Sachen keine Gnade, sie verbannte sie in die untere
Schublade ihres Kleiderschrankes, die ich nicht aufziehen konnte.
Wenn meine Mutter arbeitete und sie arbeitete
meistens sechs Tage in der Woche - sie ging morgens um halb acht aus dem Haus
und kam abends erst gegen halb acht und acht nach Hause – war ich bei Oma. Oma
war die oberste Instanz, wenn es um die Kinder ging, (zu der Zeit waren wir nur
zwei, es sollten aber im Lauf der Jahre noch vier dazu kommen). Sie wusste
genau, was diese brauchten, egal ob es um Essen, Kleidung, Schlafen oder
Gesundheit ging. Oma wusste alles, sie wusste alles besser und leider hatte sie
meistens Recht, was das Leben für uns Kinder nicht leicht machte. Irgendwann
bekam auch ich mit, dass sich Oma und meine Mutter in einem ständigen Krieg befanden
und der wurde nur manchmal laut ausgetragen. Die Kleider für meinen Bruder und
mich waren ein Beispiel dafür. Wenn Mutter neue Anziehsachen für uns kaufte,
blaffte Oma sie an: „Das Zeug kannst Du gleich wieder zurückbringen, das zieh
ich den Zweien nie an. So viel Geld für so einen Dreck auszugeben, als wenn Du
es so dicke hättest.“ Mutter pflegte sich dadurch zu revanchieren, in der
kleinen Küche eine Zigarette nach der anderen zu rauchen, was bei meiner
Großmutter zu lautstarken Schimpftiraden führte. Während dieser Gefechte machte
ich mich auf meinem Platz ganz klein – in der Nische zwischen Küchenbüffet und
Tisch – wenn ich es nicht schaffte rechtzeitig aus der Küche hinauszukommen.
Aber so schlimm die Auseinandersetzungen auch waren, so war ich doch auch neugierig genug, was die Beiden sich wieder an den Kopf
werfen würden.
Oma fuhr sie an: „So einen guten Mann hast du
ja gar nicht verdient, der von früh bis spät schafft und du läufst aufgetakelt,
wie eine von den Hochwohlgeborenen rum. Und um deine Kinder kann sich Deine
Mutter kümmern, die kaum einen guten Tag im Leben gehabt hat. Jeden Tag muss
Madame zum Friseur. Schuhe, Handschuhe, Handtasche und Hut, alles muss zusammen
passen. Was das alles bloß kostet!“
Mutter blieb ihr nichts schuldig und fauchte: „In
meinem Beruf muss ich einfach modisch gekleidet sein. Davon verstehst du nichts.
Bloß weil du immer rumläufst wie eine Vogelscheuche, muss ich nicht auch so rumrennen.
Ich bin keine von deinen Betschwestern. Geh halt zu denen!“
„Und
wer kümmert sich um deine Kinder und kocht für deinen fleißigen Mann? Du ganz
bestimmt nicht, du elendiges Frauenzimmer. Schau, dass du in Deine Wohnung
kommst und verqualm mir nicht alles. Deinen Satansbraten nimmst gleich mit, die
Kleine bleibt aber bei mir.“
Wutschnaubend
verließ meine Mutter die Küche, meinen Bruder am Arm hinterherziehend,
und ich war froh, dass für heute der anstrengende Teil des Tages vorbei war.
Ich war neidisch auf meinen großen Bruder, weil er mit hinauf durfte, weil er
mit Papa spielen konnte, aber gleichzeitig froh, nicht oben zu sein, denn meine
Mutter hätte all ihren Unmut an mir ausgelassen. Papa und Bernd wurden meistens
verschont.
Oma bereitete ein kleines Abendessen,
Knäckebrot mit Gelbwurst für sie, für mich gab es Graubrot mit Gelbwurst, das
in kleine Stückchen geschnitten wurde, danach für jeden einen Apfel. Omas Apfel
musste geschält werden, da sie nicht
mehr so gut kauen konnte. Abgeschlossen wurde das Abendessen damit, dass Oma
zwei gehäufte Esslöffel geschroteten Leinsamens in einer Tasse mit warmen
Wasser einweichte und für den nächsten Morgen beiseite stellte.
Ich freute mich auf den Abend mit Oma. Dann
wurde es ruhig. Die Hektik des Tages, das fortwährende Sorgen und Arbeiten für
die Familie wurden beendet und Oma riss vom Herrenhuter Kalender das
Kalenderblatt ab, las laut die Tageslosung und schlug in der Bibel die dafür
vorgesehene Stelle auf. Auch diese wurde laut vorgelesen. Dann folgte das
Gesangbuch und es wurden die Lieder gesungen, die für den folgenden Sonntag
vorgesehen waren. Ich musste immer die erste Stimme singen, Oma sang mit
dröhnendem Alt irgendeine zweite Stimme dazu. Da sie mich grundsätzlich
übertönte, war es egal, ob ich richtig oder falsch sang. Es störte mich auch
nicht weiter.
Trotz der etwas eigenwilligen Abendgestaltung
für ein dreijähriges Kind oder vielleicht auch gerade deswegen, empfand ich
dieses Abendritual als sehr beruhigend und es entwickelte sich eine tiefe
Innigkeit zwischen Oma und mir, die im Alltag sonst nicht möglich war. Oma saß auf
ihrem Hocker, ich auf meinem kleinen Schemel – eigentlich ein Fußschemel –
lehnte mich an ihre Knie und konnte die kleinen und großen Blessuren und Plagen
des Alltags hinter mir lassen. Da passierten die Momente, wo Jesus auftauchte,
strahlend beleuchtet von einer unsichtbaren Lichtquelle, die rechte Hand
segnend erhoben. Er sah mich liebevoll an und in diesem Moment war alles gut.
Als ich Oma verzückt mitteilte: „Oma, Oma, da ist der Jesus!“ war er schon
wieder verschwunden und Oma schalt mich der Ketzerei. Aber ich hatte Jesus
wirklich gesehen. Richtig und leibhaftig. Aus. Basta.
Anschließend zog Oma mich aus, wusch mich
gründlich, der Schlafanzug wurde angezogen und nach dem Zähneputzen tapste ich,
von Oma begleitet, ins Schlafzimmer. Ich schlief meistens bei Oma, bei den
Eltern war es zu unruhig, außerdem fand mein großer Bruder fast immer einen
Grund mich zu verhauen. Meine Mutter griff nie ein, sie sagte nur lapidar: „Du
wirst es schon verdient haben!“ Papa verbot es Bernd sehr streng mich noch einmal
anzufassen, das wirkte insoweit als er mich nicht mehr schlug oder an den
Haaren riss, aber er hörte nicht auf mich zu trietzen. Unruhige Nächte waren
vorprogrammiert. Bei Oma schlief ich in Opas Bett; Opa, der schon über zwanzig
Jahre tot war, bevor ich auf die Welt kam. Oma wärmte das Bett mit einer
Kupferwärmpfanne vor, so dass ich mich unter einem dicken warmen Federbett
einmummeln konnte. Dann musste ich noch das letzte Gebet des Tages aufsagen:
„Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein.“ Manchmal tauchte auch noch Jesus auf und da
konnte ich ruhig und friedlich einschlafen.
Elisabeth Vogel