Mittwoch, 18. April 2018

ÜBERQUERUNG DES CHECKPOINTS VON BETHLEHEM NACH JERUSALEM


Um halb fünf Uhr am Morgen – dunkle Dämmerung liegt noch in den Straßen  - erreichen wir den Checkpoint an der zehn Meter hohen Betonmauer, die Bethlehem von Jerusalem, Palästina von Israel trennt. Gleich einem Raubtier-käfig, der oben und unten, rechts und links mit Gittern versehen ist, führt eine Rampe hinauf zum Übergang:  Palästinenser kommen zu Fuß, steigen aus Taxis oder Bussen und gehen durch die Gitter-Rampe nach oben.
Wir folgen ihnen und reihen uns – noch orientierungslos - hinter ihnen ein. Vor uns wartet schon ein Pulk von zwanzig Männern mittleren Alters, die Gesichter unbewegt, vielleicht weil sie vom frühen Aufstehen noch müde sind, vielleicht weil sie sich an das, was sie hier täglich erleben, gewöhnt haben, vielleicht weil Ungeduld und Rebellion nicht lohnen. Wir warten mit ihnen. 
Ich hatte schon zuvor von diesen Checkpoints gehört. Aber jetzt, da ich mich hier ins Geschehen eingelassen habe, kommt mir alles unwirklich vor. Ich bin innerlich wie gelähmt und frage mich, ob es uns zusteht, das Leid anderer Leute zu beobachten oder mit unserem Hiersein die Männer nur unnötig aufzuhalten?
Dann kommen kurz hintereinander zwei Busse an. Arbeiter aus Stadtteilen von Bethlehem und umliegenden Dörfern steigen eilig aus. Ihre Tritte erzeugen scharrende Geräusche und bringen die Rampe leicht ins Schwingen. Sie drängeln von hinten. Einige kaufen Arabic coffee, der ihnen von Händlern durch das Gitter gereicht wird. Wir stehen und stehen. Allmählich kehrt wieder Ruhe auf der Rampe ein und wir lassen die Szenerie und das vielstimmige Debattieren der Männer, deren Sprache wir nicht verstehen, auf uns wirken. 
Ich möchte viel mitkriegen, was ich nachher aufschreiben kann:
Ich bin jedoch damit beschäftigt, ob ich alles richtig mache. Auch die Männer haben sich auf das, was gerade geschieht, konzentriert. Sie regen sich nicht (mehr) über die Schikane und Ungerechtigkeit des Mauerbaus, der Checkpoints, die Willkür der israelischen Soldaten auf, die hier das Sagen haben und denen sie sich bei Strafe unterordnen müssen. Sie regen sich auf, wenn Mogler, die sich über das Gitter oben oder seitlich einen Platz weiter vorne in der Reihe, ergattern wollen.
Die Schlange vor uns wird nur langsam kürzer. Es dauert mehr als eine Stunde, bis wir das obere Ende der Rampe erreicht haben. 
Schnell muss es jetzt gehen, denn schnell dreht sich ein schmales drei Meter hohes Drehkreuz in einem sehr engen Gitterrund. Als sich ein Spalt auftut, springe ich hinein, mache ein paar Trippelschritte, und entkomme durch einen schnellen Schritt nach außen, ehe mir das Drehkreuz einen Schubs von hinten gibt. Können das alte und gebrechliche Leute überhaupt schaffen? Und wie bekommt man einen Koffer durch ein solch enges Drehkreuz?

Ich werde mit den anderen in eine dunkle nur sparsam mit Neonlicht erleuchtete Halle gespült. Viele jugendliche Soldatinnen und Soldaten mit ihren modern gestylten Frisuren stehen hier herum, mit ihren gelbgrünen Uniformern und hohen schwarzen Schnürstiefeln, einem Maschinengewehr, das lässig auf ihrem Rücken baumelt. Wir werden in den linken Gang gewiesen, müssen ein weiteres Drehkreuz passieren, müssen unsere Pässe herausholen, vorzeigen und sie wieder in unseren Taschen verstauen, müssen Metallteile ablegen, durch einen Köperscanner gehen und die abgelegten Teile wieder zu uns nehmen.
Einer von uns zeigt mit seinem Arm nach oben; und da steht in der Dunkelheit eine dunkle Gestalt, ihren großen Fotoapparat auf mich gerichtet.
Unbeeindruckt von unserem Hinaufsehen und Hinaufdeuten starrt das Auge des Objektivs weiterhin auf mich herab. 
Was machen die mit den Fotos? Wird es Schwierigkeiten bei der Ausreise aus Israel geben - mit Kofferkontrolle, langwierigen Befragungen, Beschlagnahmung oder gar Leibesvisitation, wie es die Palästinenser erleben, vorausgesetzt sie dürfen überhaupt ausreisen? Werde ich zu einem späteren Zeitpunkt wieder in dieses Land einreisen dürfen?
Ich eile weiter, um dem „Big Brother“ zu entkommen.
Wir durchqueren das letzte Drehkreuz und verlassen die Halle.
Jetzt sind wir sind frei! Ich merke, wie die Anspannung von mir abfällt.
Die Palästinenser rennen jetzt zu den wartenden Bussen. Manche stehen und rauchen schnell noch eine Zigarette, andere ziehen ihre Gürtel, die sie vorhin beim Körperscanner ausgezogen hatten, wieder in den Hosenbund. Jeden Tag das gleiche, über Wochen, Monate, Jahre.
Zwei junge Frauen – eine Engländerin und eine Finnin - die an den Wochentagen die Männer durch den Checkpoint begleiten, um etwaige Schikanen bei Menschenrechtsorganisationen anzuzeigen, können uns den Grund für das lange Warten erklären: Die israelischen Militärs hätten heute nur drei der zwölf vorhandenen Körperscanner geöffnet. Gefragt nach dem Warum, zucken die beiden Beobachterinnen die Schultern: Das machen die hier so nach Lust und Laune. Jeden Tag denken sie sich was anderes aus. So bleibt ihr Handeln unberechenbar.
Die Erlebnisse machen mich sprachlos – wie ich hier seit einigen Tagen sprachlos geworden bin in dem von Israel besetzten Palästina. Was ist es, was mich hier sprachlos macht?
In den ersten Tagen, als wir die alltäglichen abstrusen Dinge, deren Sinn wir nicht – noch nicht - verstehen konnten, fand ich immer neue Wörter, um meine Empörung zum Ausdruck zu bringen, wie „Das ist ja schrecklich, wie ungerecht, furchtbar“ oder „Das ist Schikane, Willkür, Machtmissbrauch“.
Doch diese Wörter nützten sich schnell ab, denn der ganze Alltag der Palästinenser ist durchdrungen von solch demütigenden Erfahrungen. Und so gab es keinen Sinn mehr, sie endlos zu wiederholen. Sie waren nutzlos, ausgelaugt, ausgekaut. Was zurückblieb, war eine gedemütigte, ohnmächtige Sprachlosigkeit.

Der Rückweg durch den Checkpoint dauert nicht länger als zwei Minuten.
Einen Augenblick bleiben wir bei einer Gruppe ganz alter Moslems, deren Haare von einem gehäkelten Käppchen bedeckt sind, stehen. Sie verharren teils stehend, teils knieend mit dem Kopf zum Boden gebeugt, auf der Rampe in ihr Gebet vertieft – im Augenblick unbeeindruckbar von dem, was um sie geschieht, von dem, was an weiteren Einschränkungen auf sie wartet.
Klein und schmächtig sind sie, gezeichnet vom Leben in diesem Land.

Unten auf dem Platz haben verschiedene Händler Verkaufstische mit Obst und Gemüse aufgebaut. Frauen aus meiner Gruppe warten vor dem Getränkestand. Ich giere nach einem kleinen arabischen Kaffee und erquicke mich Schluck für Schluck daran. Der Verkäufer tritt – nachdem er alle mit Kaffee versorgt hat - hinter seinem Tisch hervor, ein stattlicher Mann mittleren Alters mit wachen Augen und einem schön geschnittenen Gesicht, der uns erstaunlich selbstbewusst darum bittet, uns seine Geschichte erzählen zu dürfen.
Er arbeitete damals als 18jähriger Abiturient oft mit seinem Vater im Olivenhain der Familie. Eines Tages erschienen israelische Soldaten mit Maschinengewehren, Militärhelmen, schusssicheren Westen.
Sie erklärten den gesamten Hain für enteignet aus militärischen Gründen, befahlen ihn sofort zu verlassen. Sie drängten den protestierenden Vater mit ihren quergehaltenen Gewehren vom Feld. Ohnmächtig vor Wut hob er, der jugendliche Palästinenser, einen Stein von der Erde auf und warf ihn in Richtung der Soldaten. Sofort wurde er festgenommen, gefesselt und auf den Rücksitz eines Militärjeeps geschubst. Der brauste davon, den verzweifelten Vater zurücklassend.
Die nächsten acht Wochen verbrachte er – an Hände und Füße gefesselt - in einem Verlies unter der Erde. Luft und ein kleiner Lichtschein fielen durch eine schmale Öffnung oben unter der Decke ein. 
Weder wusste er, wie seine Eltern weiterleben konnten ohne ihn, ohne ihre Äcker, noch bekamen die Eltern Bescheid, wo sich ihr Sohn aufhielt und wie es ihm ging. 
Danach wurde er in ein „besseres“ Gefängnis verlegt. Nach 18 Monaten kam er frei. Ihm, der das Abitur gemacht hatte und Jura studieren wollte, (um Palästinenser vor Gericht vertreten zu können,) wurde – weil er inhaftiert war - jegliches Studium verweigert. Die Eltern, die durch die Enteignung ihren großen Olivenhain verloren hatten und dafür keinen Ausgleich bekamen, waren nach diesen Vorfällen gezeichnet. Er musste sie, seine Geschwister mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten.
Jetzt verkauft er täglich am Checkpoint und im Basar in Bethlehem Getränke, um sich, seine Frau und die vier Kinder ernähren zu können.
Die Augen des Mannes hatten sich während des Erzählens mit Tränen gefüllt. Einige von uns kehrten sich ab und weinten mit ihm.

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