Mittwoch, 18. April 2018

Stufen des Abschieds

Frühling 
Das einzige Geräusch, das die Stille bricht, ist der regelmäßig puffende Ton des Sauerstoffapparats in der Ecke. Der alte Mann stützt sich mit seinen Handflächen auf das Sofa und versucht sich hochzurappeln. Immer wieder sackt er zurück. Dann greift er zu seinem Stock, umfasst mit beiden Händen den Knauf und zieht sich langsam daran  hoch. Mühsam schlurft er bis zum Fußende des Krankenbettes, dreht sich mit kleinen Trippelschritten um und blickt auf seine Frau, sieht das durchsichtige Röhrchen, das zur Nase führt, mit dem sie beatmet wird.
Sie hat die Augen geschlossen. Lang steht er da und es fällt ihm nichts anderes ein, als immer wieder „ach ja“, „ja, ja“ zu sagen. Nach einer Weile öffnet sie ihre Augen. Mann und Frau blicken sich an.
„Ich kann dir nicht mehr helfen“, sagt sie und später.
„Geh weg! - Sonst kann ich nicht sterben.“
Ich führe den Mann zurück zu seinem Platz auf dem Sofa. Sein Kopf sinkt auf seine Brust. Er wartet ergeben.                                                                                        
Eine Woche später stirbt die Frau mit einem Seufzer der Erleichterung. Er schaut zu, wie der Sarg hereingetragen, die Frau hineingelegt, der Deckel wieder geschlossen wird. Als sie den Sarg hinaustragen, wird er von einem erbärmlichen Schluchzen heimgesucht. 

Sommer
In seinem grau-gestreiften Schlafanzug sitzt der alte Mann auf der Eckbank am Küchentisch. Genüsslich beißt er in einen mit Butter und Honig bestrichenen Toast. Als er fertig ist, schaut er erst mich, dann die polnische Pflegerin Anna an und meint: „Ich hab so einen Schmarrn geträumt – ihr seid alle gestorben“ und halb empört, halb entschuldigend fügt er hinzu: „Das ist so ein unverschämter Schmarrn. So was kann man doch nicht träumen!“ Dabei blickt er zu mir herüber und ich fühle mich aufgefordert etwas zu sagen. Ich spinne seinen Gedanken weiter: „Manchmal kann man das, was man träumt, einfach nicht verstehen. Das ist bei mir auch so.“
Belustigt stellt er fest: „Du wirst mir den Schmarrn untergeschoben haben.“
Ich staune über seinen pfiffigen Versuch, Logik in die Sache zu bringen. Und wir lachen zu dritt. Nach einer Pause fällt ihm noch etwas ein: „Wenn ich wieder so was träume, stehe ich gleich auf, dass der Traum aufhört.“
Herbst 
Der alte Mann lebt jetzt im Altersheim. Ich besuche ihn zweimal in der Woche.
Hin und wieder beschwert er sich: „Meine Frau hat mich wieder nicht besucht!“  Und ich erkläre ihm: „Deine Frau kann Dich nicht besuchen. Sie ist doch gestorben.“ Er schaut mich stirnrunzelnd an, versteht nicht, was ich sage.
Als er einige Tage später wieder die fehlenden Besuche seiner Frau beklagt, verspreche ich:
„Wenn ich sie sehe, dann sag ich ihr, dass Du schon auf sie wartest. Sie soll dich ganz schnell besuchen kommen.“  Er lächelt. Aus seinen Augen blitzt Freude.

Winter
Eine kleine, zierliche Seniorin, die oft mit dem Rollstuhl unterwegs ist, tätschelt zärtlich die Backe des alten Mannes. Der Alte zeigt keine Regung. Da er aber ruhig bleibt und die Backe nicht entzieht, nehme ich an, es gefällt ihm. Zum Abschied wirft  ihm die Frau noch einen schmachtenden Blick zu. Mir erklärt sie: „Ich mag ihn doch so gern!“ - und saust sie mit ihrem Rollstuhl davon.

Mit seinem Rollstuhl dreht der Alte Runde um Runde im Karree eines Innenhofes. Eine stumm gewordene, gut gekleidete Seniorin mit rotumränderten Augen, den Oberkörper stark nach von geneigt, lenkt ihren Rollstuhl hinter den des Alten, umgreift mit ihren Händen  die Oberkante der Rückenlehne und er  zieht sie dann im Schlepptau hinter sich her. Manchmal lässt sie versehentlich los und bleibt zurück. Der Alte wartet dann, bis sie aufgeholt und sich erneut an seinen Rollstuhl angeschlossen hat.

Frühling 
Als die Sonne zum ersten Mal wieder die Welt wärmt, fahre ich den alten Mann im Park spazieren. Danach setze ich mich neben seinem Rollstuhl auf die Bank. Sein Gesicht ist an diesem Tag kummervoll und zerfurcht.  Die Arme springen ohne seinen Willen herum. So lege ich meine Hände auf seine Unterarme, bis sie sich beruhigt haben und still wie auf seinen Knien liegen bleiben.
Zu meinem Erstaunen fängt er an zu reden: „Das ist doch kein Leben, wenn man nichts mehr tun kann“ und nach kurzer Pause, “ich möchte sterben.“
Mit einem „Das kann ich verstehen“ pflichte ich ihm bei. Er fragt: „Und wie?“
Ich erzähle ihm ausführlich vom Sterben seiner Frau, egal, was er davon verstehen wird und was nicht. Die Beschreibung beende ich mit einem: „Du wirst die Art, wie du sterben kannst, finden. Da bin ich ganz sicher.“
Jetzt sitzt der Alte da, hält sein entspanntes Gesicht der Sonne entgegen und stellt fest: „Die Sonne ist ganz warm.“ Und nach einer Pause: „Wir zwei alten Rentner sitzen in der Sonne.“
Dann versinkt er wieder in sein endloses Schweigen.

Sommer

Wenn ich komme und den Alten begrüße, mit ihm rede, bewegt  er mit angestrengter Miene die Lippen - tonlos. Die Worte scheinen nicht mehr auffindbar und der eben ersonnene Gedankengang hat sich – kaum gedacht - schon wieder verabschiedet. Er schaut mich dann mit gerunzelter Stirn an.
Um ihn nicht zum Reden zu ermutigen, werde auch ich schweigsam. 
Ich hole dann seine Windjacke auf dem Schrank und fädle seine alterssteifen Arme in die Ärmel. Seinen Hut lege ich auf die Knie, rolle ihn in den Fahrstuhl, direkt vor einen großen Spiegel. Während uns der Fahrstuhl nach unten bringt, betrachtet er sich und mich im Spiegel, interessiert oder fragend. Dann nimmt er seinen Hut, drückt ihn auf seinen Kopf, schiebt und dreht ihn sie so lange, bis er mit seinem Bild im Spiegel zufrieden ist.


Herbst
Der Alte wird immer schwächer. Ab Mittag bleibt er im Bett.
Er spricht nicht mehr, sondern schaut mir in die Augen, bis er müde wird und einschläft. Dann nehme ich mein Buch aus der Tasche und beginne zu lesen. Wenn er die Augen öffnet, lege ich meine Hand auf seine Hand, bis ihm die Augen wieder zufallen.
Es sind friedliche Begegnungen ohne Anstrengung für ihn und für mich.

Winter
Eines Nachmittags - ich habe gerade mein Buch aufgeschlagen, um zu lesen –
fängt der Alte zu sprechen an. Ich verstehe nur bruchstückhaft, was er sagt:
… ich weiß nicht, was die machen bei dem Denkmal…
… ich hab das in die Wege geleitet … ich habe den Pflug angeschoben …
… wir haben schon genug getan … wie ein Kamel
… die kümmern sich wenig … die sollen sich jetzt drum kümmern ….
… es muss doch ein oder zwei geben, die sich darum kümmern
… so viel ist das auch nicht

… vor einer halben Stunde war er hier - die haben schon drauf gewartet 
… ich kenne hier keinen - ich bleib nicht hier
Ich wundere mich über seine Beredtheit an diesem Tag.

HEILIGER ABEND
Früh um 8.30 Uhr klingelt das Telefon:
Soeben sei der Alte - während er versorgt wurde – gestorben.
Als wir das Zimmer betreten, liegt er da, ganz spitz und blass sein Gesicht, friedlich,  seine dünnen Arme über seinem Körper verschränkt.
Während die Pflegerin die Kerze am Nachttisch entzündet, entschuldigt sie sich für ihre Tränen.

Elisabeth Gollwitzer                                                                                   Januar 2015

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