Mittwoch, 12. Juni 2013

Wondraschs Schmerz

Wondrasch hüpft mit gestreckten Beinen die Treppe hinunter, als wolle er für eine Nummer als Stelzenmann trainieren. Freunden aber erzählt er bereitwillig, dass er so die Schmerzen beim Biegen des Kniegelenks verhindere; an eine Operation denke er noch nicht, schließlich sei er erst 70. Ruhephasen gönnt er sich wenig, höchstens für kurze Massagen schmerzender Stellen. Man dürfe, so Wondrasch, wenn sich der Schmerz melde - und sei er noch so stechend und alarmierend  - , ihm nur wenig bis keine Aufmerksamkeit schenken, sonst blase er sich nur zu einer Schimäre auf, zu einem Ungeist, den man aus der Flasche gelassen habe. Er, Wondrasch, halte immer gleich dagegen, in kleinen Dosierungen belaste er die in Frage kommende Körperstelle, dann steigere er deren Einsatz systematisch, peinigende Körpersignale ignorierend.
Kein Doktor?
Aber woher denn, kein Doktor!
Kein Googeln nach Krankheiten?
Oh nein, doch kein Googeln.
Schmerzen, so Wondrasch weiter, seien ungebetene Gäste, die es mit scharfem Blick zu verwarnen gelte.
Husch husch, euch will hier keiner.
Wondrasch also der alte Indianer, dessen Kiefermuskeln signalisieren, dass er keinen Schmerz kennt?
Aber so starr wirkt er nicht. Er spielt gerne, lacht und schäkert, hat kein aufgeblasenes autoritäres Gehabe, wie es die Stammeshäuptlinge der Indianer schon allein ihrer Würde wegen besitzen müssen. So wächst die Neugierde nach der Frage, wo Wondrasch diese sehr eigene Schmerztherapie denn herhat.
„Das ist so gewachsen“, sagt er zögerlich und sucht Worte, um mehr Zeit für eine Erklärung herauszuholen.  „Ich spielte als Junge allein und in der Bande fast nur draußen. Die gefährlichen Stellen waren die reizvollsten:  Bäche mit Steilufern, hohe Bäume, Steinbrüche als Wildwestlandschaft, Hohlwege mit Geröll und Schotter. Da war bei Verletzungen keine Zeit für’s  Jammern. Das Blut rasch mit Spucke wegwischen, ein wie magisches Wegstreichen des Schmerzes von geschundenen Knochen und Muskeln. Das Gesicht durfte man schon ein wenig verzerren, ein bisschen Humpeln oder Beinnachziehen waren auch erlaubt – aber nur im ersten spontanen Reflex! Stöhnte man öfter, so hieß es ‚Mach bloß kein Markus!‘ . Zuhause übte ich mich erst recht in entspannten, normalen Bewegungen. So gab es keine blöden Fragen. Abends im Bett hob ich neugierig mit dem Fingernagel den Grind an, der auf der Wunde juckte. Dann blitzte die zartrosa Haut der Heilung auf. Ohne Verband, ohne Jodtinktur und anderes Tamtam war sie einfach eingetreten. Ich ahnte es, das funktionierte nur, weil ich sie nicht erfleht, ihr nicht nachgewimmert hatte. Vielleicht war es so“, gickerte Wondrasch und seine Augen blitzten vor Lachen.

Warum soll ich es leugnen, dass ich Wondrasch beneide, dass ich mich auch etwas schäme, wenn ich beim nächsten Herzstechen den Infarkttod vor Augen sehe, während Wondrasch Angst und Schmerz schon mit seinem Blick vertreiben kann. Ich traue mich nicht zu fragen, was er mit dem Schmerz tat, als seine Frau plötzlich starb.

Aber ich stelle mir vor, wie er an ihrem Totenbett saß und lange in das Loch starrte, das sich als schwarzer Abgrund vor ihm auftat.

Und jetzt sehe ich es genau: Er starrte so lange und intensiv in die Kluft, bis sie sich mit kühlem, dunklen Wasser gefüllt hatte.


Dann stieg Wondrasch in dieses tiefe stille Wasser  und schwamm ,  und  schwamm……

von Wilfried Christel

Foto Copyright @ Fürtherin

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