Kein Doktor?
Aber woher denn, kein Doktor!
Kein Googeln nach Krankheiten?
Oh nein, doch kein Googeln.
Schmerzen, so Wondrasch weiter,
seien ungebetene Gäste, die es mit scharfem Blick zu verwarnen gelte.
Husch husch, euch will hier
keiner.
Wondrasch also der alte Indianer,
dessen Kiefermuskeln signalisieren, dass er keinen Schmerz kennt?
Aber so starr wirkt er nicht. Er
spielt gerne, lacht und schäkert, hat kein aufgeblasenes autoritäres Gehabe,
wie es die Stammeshäuptlinge der Indianer schon allein ihrer Würde wegen
besitzen müssen. So wächst die Neugierde nach der Frage, wo Wondrasch diese
sehr eigene Schmerztherapie denn herhat.
„Das ist so gewachsen“, sagt er
zögerlich und sucht Worte, um mehr Zeit für eine Erklärung herauszuholen. „Ich spielte als Junge allein und in der
Bande fast nur draußen. Die gefährlichen Stellen waren die reizvollsten: Bäche mit Steilufern, hohe Bäume, Steinbrüche
als Wildwestlandschaft, Hohlwege mit Geröll und Schotter. Da war bei Verletzungen
keine Zeit für’s Jammern. Das Blut rasch
mit Spucke wegwischen, ein wie magisches Wegstreichen des Schmerzes von
geschundenen Knochen und Muskeln. Das Gesicht durfte man schon ein wenig
verzerren, ein bisschen Humpeln oder Beinnachziehen waren auch erlaubt – aber
nur im ersten spontanen Reflex! Stöhnte man öfter, so hieß es ‚Mach bloß kein
Markus!‘ . Zuhause übte ich mich erst recht in entspannten, normalen
Bewegungen. So gab es keine blöden Fragen. Abends im Bett hob ich neugierig mit
dem Fingernagel den Grind an, der auf der Wunde juckte. Dann blitzte die
zartrosa Haut der Heilung auf. Ohne Verband, ohne Jodtinktur und anderes Tamtam
war sie einfach eingetreten. Ich ahnte es, das funktionierte nur, weil ich sie
nicht erfleht, ihr nicht nachgewimmert hatte. Vielleicht war es so“, gickerte
Wondrasch und seine Augen blitzten vor Lachen.
Warum soll ich es leugnen, dass
ich Wondrasch beneide, dass ich mich auch etwas schäme, wenn ich beim nächsten
Herzstechen den Infarkttod vor Augen sehe, während Wondrasch Angst und Schmerz
schon mit seinem Blick vertreiben kann. Ich traue mich nicht zu fragen, was er
mit dem Schmerz tat, als seine Frau plötzlich starb.
Aber ich stelle mir vor, wie er
an ihrem Totenbett saß und lange in das Loch starrte, das sich als schwarzer
Abgrund vor ihm auftat.
Und jetzt sehe ich es genau: Er
starrte so lange und intensiv in die Kluft, bis sie sich mit kühlem, dunklen
Wasser gefüllt hatte.
Dann stieg Wondrasch in dieses
tiefe stille Wasser und schwamm , und
schwamm……
von Wilfried Christel
Foto Copyright @ Fürtherin
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