Freitag, 1. Mai 2015

Am Anfang vom Ende war das Wort

Wieder einmal brach im Garten Eden ein perfekter Tag an. Eva erhob sich von dem weichen Graspolster unter dem duftenden Strauch, wo Adam und sie immer schliefen, und blinzelte in die Morgensonne. Adam hatte bereits für sie beide zum Frühstück einige Früchte gepflückt, die wie immer köstlich schmeckten. Danach stand Adam auf und sagte: „Liebling, ich muss los! Bin mit der Namensgebung noch nicht ganz durch. Zur Zeit sind alle Tiere mit sechs oder mehr Beinen dran. Hast du irgendeinen Vorschlag für diese bunten, staubigen Flatterdinger, die hier so herumschwirren? Ich schwanke noch zwischen Flugstäubling und Klappflügler...“
Aber Eva war es egal. Seit das zu benennende Viehzeug und die Pflänzchen immer kleiner und differenzierter wurden, überließ sie diese langwierige Aufgabe meist Adam, dem es Spaß machte, sich Wörter wie „Maulwurfsgrille“ oder „Grottenolm“ auszudenken.
Eva ließ ihren Mann ziehen und schlenderte gemächlich in eine andere Richtung. Sie sog den Duft ihrer Lieblingsblumen ein. Der Name „Rose“ stammte von ihr, und sie war sehr stolz darauf. Adam hatte „Duftstachel“ vorgeschlagen, aber Eva war ausnahmsweise hart geblieben.
Nachdem sie eine Weile nur so zum Spaß durch einen freundlich plätschernden Bach gewatet war, lenkte sie ihre Schritte in die Mitte des Gartens. Dort stand auf einer kleinen Anhöhe ein einzelner Baum mit sattgrünem Laub und gelb-rot schimmernden Früchten. Eva tauchte unter einem herabhängenden Ast durch und näherte sich dem Stamm. „Ich bin es“, rief sie, „bist du da?“ Zunächst geschah nichts, doch dann raschelte es in den oberen Zweigen. Etwas langes, Glänzendes glitt wie eine Ölspur um Äste und Stamm.
„Ich habe gerade ein Sonnenbad genommen“, zischelte die Schlange, „ist heute nicht ein herrlicher Tag?“
„Ja... wie immer“, antwortete Eva.
-„Du kommst in letzter Zeit ziemlich häufig, hast du denn nichts anderes zu tun?“
-„Doch... mir die Erde untertan machen... mich ... furchtbar vermehren, oder so. Ich weiß gar nicht, wie das geht.“
-„Kommt Zeit, kommt Rat. Aber warum besuchst du mich eigentlich immer allein? Will dein Mann dich nicht mal begleiten?“
-„Ach, Adam... der ist immer beschäftigt. Außerdem kommt er nicht gern hierher.“
-„ Wieso das denn?“
-„Na, du weißt schon. Weil ER gesagt hat, dass wir von diesem Baum nichts essen dürfen. Seitdem hält Adam lieber einen Sicherheitsabstand ein. Aber ER hat mir schließlich nicht verboten, mit dir zu sprechen.“
-„Nein, das hat er nicht“, kicherte die Schlange. „Aber du solltest dich langsam auf den Rückweg machen. Dein Mann wird dich vermissen.“
„Vielleicht“, meinte Eva zögernd.
-„Ganz bestimmt! Er liebt dich doch, oder?“
-„Ja, natürlich!“
-„Und liebst du ihn?“
„Natürlich!“ rief Eva und lachte ein wenig, „wen denn sonst?“
„Und warum?“ fragte die Schlange und musterte Eva aufmerksam.
Diese stotterte: „Wa... warum? Das habe ich mich noch nie gefragt! Brauche ich denn einen Grund?“
„Nein, nicht unbedingt“, meinte die Schlange gedehnt. „Aber vielleicht liebst du ihn ja besonders wegen seiner blauen Augen oder seiner goldbraunen Locken?“
-„Äh... wie sollten die denn sonst sein?“ Eva war verwirrt.
-„Na ja, schwarz und glatt vielleicht. Oder rot.“
„Äh...“ sagte Eva und blinzelte ein paar Mal. „Ich gehe jetzt.“
„Ja, ja, nur zu! War nett, mit dir zu plaudern!“ rief die Schlange munter und verschwand im Blattwerk.


Pia Winkler

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