Donnerstag, 12. November 2015

Alles eine Frage der Einteilung



Man muss nur früh genug aufstehen; wirklich, es ist unglaublich, was man an einem Tag schaffen kann, wenn man beizeiten aufsteht. Und natürlich der Zeitplan! Ist viel zu tun, muss die Organisation stimmen. Ich habe Gäste heute Abend. Marlene und Willy kommen zum Essen. H. hat sich unter der fadenscheinigen Ausrede, arbeiten zu müssen, bereits gestern Abend ausgeklinkt, aber ich weiß, dass er Marlene nicht mag. Bei ihr spricht er von Redewasserfällen, Wortkaskaden und sprachlichen Untiefen, was nicht ganz gerecht ist. Allerdings muss ich zugeben, dass ihr Mitteilungsbedürfnis  dem seinen diametral entgegengesetzt ist.
Punkt 8.30 Uhr springe ich aus dem Bett und Oskar, der, H.s Abwesenheit ausnützend,  sofort fünfzig Prozent des Bettes für sich beansprucht hatte, streckt sich, geht von behaglichem Schnurren zu einer Art Glücksgrunzen über und rollt sich in der Mitte des Bettes wieder zusammen. Ein Bild der Gelassenheit.
Ich mache Katzenwäsche, nur Zähneputzen und mit dem Kamm einmal durchs Haar, duschen und Haare waschen kommt später. Es ist schön, Gäste frisch und gepflegt zu empfangen, mit diesem Hauch von Feuchtigkeit auf der Haut, der von Entspannung zeugt und Souveränität. Es gibt Gemüselasagne, die ich gestern Abend schon vorbereitet habe, vorher einen leichten Salat mit frischer Ananas und zum Dessert Mangocreme, also nichts, was nicht zu schaffen wäre. Allerdings muss ich vorher noch die Wohnung putzen. Die vergangene Woche war beruflich aufreibend, die Putzfrau hat vor zwei Monaten gekündigt und Oskar ist – wie eigentlich elf Monate im Jahr – im Fellwechsel. Zeit für Morgengymnastik ist heute nicht, aber Kaffee muss sein. Ich setze ihn auf, hole die Zeitung herein und fange an zu arbeiten. Zuerst Staub wischen. Ich lege Bruce Springsteen ein und tanze rhythmisch mit feuchtem Wischtuch durch die Wohnung – ersetzt glatt die Gymnastik! Ein paar Bücher liegen herum; ich stelle sie ins Regal. Erich Kästners lyrische Hausapotheke, köstlich! Zu Putzen und Fleiß finde ich nichts, wohl aber zur Faulheit, Seite 118, 119, vierte Strophe: …. Und Uhren ticken rings in allen Taschen/die Zeit entflieht und will, man soll sie haschen….O.K. Ich lege das Buch weg und trage die Gläser vom Vortag zur Spülmaschine. Dort steht der Kaffee, der ist inzwischen kalt; egal, so trinke ich ihn auch.
Beim Betreten des Badezimmers verfange ich mich in einer Wolke Klopapier, das Oskar nach Beendigung seines Verdauungsschlafs abgerollt und über den Boden verteilt hat. Stolz und diabolisch schwarz sitzt er in der Mitte, über sein ganzes rundes Katergesicht lachend, mit weißem Pfötchen die Wolke schlagend. Es war die letzte Rolle, verfl….Beim Nachbarn läuten und um Toilettenpapier bitten am Samstagmittag? Lieber Einkaufen gehen, schließlich habe ich noch alle Zeit dieser Erde. Schnell zum Supermarkt um die Ecke. Dort haben sie wunderbare kleine Freilandrosen in leuchtendem orangerot. Ich nehme zehn Stück mit – ein bezaubernder Farbklecks im Flur. Zu Hause vermisse ich das Klopapier, also noch mal zurück. An der Kasse händigt man es mir mit tadelndem Blick aus. Ich eile in meine Wohnung, klaube das aufgerollte Papier zusammen, schrubbe das Bad und wende mich der Küche zu. Gut, das ist schon anspruchsvoller. Ich entscheide rasch, erst den Tisch im Esszimmer zu decken und sehe auf die Uhr. Noch ganz viel Zeit. Schön sieht er aus, der gedeckte Tisch, aber vielleicht wären die grünen Servietten doch passender. Mist, sie reichen nicht mehr für alle. Also gut, dann eben doch die grauen und neben jeden Teller ein Nougatherzchen. Wirklich hübsch, doch ich nehme sie nochmal weg, denn Oskar weiß zwar, dass ein festlich gedeckter Tisch absolut tabu ist, aber ich weiß, dass er sich absolut lautlos bewegen kann. Ich schreibe einen Erinnerungszettel - Nougatherzchen!! - und lege ihn neben den Herd.
Es ist schon erstaunlich, wie die Zeit vergeht, wenn man konzentriert arbeitet. Die Küche ist ein Schlachtfeld, alles klebt vom Ananassaft und es ist schon fast vier. Außerdem habe ich Hunger und inzwischen tut mir das Kreuz weh. Wie gemein von H., mich so sitzen zu lassen! Vermutlich gönnt er sich heute eine XXL-Currywurst und verbringt den Abend mit hochgelegten Füßen vor dem Fernseher.
Ich mache mir ein Brot, setze mich kurz hin und greife zur Zeitung. Nur einen klitzekleinen Blick hineinwerfen, nur fünf Minuten Pause. Die Glosse auf Seite zwei! Prokrastination, aha, das Wort ist mir fremd. Im allgemeinen Lexikon finde ich es nicht, erst im Duden/Fremdwörter wird es definiert. Nun ist es nicht ganz ungefährlich, in einem eng getakteten Zeitplan zu einem Buch zu greifen, um sein Wissen zu erweitern. Eine halbe Stunde später habe ich etwas über Prokonsuln und Proklise erfahren, gelernt, dass Proktitis eine Mastdarmentzündung ist, wer Prokrustes war,  wie und warum Theseus ihn tötete und habe die Bedeutung von Prokrastination wieder vergessen.
Die nächsten eineinhalb Stunden sind eine Art Wirbel, in dessen Sog Küche und Bad - ich muss noch duschen – unterzugehen drohen, aber es gelingt. Als es läutet , wie kalkuliert  mit fünfzehn Minuten Verspätung – Willy ist nie pünktlich, er braucht ewig im Bad, sagt Marlene – öffne ich mit strahlendem Lächeln. Vielleicht stört der noch sehr feuchte Haaransatz im Nacken, aber das fehlende Make-up kompensiert die neue Brille gänzlich und überhaupt: was ist schon perfekt im Leben? Nur dass ich die Nougatherzchen in ihrem leuchtend roten Papier am nächsten Morgen im Bücherregal finde, ist vielleicht doch ein kleines bisschen schade.

24.10.15
Sonja Meier

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