Dienstag, 21. Oktober 2014

Liebe - Der Versuch einer Analyse


Ausgerechnet Liebe! Ausgerechnet dieses alte, dieses abgenützte, dieses ausgelutschte Wort, dieses so oft missbrauchte Wort. Dieses erhoffte, ersehnte, dieses besungene und geliebte Wort. Ausgerechnet Liebe! Ich weiß nicht, ob ich weiß, was das ist. Liebe ich? Wen liebe ich? Mich selbst? Höchst unterschiedlich und von der Tagesform abhängend. Meinen Nächsten wie mich selbst, wie es die Bibel fordert? Was für ein unsinniges Gebot. Wenn ich mir selbst zuwider bin, dann muss es mir folgerichtig auch der Nachbar sein, der mir ahnungslos im Treppenhaus begegnet …Schön. Lassen wir die eigene Person und die theologischen Haarspaltereien. Meine Schwester? Geschwisterliebe? Wir stehen uns nicht nahe, sind grundverschieden, Gegenpole sozusagen, verbringen kaum Zeit miteinander, weil wir keine Interessen teilen, aber in Krisenzeiten stehen wir zusammen; Blut ist dicker als Wasser und im übrigen Geschwisterliebe Pflicht. Meine Eltern? Ihnen bin ich näher, aus ihnen bin ich, Teil von ihnen bin ich. Hier trifft das Wort schon eher. Dieses Gefühl zärtlicher Zuneigung, das erst in späteren Jahren gewachsen ist, verbunden mit Nachsicht für die kleinen Schwächen, die ihr Alter mit sich bringt, die Wahrnehmung des Wenigerwerdens, die milde stimmt. Aber vielleicht ist auch dieses Gefühl nur Pflicht, genetisch festgelegt und gesellschaftlich bestimmt. Oder ist es mehr Dankbarkeit, verbunden mit einer gewissen Wehmut, weil die eigene Jugend längst Vergangenheit ist? Meine Freunde? Liebe ich meine Freunde? Ich habe treue, liebenswerte, zuverlässige Freunde. Die langjährigste Freundschaft  währt 42 Jahre; eine Freundin, der ich alles, wirklich alles sagen kann, die ich alles fragen kann. Ein Freundschaft, die räumliche Distanz, völlig unterschiedliche Lebensentwürfe, Kinder und zwei Pferde unversehrt überstanden hat. Was für eine Kostbarkeit! Wie viele unbeschwerte oder auch heiß durchdiskutierte Stunden habe ich mit Freunden erlebt, wieviel Freude und Lebenslust, wieviel Leid und Trauer mit ihnen geteilt. Und doch würde ich bei keinem von ihnen von Liebe sprechen. So nah und vertraut wir uns sind, es ist eben Freundschaft, ehrliche tiefe Freundschaft. Und Freundschaft ist eine gegenseitige Sache. Ich kann jemanden lieben, ohne widergeliebt zu werden, aber Freundin  kann ich nur dem Freund, der Freundin sein.
Also, wo bleibt nun die Liebe? Natürlich liebe ich, jeden Tag: ich liebe Nudeln mit Zitronensauce, trockenen, mineralischen Weißwein, im Winter auch schweren, runden Rotwein und dunkle Schokolade zu jeder Jahreszeit - und natürlich liebe ich Oscar. Oscar begleitet mich seit neun Jahren, schwarz, einseitig weiß gesockt, lautlos, manchmal rätselhaft, meist schnurrend, selten klagend. Hier liebe ich und werde geliebt – jedenfalls zur Futterzeit und in kalten Nächten. Im übrigen bin ich nachsichtig geduldet. Immerhin. Und treu ist Oscar außerdem.

Ob H. das auch ist? Vielleicht. Würde ich merken, wenn nicht? Vermutlich nein. Aber als Liebende müsste ich jede Veränderung spüren – gar nicht so einfach, wenn man Tisch und Bett nur zeitweilig teilt, meist bei mir, seit Oscar, der Ortsveränderungen hasst, auf H.s edlen Louis-quinze-Sessel gepinkelt hat. Zeitliche und räumliche Distanz lässt den anderen immer wieder ein wenig fremd werden. Liebe ich H.? Wieviel unkomplizierter ist die Antwort bei Nudeln und Oscar. Wie leicht spricht sich’s da von Liebe! Ich starre H. an, die Ellbogen aufgestützt, die Kaffeetasse in beiden Händen. Er ist in Umsatzzahlen vertieft und nimmt mich gar nicht wahr. Erst als ich aufstehe und seinen Nacken kraule, blickt er auf. „Du streichelst mich wie deinen Kater“. Immerhin, den liebe ich. Aber ich schweige, denn der milde Vorwurf war nicht zu überhören. H. klappt den Laptop zu, steht auf, lächelt ein wenig schräg und sagt: „Ich lieb' dich trotzdem. - Denkst du an die Theaterkarten für nächsten Freitag? Und frag' Ina und Klaus, ob sie anschließend noch mit ins "Cantabile" gehen."
Er muss fort, weil er am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe nach Hamburg fliegt und noch Verschiedenes vorzuberiten hat. An der Wohnungstür wendet er sich um und sieht mich mit einem Blick an, den ich den Cavalier-King-Charles-Spaniel-vor-dem-Futterschrank-Blick nenne, und sagt: "es wäre so schön, nur zwei Zimmertüren weiter zu gehen, um einen Koffer zu packen." Der Spaniel steht kurz vor dem Hungertod.

Ich küsse H. sehr züchtig auf die Wange und schiebe ihn sanft zur Tür. "Du würdest dir ganz schnell deine eigenen vier Wände zurückwünschen. My home is my castle."
Er geht, seine Schritte hallen im Treppenhaus. Durch das Küchenfenster sehe ich ihn zur Hautür hinaustreten, sehe seine leicht gebeugte Gestalt, die widerspenstig abstehende Haarsträhne auf dem Hinterkopf, die ihm, dem Ordentlichen, Systematischen, etwas Nachlässiges verleiht, sehe seinen typischen, leicht unrunden Gang, und ein Gefühl von Zärtlichkeit und Zuneigung steigt in mir auf, steigt auf bis oben hin und ich schlucke und blinzle und möchte rufen: warte - warte, ich komme mit! Aber ich schweige, lehne meine Stirn an den kühlen Fensterrahmen, halte mich am Griff fest und schicke ihm eine Kusshand nach. Dann ist er weg. Eine Weile verharre ich noch so, bis die kühle Herbstluft mich frösteln lässt, dann schließe ich das Fenster und trödle zum Esstisch zurück. Es ist still in der Wohnung. Auf H.s Stuhl räkelt sich Oscar und schaut mich aus goldgrünen Augen an. Ich glaube, er lächelt.

Fürth, 05.10.14
Sonja Meier

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