Montag, 6. Juni 2016

Stoff für Legenden

Der Alte stand mit seinem Urenkel am Rand der riesigen Ebene. Seine vier Augenpaare, von denen eines bereits erblindet war, blickten ins Grenzenlose, seine sieben noch verbliebenen Beine zitterten leicht. Der Urenkel, der es eilig hatte, wieder in heimische Gefilde zu kommen, räusperte sich: „Großväterchen ... warum bleibst du eigentlich jeden Tag an derselben Stelle stehen? Ich begleite dich ja gern auf deinen Spaziergängen, aber ... hier gibt es doch absolut nichts zu sehen. Komm, lass’ uns nach Hause gehen.“
„Absolut nichts“, wiederholte der Alte mit dumpfer Stimme. „Du hast vollkommen recht, mein Kleiner. Und doch ...“ Er bedeutete dem Jungen, näher zu kommen. „Und doch befand sich hier einst das Reich deiner Vorväter. Du siehst hier nur Leere, doch ich erblicke vor meinem geistigen Auge die verlorene Heimat. Genau hier, wo wir jetzt stehen, befand sich einst das prächtige, makellose Netz der Königin Aruna. Von hier aus konnte sie alles überschauen - die Gespinste ihrer Untertanen, die Kokons mit den Jungen, die beutereichen Gebiete nahe der Großen Helle...
Sie war eine gute und gerechte Königin, die ihre Prinzgemahle nur höchst selten auffraß. Unter ihrer Herrschaft hatten wir ein sorgloses Leben. Wir erneuerten unsere Netze stetig, unsere ausgebauten Verkehrswege suchten ihresgleichen, und einige waghalsige Eroberer drangen mit ihren Webkünsten in nie zuvor erreichte Tiefen hinunter. Beute gab es immer genug, und feindliche Stämme wagten sich kaum je in unsere Nähe. Es war eine Zeit, in der Kunst und Kultur gedeihen konnten, und keiner von uns ahnte, dass unserem Glück und unserem Frieden solch ein grausames Ende bevorstand.“
Der Alte schwieg, seine Augen schimmerten im trüben Licht.
„Was ist denn passiert, Großväterchen?“, wollte der Junge wissen. „Zu Hause spricht niemand über diese Zeit, und wenn man fragt, wird man nur böse angestarrt. Bitte erzähl’ es mir, sonst tut es keiner.“
Die Mundwerkzeuge des Alten bewegten sich eine ganze Weile lautlos, bevor er heiser krächzend fortfuhr: „Ich war damals jung, unbekümmert - und verliebt. Meine Auserwählte war Ilara, die schönste der vielen Töchter von Königin Aruna. Wir hatten uns gerade erst unsere Liebe gestanden, und da sie so freundlich gewesen war, mich nach unserer ersten Vereinigung am Leben zu lassen, hatte ich mir geschworen, ihr für den Rest meines Lebens treu zu folgen.
An jenem schwarzen Tag begann das Verhängnis mit einem entfernten Summen, das unsere Behausungen erzittern ließ. Königin Aruna sammelte unter Hochdruck ihre Gefolgsleute um sich und ordnete Gefechtsbereitschaft an. Ich erinnere mich noch an ihren flammenden Appell: „Tapfere Arachniden! Egal, wie zahlreich die feindlichen Horden auch sein mögen, steht fest zusammen, dann werden wir siegen!“
Der Rest ihrer Ansprache ging im lauter werdenden Dröhnen unter. Dann sahen wir das Monster.“
Der Alte hielt inne und atmete eine Weile schwer. bevor er weiter erzählte: „Es war unermesslich groß, schimmerte silbrig und brüllte ohrenbetäubend. Es war ein Feind, der unsere schlimmsten Alpträume bei weitem in den Schatten stellte. Zunächst stürzte sich das Ungetüm auf unsere Gespinste bei der Großen Helle und fraß einfach alles, was ihm vor sein grässliches Maul kam. Es war unersättlich.
Unter unserem Volk brach Panik aus, alles rannte schreiend durcheinander. Meine Prinzessin Ilara rief: „Wir müssen fliehen! Mutter! Hier können wir nicht siegen!“
Doch unsere tapfere Königin war bereits mit ihrer Leibwache losmarschiert, um sich der Bestie in den Weg zu stellen. Bald verschwand sie hinter aufgewirbelten Staubwolken - wir sahen sie niemals wieder.
Ich selbst stolperte in blinder Hast meiner Prinzessin hinterher, die selbst vor Tränen kaum etwas sehen konnte. Zusammen mit einem mageren Häuflein unserer Freunde erreichten wir schließlich die Kolonien im Reich der Dämmerung, deren Bewohner - entfernte Verwandte, die in ärmlichen Verhältnissen lebten - uns eher widerwillig aufnahmen.
Noch lange, nachdem das Monster verstummt und verschwunden war, saß uns das Entsetzen in den Gliedern. Erst nach geraumer Zeit konnten Ilara und ich uns entschließen, den Ort des Grauens wieder aufzusuchen. Beim Anblick der blendend weißen Leere wurde uns klar, dass es für uns kein Zurück mehr gab.“
Der Junge stand eine Weile still und schaute über die Ebene. Dann atmete er einige Male tief durch und sagte: „Was für eine schreckliche Geschichte. Aber Großväterchen - lass’ uns jetzt nach Hause gehen, du musst dich ausruhen. Komm ... im Reich der Dämmerung sind wir wenigstens sicher.“

Die junge Frau schenkte ihrem Mann noch Kaffee nach. Dann reichte sie ihm die Zuckerdose und sagte mit einschmeichelnder Stimme: „Liebling ...?“
Der Mann stöhnte leise und lachte dann: „Was soll ich machen? Rasen mähen? Hecke schneiden? Schränke rücken? Ich kenn’ doch den Tonfall.“
Die Frau begann zu schmollen, und so dauerte es eine Weile, bis sie ihr Anliegen zur Sprache brachte: „Weißt du, Liebling, wir haben doch letztes Jahr die Waschküche renoviert, Wie wäre es, wenn wir uns heuer den Heizkeller vornähmen?“


von Pia Winkler

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