Mittwoch, 10. Januar 2018

Es sind jetzt so viele

Es werden immer mehr Tote um dich herum. Milchmädchenrechnung, wenn du alt wirst. Und warum sollten sie sich nicht einmal in Schüben ballen? Mathematisch völlig einleuchtend, so wie jede andere Zufallsstreuung.
Haben sie einen gemeinsamen Nenner außer dem, dass sie tot sind?  Selten. Aber vielleicht doch den, dass sie alle bei dir vorbeischauen, nachts, im Schlaf, im Tagtraum. Was sie noch gemeinsam haben, ist, dass sie nicht lachen, lächeln manchmal schon, aber kein Lachen,  keinen Humor, keinen Witz oder Satire – das bleibt alles hier bei uns im Diesseits. Ich denke an den Gott, an den ich immer glauben sollte und manchmal wollte, der lachte auch nicht. Der schaute entweder schmerzig oder feierlich. Da ist das Repertoire meiner Toten schon noch ein bisschen größer: sie können ganz entspannt schauen, wissend oder ratlos, kraftvoll oder geschwächt, vorwurfsvoll und und und. Sie kommen selten einfach nur so einmal daher oder mit Lust, mich zu überraschen. Sie benutzen meist lieber einen Auslöser, ein Vehikelchen, zum Beispiel einen Ort, einen Raum, einen Klang, ein Bild: „Hier war’s, wo er gerne saß ....“, „So klang es, wenn sie sang ....“, „Das ist der kleine Blutschwamm an der Stirn, den auch ...“, „Genauso einen Raucherhusten hatte sie, wenn sie sich früh die erste ansteckte ...“ „Jetzt hast du deinen Kopf genauso schwungvoll nach hinten geworfen wie ......“ Lauter kleine Schaltknöpfe und schon sind sie da. Die Dauer des Aufenthalts der Toten bei mir ist höchst variabel. Sie schauen manchmal nur kurz durch eine Wand oder aus einem Bild heraus bei mir vorbei, der eine oder die andere bleibt aber auch länger an meiner Seite, zum Beispiel im Garten, weil sie da früher auch immer gerne waren. Sie streichen dann hinter oder neben mir überall mit herum wie anhängliche Haustiere. In mir unangenehmen Situationen halten sie manchmal Wache, wie treue Verbündete, companeros. Das kann sogar Mut machen.
Es gibt aber auch hartnäckige Tote, wie die Albmacher. Sie bevorzugen den Traum als Eingangstür zu mir und sind nicht so höflich, erst einen Schalter umzulegen. Plötzlich starren sie mich vom Grund eines Teiches  an und ziehen mich mit ihrem Blick nach unten; sie klammern sich an mich und nehmen mir den Atem. Sie sagen nichts zu mir und ich muss ihr unerbittliches Wesen einfach aushalten, bis mir einfällt, dass sie auch als Lebende so kräftig an mir ziehen konnten.
Ganz selten gibt es eine Tote oder einen Toten, der mich ratlos macht und bleiben lässt. So eine ist H. Seit mehreren Wochen macht sie mich ständig auf sich aufmerksam, obwohl sie schon über ein Vierteljahr tot ist. Sie ist die Tote, die aus der Reihe tanzt, fast omnipräsent wird und ihre anderen Kollegen aus meinem Totenzirkel unzulässig an den Rand drängt. Vielleicht hat es ganz banale Gründe, denn ihre Wohnung liegt über der unsrigen, und ich leere ihren Briefkasten noch regelmäßig, gehe im Keller an ihrem abgestellten Sperrmüll vorbei. Immer wieder glaube ich, sie im Stockwerk über mir zu hören. Ja, genau, es ist dieses Tack-tack-tack! Sie trug stets Stöckelschuhe, auch nach Mitternacht, gnadenlos in unserem hellhörigen Haus. Als Grund erklärte sie mir, Hausschuhe passten nicht zu ihrem Körpergefühl. Sie hatte mich aber auch schon mal lachend über die Spießigkeit aufgeklärt, Hauspantoffeln zu benutzen. Sie nahm tausend Dinge für sich ganz selbstverständlich heraus, wie ein verwöhntes Kind, eine Aristokratin mit erhabenem Augenaufschlag, eine Prinzessin, die hilflos um sich schaute und allen signalisierte, dass doch endlich jemand ihr Gepäck nehmen möge. Ich nahm es immer ohne auch nur den Hauch von Zögern und trug es in ihr verspiegeltes Bilder- und Blumenreich, obwohl ich Stöckelschuhe tragende Prinzessinnen überhaupt nicht mag. Ihr Charme, ihre ungenierte Weitschweifigkeit und Schnörkelei beim Erzählen, ihre exotisch gezierte Gestik eines Wesens aus einer obskuren Abteilung der upper class, ihre Aura der Kunstverständigen, die hoffentlich auch wieder selbst malen würde, ihre Distanz zu allem praktischen und organisatorischen Alltagkram holten mich immer wieder zu ihr zurück und ich dachte nie über die mir sonst so fremde Schafsartigkeit nach, mit der ich meinte, ihr zu Diensten sein zu müssen.
Man merkt es, je mehr ich schreibe, um so klarer wird, dass sie sich Raum nimmt, wieder zu viel Raum nimmt.
Es kann aber auch daran liegen, dass H. unter extremen Bedingungen starb, eineinhalb Jahre lang, also so aufwändig, dass es zu ihr schon wieder irgendwie passte; dass sie mir Schreckensbilder lieferte, die ich noch nicht kannte. Sie konnte durch ihre Erkrankung nicht mehr sprechen, nicht mehr schlucken , sich nur sehr eingeschränkt bewegen, ihre Mimik war hexenartig verzerrt, nichts von der früheren Gepflegtheit und Eleganz war zu retten. Mit hektischen Bewegungen suchte sie Buchstaben auf einer Tafel, um dann doch nur enttäuschend triviale Botschaften zu übermitteln.  Sechzehn Monate lang war sie eingeschlossen in einen röchelnden, sabbernden, künstlich ernährten Schmerzkörper. Es kann also sein, dass sich dieses Übermaß an Leid in mir einbrannte und bis heute unerklärbar, unentschuldbar blieb. Es kann aber auch sein, dass es mir die Sprache wegziehen will, damit gar nicht erst vorschnelle Sätze einer Deutung und Wertung entstehen können. Vielleicht soll ich sprachlos bleiben und nur in dieses leere Pochen und Stechen hineinhören.
Soll sie doch weiter kommen, die tote H. Sie wird schon wissen, warum. Ich werde keine Erklärungen basteln.

Manchmal denke ich, es gibt womöglich eine Melodie oder ein zwei Verse, die Ruhe brächten und H. harmonisch in meine Totenriege einfügen könnten. Ich werde die Ohren spitzen.

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