Es werden immer mehr Tote um dich herum.
Milchmädchenrechnung, wenn du alt wirst. Und warum sollten sie sich nicht
einmal in Schüben ballen? Mathematisch völlig einleuchtend, so wie jede andere
Zufallsstreuung.
Haben sie einen gemeinsamen Nenner außer dem, dass sie tot
sind? Selten. Aber vielleicht doch den,
dass sie alle bei dir vorbeischauen, nachts, im Schlaf, im Tagtraum. Was sie
noch gemeinsam haben, ist, dass sie nicht lachen, lächeln manchmal schon, aber kein
Lachen, keinen Humor, keinen Witz oder
Satire – das bleibt alles hier bei uns im Diesseits. Ich denke an den Gott, an
den ich immer glauben sollte und manchmal wollte, der lachte auch nicht. Der
schaute entweder schmerzig oder feierlich. Da ist das Repertoire meiner Toten
schon noch ein bisschen größer: sie können ganz entspannt schauen, wissend oder
ratlos, kraftvoll oder geschwächt, vorwurfsvoll und und und. Sie kommen selten
einfach nur so einmal daher oder mit Lust, mich zu überraschen. Sie benutzen
meist lieber einen Auslöser, ein Vehikelchen, zum Beispiel einen Ort, einen
Raum, einen Klang, ein Bild: „Hier war’s, wo er gerne saß ....“, „So klang es,
wenn sie sang ....“, „Das ist der kleine Blutschwamm an der Stirn, den auch
...“, „Genauso einen Raucherhusten hatte sie, wenn sie sich früh die erste
ansteckte ...“ „Jetzt hast du deinen Kopf genauso schwungvoll nach hinten
geworfen wie ......“ Lauter kleine Schaltknöpfe und schon sind sie da. Die
Dauer des Aufenthalts der Toten bei mir ist höchst variabel. Sie schauen
manchmal nur kurz durch eine Wand oder aus einem Bild heraus bei mir vorbei,
der eine oder die andere bleibt aber auch länger an meiner Seite, zum Beispiel
im Garten, weil sie da früher auch immer gerne waren. Sie streichen dann hinter
oder neben mir überall mit herum wie anhängliche Haustiere. In mir unangenehmen
Situationen halten sie manchmal Wache, wie treue Verbündete, companeros. Das
kann sogar Mut machen.
Es gibt aber auch hartnäckige Tote, wie die Albmacher. Sie
bevorzugen den Traum als Eingangstür zu mir und sind nicht so höflich, erst
einen Schalter umzulegen. Plötzlich starren sie mich vom Grund eines
Teiches an und ziehen mich mit ihrem
Blick nach unten; sie klammern sich an mich und nehmen mir den Atem. Sie sagen
nichts zu mir und ich muss ihr unerbittliches Wesen einfach aushalten, bis mir
einfällt, dass sie auch als Lebende so kräftig an mir ziehen konnten.
Ganz selten gibt es eine Tote oder einen Toten, der mich
ratlos macht und bleiben lässt. So eine ist H. Seit mehreren Wochen macht sie
mich ständig auf sich aufmerksam, obwohl sie schon über ein Vierteljahr tot
ist. Sie ist die Tote, die aus der Reihe tanzt, fast omnipräsent wird und ihre
anderen Kollegen aus meinem Totenzirkel unzulässig an den Rand drängt.
Vielleicht hat es ganz banale Gründe, denn ihre Wohnung liegt über der
unsrigen, und ich leere ihren Briefkasten noch regelmäßig, gehe im Keller an
ihrem abgestellten Sperrmüll vorbei. Immer wieder glaube ich, sie im Stockwerk
über mir zu hören. Ja, genau, es ist dieses Tack-tack-tack! Sie trug stets Stöckelschuhe,
auch nach Mitternacht, gnadenlos in unserem hellhörigen Haus. Als Grund
erklärte sie mir, Hausschuhe passten nicht zu ihrem Körpergefühl. Sie hatte
mich aber auch schon mal lachend über die Spießigkeit aufgeklärt,
Hauspantoffeln zu benutzen. Sie nahm tausend Dinge für sich ganz
selbstverständlich heraus, wie ein verwöhntes Kind, eine Aristokratin mit
erhabenem Augenaufschlag, eine Prinzessin, die hilflos um sich schaute und
allen signalisierte, dass doch endlich jemand ihr Gepäck nehmen möge. Ich nahm
es immer ohne auch nur den Hauch von Zögern und trug es in ihr verspiegeltes
Bilder- und Blumenreich, obwohl ich Stöckelschuhe tragende Prinzessinnen
überhaupt nicht mag. Ihr Charme, ihre ungenierte Weitschweifigkeit und
Schnörkelei beim Erzählen, ihre exotisch gezierte Gestik eines Wesens aus einer
obskuren Abteilung der upper class, ihre Aura der Kunstverständigen, die
hoffentlich auch wieder selbst malen würde, ihre Distanz zu allem praktischen
und organisatorischen Alltagkram holten mich immer wieder zu ihr zurück und ich
dachte nie über die mir sonst so fremde Schafsartigkeit nach, mit der ich
meinte, ihr zu Diensten sein zu müssen.
Man merkt es, je mehr ich schreibe, um so klarer wird, dass
sie sich Raum nimmt, wieder zu viel Raum nimmt.
Es kann aber auch daran liegen, dass H. unter extremen
Bedingungen starb, eineinhalb Jahre lang, also so aufwändig, dass es zu ihr
schon wieder irgendwie passte; dass sie mir Schreckensbilder lieferte, die ich
noch nicht kannte. Sie konnte durch ihre Erkrankung nicht mehr sprechen, nicht
mehr schlucken , sich nur sehr eingeschränkt bewegen, ihre Mimik war hexenartig
verzerrt, nichts von der früheren Gepflegtheit und Eleganz war zu retten. Mit
hektischen Bewegungen suchte sie Buchstaben auf einer Tafel, um dann doch nur
enttäuschend triviale Botschaften zu übermitteln. Sechzehn Monate lang war sie eingeschlossen in
einen röchelnden, sabbernden, künstlich ernährten Schmerzkörper. Es kann also
sein, dass sich dieses Übermaß an Leid in mir einbrannte und bis heute
unerklärbar, unentschuldbar blieb. Es kann aber auch sein, dass es mir die
Sprache wegziehen will, damit gar nicht erst vorschnelle Sätze einer Deutung
und Wertung entstehen können. Vielleicht soll ich sprachlos bleiben und nur in
dieses leere Pochen und Stechen hineinhören.
Soll sie doch weiter kommen, die tote H. Sie wird schon
wissen, warum. Ich werde keine Erklärungen basteln.
Manchmal denke ich, es gibt womöglich eine Melodie oder ein
zwei Verse, die Ruhe brächten und H. harmonisch in meine Totenriege einfügen
könnten. Ich werde die Ohren spitzen.
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