Mittwoch, 10. Januar 2018

Nein!

Mona Sonniack hatte zwei bemerkenswerte Talente. Das erste, nämlich die Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen, entwickelte sie bereits in frühester Kindheit, denn sie hatte entdeckt, dass ihr Lachen in Verbindung mit einem Bitte-bitte-Händeklatschen Begeisterung in die Gesichter der Erwachsenen zaubern konnte und ihr meist das Gewünschte einbrachte. So lernte sie bald, sich mit Lächeln und Schmeicheln und Bitten und manchmal auch mit kleinen Schwindeleien durchs Leben zu schlängeln. Die zweite bemerkenswerte Fähigkeit, die des nachdrücklichen Neinsagens, entwickelte sie erst in ihren späteren Jahren. Dazu muss gesagt werden, dass Mona, die zu einer hübschen, etwas üppigen jungen Frau mit wilden haselnussbraunen Locken und Grübchen in den Wangen herangereift war, trotz ihres Talentes im Umgang mit Menschen kein Geschick in der Partnerwahl bewies. Vielleicht erblich bedingt – eine Großtante mütterlicherseits hatte ein ruchloses Leben geführt -, vielleicht aus Langeweile im Alltag als Sekretärin einer Versicherungsgesellschaft  und der Sehnsucht, etwas Besonderes zu sein und zu erleben, suchte sie bei Männern stets das Abenteuer. Sie hatte leider – das muss hier ebenfalls eingeräumt werden – einen gewissen Hang zum Niederen. Ihr erster Mann verprügelte sie regelmäßig und ließ sie nach drei Jahren mit Kind sitzen, der zweite tröstete sie zwar leidenschaftlich, hegte aber eine noch größere Begeisterung für schnelle Autos und überredete sie, einen Kredit für ein BMW-Cabrio mitzuunterzeichnen, was sie tat, und einen Sommer lang genoss sie den Luxus des Beifahrens im schicken Outfit,  genoss in vollen Zügen das Ausgeführt- und Vorgezeigtwerden und die neidischen Blicke der anderen. Im November, beim ersten Glatteis des Herbstes, fuhr ihr Liebster den Wagen zu Schrott, setzte sich später in die Staaten ab und ließ Mona mit den Kreditraten zurück. Sie zahlte viele Jahre daran, zog ihr Kind auf und schickte den nächsten Mann in die Wüste, bevor er sie mit seinem Hang zu teuren Hifi-Geräten restlos ruinieren konnte.
Im Gegensatz zu ihrem aufreibenden, wechselvollen, von Hoffnungen, rauschhafter Euphorie und mancher Ernüchterung  geprägten Privatleben verlief ihr beruflicher Werdegang in unaufgeregten, gleichförmigen Bahnen. Sie schrieb und sortierte von 8.00 Uhr bis 16.00 Uhr, legte Akten an und ab und kochte manchmal Kaffee. Sie war freundlich und hilfsbereit, letzteres geschickt platziert, und im übrigen hatte sie es sich im Laufe der letzten fünfzehn Jahren in immer derselben Abteilung bequem eingerichtet. Nicht unerheblich geholfen hatte ihr dabei ihr „energisches Nein“. Es war an ihrer Geburtstagsfeier gewesen, zum siebten Mal feierte sie ihren 39. Geburtstag -  sie weigerte sich hartnäckig, vierzig zu werden –, als sie ihre Fähigkeit erkannte. Eine besonders lästige Kollegin aus der Schadensabteilung brachte ihr ein weiteres Band zum Schreiben, während sie gerade den Kuchen anschnitt. Eilsache! Auch das noch, hatte sie doch gerade den Neuen aus dem Nachbarbüro entdeckt; interessanter Mann, irgendwie anders, Typ Outlaw….
„Nein!“ Es kam schnell und knapp wie ein Peitschenschlag aus Monas Mund. Die Kollegin zuckte zurück. Ihre linke Wange schmerzte und färbte sich in einem schmalen Streifen rot. Verdutzt und etwas unschlüssig, die Blicke der anderen auf sich fühlend, legte sie das Band auf den nächstbesten Schreibtisch. „Einigt euch“, sagte sie achselzuckend, „aber raus muss es heute noch.“.
Mona beobachtete das Phänomen interessiert und dachte nach. Das dauerte eine Weile, aber in den nächsten Monaten spuckte  sie bei besonders unangenehmen Sonderaufgaben das scharfe, kurze „Nein“ zielgenau in das Gesicht ihres Gegenübers. Das zuckte stets zurück, verwirrt, zögernd, meist nachgebend. Der Kollege aus dem Kostenressort, der montags immer unerträglich nach Knoblauch stank, hatte für ein paar Tage eine geschwollene Lippe, Lisbeth M. aus der Kundenbetreuung ein Hämatom am Hals und Lise W., ihre Erzrivalin, kaschierte eine Woche lang ein Veilchen. Mona lernte, ihr „Nein“ zu dosieren und vervollkommnete es bis zur Perfektion. Man begann, sie in Ruhe zu lassen. Ärgerliche Zusatzarbeiten fanden den Weg stets auf andere Schreibtische, der ihre blieb meist verschont. Sorgsam achtete sie darauf, dass er niemals leer war und von links nach rechts wandernde Aktenstapel den Eindruck emsiger Tätigkeit vermittelten. Klug behielt sie ihr freundliches, bei männlichen Kollegen auch kokettes Verhalten ebenso bei wie ihre wohlgesetzte Hilfsbereitschaft.
Das ging so lange gut, bis ein neuer Abteilungsleiter Unruhe in die eingefahrenen Bahnen brachte. Dr. Hubert Roggenhoff war ein blasser, hagerer und ehrgeiziger Mittfünfziger, der ständig zwischen den Schreibtischen hin und her wuselte, Fragen stellte und Statistiken zur Arbeitsbelastung erstellen ließ. Er entdeckte bald, dass Monas Arbeitsbelastung mit Abstand am geringsten, dafür der Duft ihres Parfums - schwere, süße Vanille – allgegenwärtig war, was ihn doppelt verdross, verabscheute er doch Vanillegeruch. Im übrigen war er weiblichen Reizen gegenüber weitgehend unempfänglich und er störte sich an Monas Mähne und an ihrem Dekolleté genauso wie an ihrem Duft, wegen dem sich mit der Zeit bei ihm Nießattacken einstellten. Monas Leben begann komplizierter zu werden; sie fühlte sich überwacht, musste sich manche Zusatzaufgabe gefallen lassen und ihr ganzer Charme versprühte nutzlos im Gespräch mit dem humorlosen Gegenüber. Sie fühlte sich erschöpft und wurde immer reizbarer.
Es war ein Freitagmittag im Frühsommer – Mona war bereits gestylt für einen Stadtbummel mit der zweitbesten Freundin -, als Dr. Roggenhoff, nicht ohne zu niesen, zwei Akten auf ihren Tisch warf mit der Bemerkung: „in einer halben Stunde zur Unterschrift, das eilt.“
„Nein!“ Monas Antwort kam ungewollt, unkontrolliert und  wie aus der Pistole geschossen. Roggenhoff stand einen Moment starr, den Mund vor Verblüffung halb geöffnet, dann brach sein Blick und er sackte zusammen. Verflucht, der war aber auch empfindlich… Mona bezähmte die aufsteigende Panik und wählte die 112. Zwei Kolleginnen stürzten aus dem Nebenzimmer und versuchten sich an der Mund- zu-Mund-Beatmung, aber es war zu spät. Der eintreffende Notarzt stellte den Tod fest und verständigte nach einem Blick auf Roggenhoffs Stirn die Polizei. Deutlich sichtbar leuchtete zwischen den Augen des Toten ein kleiner roter Kreis.
Kriminalhauptkommissar Gregor Winter, über den verpatzten Feierabend mindestens so verärgert wie Mona, führte die Ermittlungen. Er hatte eine Leiche, die ein mit feinen Schmauchspuren umrandetes Mal auf der Stirn trug, jedoch ohne, dass eine Kugel die Stirn berührt hatte, und ein paar völlig aufgelöste Versicherungsangestellte. Mona weinte drei  Krokodilstränen, sank erschöpft auf einen Bürostuhl und nahm dankbar den Cognac an, den Winter ihr anbot und der gnädig den schwachen Pulvergeruch aus ihrem Mund überdeckte.
Die Ermittlungen dauerten Monate und verliefen zu Winters Verdruss schließlich im Sand. Als offizielle Todesursache galt eine Gehirnblutung mit unbekannter Ursache. Mona hielt ihre Zunge nun eisern im Zaum, doch war das ein täglicher Kampf, denn die Mehrarbeit war ihr geblieben und die Kollegen hielten seit dem Unfall eine gewisse Distanz zu ihr. Zudem hatte Rudi, ihr letzter Lebensabschnittsgefährte, sie schnöde verlassen und ihre Tochter war schwanger, was ein Grund zur Freude hätte sein können, aber sie wollte nicht Oma werden, denn Oma sein bedeutete alt sein. Sie war jung, dynamisch und attraktiv. Zumindest hatte ihr das die Ärztin aus der ästhetischen Chirurgie versichert, die vergangenes Jahr an diversen Stellen ihres Körpers und Gesichtes diskrete Restaurierungsarbeiten vorgenommen hatte, was Mona nicht nur ihren Jahresurlaub, sondern auch einen Batzen Geld gekostet hatte und ihr nun zwar einen besonders wirkungsvollen Augenaufschlag und ein beeindruckendes Dekolletébeben gestatteten, sie jedoch zwangen, weiter zu arbeiten, um die Kreditraten zu tilgen. Rudi fiel dafür ja jetzt aus…Sie sah in den Spiegel und seufzte. Sie würde wieder suchen müssen; es war so mühsam!
Die Chance ihres Lebens bot sich mit Patrick Leverson, mit dem sie vor dem Fahrstuhl zusammenstieß und dessen Aktenkoffer ihr dabei auf den Fuß fiel. Leverson, Mitte sechzig, frisch verwitwet und wegen Fragen zur Lebensversicherung der verstorbenen Gattin im Hause, war durch deren plötzlichen Tod gänzlich aus der Bahn geworfen, etwas ratlos, schusselig und einsam, vor allem aber außergewöhnlich wohlhabend. Mona erfasste all dies mit dem Instinkt der geübten Jägerin. Er lud sie ein, sie ließ sich einladen. Sie setzte ihre Reize ein, doch ganz dezent. Nie traf der wirkungsvolle Augenaufschlag seinen Blick, stets richtete er sich lächelnd in die Ferne. Ihr Busen bebte unter zarter Spitze. Sie gab sich hilfsbedürftig, fürchtete sich im Dunkeln, benötigte Rat bei  technischen Dingen. Mit kleinen Gesten bekundete sie weibliches Mitgefühl, sorgte sich um seine Gesundheit, ließ häusliche Talente aufblinken. Er zeigte sich ritterlich, begleitete sie stets zur Haustür, reparierte ihren Toaster und nahm ihre Kräutermischungen an. Er schätzte sie als Begleitung bei gelegentlichen Restaurant- und Theaterbesuchen, war dankbar für ihr unkompliziertes, fröhliches Naturell, erzählte von seinem Rosengarten, den seltenen, alten Apfelsorten und blieb ihr gegenüber freundlich-reserviert. Behutsam begann sie, ihre Reize deutlicher einzusetzen, zeigte offenkundigeres Interesse. Er blieb weiter freundlich-reserviert. Sie zog sämtliche Register, beriet sich mit ihrer allerbesten Freundin, ja, sie wechselte sogar das Parfum,  als er einmal beiläufig eine abwertende Bemerkung über Vanille machte.
Das hielt sie ein Jahr durch und als sie schon resigniert aufgeben und das Projekt als gescheitert betrachten wollte, begann er, zurückhaltend um sie zu werben. Auf eine altmodische, ein wenig steife Art machte er ihr den Hof und als er sie in das beste Restaurant der Stadt einlud, tanzte sie durch die Wohnung. Gewonnen! Ein Jahr hatte sie fast zölibatär gelebt, der eine kleine Ausrutscher zählte nicht. Herrgott, irgendwie musste man schließlich die Nerven beruhigen! Auch ihr „energisches Nein“ hatte sie beherrscht, was große Mühe gekostet hatte, denn dieses Talent entwickelte eine Art Eigenleben in ihr, das nicht ganz leicht zu bändigen war. Ein einziges Mal – ausgerechnet, als ein Polizist sie bei der Ausstellung eines Strafzettels fragte, ob sie das Halteverbotsschild nicht gesehen habe – entkam ihr das kleine Teufelchen. Hart und spitz traf es genau den Nasenrücken des Beamten und der Nasenbeinbruch musste stationär behandelt werden. Sie hatte im Präsidium den Hergang zu schildern, das Protokoll zu unterschreiben und durfte wieder gehen. Beim Verlassen des Gebäudes begegnete sie Hauptkommissar Winter, der sie misstrauisch musterte und sie beeilte sich fortzukommen. Im übrigen hatte sie an ihrem Arbeitsplatz brav und unauffällig ihre Aufgaben erledigt und bei Dr. Roggenhoffs Nachfolger durchaus Punkte sammeln können. Punkte sammeln! Wie ein Eichhörnchen! Aber damit war jetzt Schluss. Genüsslich räkelte sie sich und strich über ihre immer noch schlanke, wohlgeformte Wade. Sie würde Leversons Jungbrunnen sein! Unter ihren kundigen Lippen und Händen würde er eine nie gekannte Lust und Lebensfreude erfahren, ohne die er nicht mehr sein konnte. Sie würde sich seiner Person, seines Hauses, seines Gartens und seines Vermögens annehmen, dass es auch ihr eine Lust war. An diesem Abend stand sie lange vor dem Spiegel.
Er holte sie ab und als sie seinen bewundernden Blick sah, fühlte sie ein Knistern, das sie innerlich förmlich überkochen ließ. Lächelnd sank sie in den Ledersitz des Wagens, galant schloss er ihre Tür. Das „Agora“ war unaufdringlich edel, die Beleuchtung dezent, die Kellner beflissen, ohne aufdringlich zu sein. Aus den Lautsprechern klang sehr leise Klaviermusik. Sie begannen mit Champagner und er stellte das Menü zusammen. Ihre Augen strahlten über dem funkelnden Glas, als sie sich zutranken. Sie genoss das 7-Gänge-Menü mit allen Sinnen, diese Pretiosen auf dem Teller, die unbeschwerte Vorfreude auf den nächsten Gang, den hervorragenden Wein. Sie plauderten über Alltäglichkeiten, das Wetter, die ausdauernde Blüte der Rosen in diesem Jahr, die reiche Apfelernte, den immer noch milden Winter; er dankte ihr für ihre stets heitere Art, mit der sie ihm über die schwersten Monate seines Lebens hinweggeholfen habe. Sie schnurrte vor Zufriedenheit. Nach den Gurken-Cous-Cous-Törtchen an Radieschensorbet legte sie ihr Jäckchen ab. Ihr teures Dekolleté kam gut zur Geltung im sanften Licht der mattierten Leuchten. Sie lächelte. Nach den Kalbsnüsschen auf Fenchelgratin an Kartoffelröschen erbat er sich beim Kellner eine Pause und griff zur Innentasche seines Jacketts. Mona strahlte. Jetzt – jetzt würde er fragen… Ganz leicht neigte sie den Kopf und blickte ihm tief in die Augen. Leverson erwiderte ihren Blick mit einem warmen Lächeln.
„Möchtest du…“ begann er und räusperte sich. „Darf ich dich einladen, ein Apfelseminar…“
„Nein!“ Mona erstarrte und begriff die Katastrophe, bevor das Wort von ihren Lippen gesprungen war, oder vielmehr, bevor es, elektrisiert von der sinnlichen Stimmung des Abends und befeuert von ihrer Erwartung  von den Lippen geschossen wurde – und punktgenau traf. Patrick Leverson sah sie mit milder Überraschung an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, bevor er mit der linken Hand an die Brust griff, sie staunend wieder wegnahm, weil sie nicht greifen konnte, was sich wie ein tödlicher Stachel anfühlte. Dann sank er, das Tischtuch haltsuchend mit sich ziehend, vom Stuhl. Mona starrte auf das Chaos zu ihren Füßen und entschied sich für eine Ohnmacht.
Eine Stunde später blickte Hauptkommissar Winter grimmig auf die Leiche mit dem rotgeränderten Brandfleck auf dem Jackett, auf die leichenblasse, krampfhaft weinende Mona und wusste, dass ihm nicht nur dieser Abend verdorben war. Die Spurensicherung sicherte akribisch jeden Quadratzentimeter und beförderte dabei einen Seminarprospekt von Gut Reinettenhof mit Hotelunterlagen und Buchungsbestätigung  aus der Innentasche von Leversons Sakko. Dahinter befand sich die Rechnung einer renommierten Goldschmiede, ausgestellt für die Fertigung eines Ringes, Gelbgold 750, mit Brillant 0,75 ct., weiß, VS1. Winter starrte eine Weile darauf, dann wandte er sich Mona zu.
 „Sieht aus, als  hätte er Sie zu mehr als einem Pfropfseminar einladen wollen.“  Er schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Manche Leute haben aber auch ein Pech“.


08.10.17/26.11.17
Sonja Meier

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