Josef L. führte Krieg. Es war ein
Krieg, der den Dreißigjährigen glatt in den Schatten stellte, ein Krieg, der
seit nahezu fünfzig Jahren tobte oder vielmehr in täglichen Scharmützeln an
vielen Fronten gleichzeitig geführt werden musste, ein Krieg zwischen Gut und
Böse, zwischen Nutzen und Nutzlosigkeit, zwischen Wunsch und Unerwünschtem. Auf
zweitausendeinhundertsiebzehn Quadratmetern, abzüglich überbauter Fläche von
sechshundertfünfzig Quadratmetern kämpfte er gegen Giersch, Löwenzahn,
Vogelmiere, roten Klee, kriechenden Hahnenfuß, Vermoosung, Nacktschnecken,
Amseln in den Erdbeeren, Spatzen im Salat und Staren in den Kirschen. Letztere
waren selten geworden, aber die Amseln hatten sich prompt verbündet. Früher,
als seine Frau noch gelebt hatte, war es leichter gewesen. Zu zweit war man
stärker. Beinahe vierzig Jahre hatten sie gemeinsam gejätet, versäubert,
gehackt und gerecht, hatten Netze über Salat und Erdbeeren ausgelegt,
glitzernde Scheiben und Alufolie in den Kirschbaum gehängt. Jeden Tag hatten
sie mehrfach ihre Runden gedreht und alles überwacht. Das Ergebnis konnte sich
sehen lassen: perfekt geschnittene Obstbäume – wie aus dem Lehrbuch hatte ein
Nachbar einmal gesagt, als im März die bloße Form vor dem noch blassen Himmel
stand -, das leuchtende Smaragd des Rasens, die Kanten auf den Millimeter
getrimmt. Die Gemüsebeete standen in Reih‘ und Glied, ordentlich eingefasst von
Buchs, ein Verbündeter gegen die verhasstesten Feinde, die Schnecken. Die Rosen
überboten sich an Blütenpracht. Hier machte er eine Ausnahme in der
Kriegsführung, denn Josef L. war fair in seinem Kampf und darauf auch stolz.
Gut, ein bisschen Blaukorn ans Gemüse, ein bisschen, nur ein bisschen Fungizid
an die Rosen, alles andere wurde mit der bloßen Hand getötet, Mann gegen Mann sozusagen,
die Kräuter herausgezupft oder -gerissen, die Schnecken mit einem Schnitt in
der Mitte geteilt. Anständig musste man auch im Krieg bleiben.
Aber Josef L.s Stellung
bröckelte. Den ersten tiefen Riss erlitt sie mit dem Tod seiner Frau. Mathilde,
seine treue Gefährtin, verunglückte mit gerade fünfundsechzig Jahren beim
Überqueren des Marktplatzes der nahegelegenen Kreisstadt. Sie glitt auf den
verwelkten, achtlos liegengelassenen Blättern eines Chinakohls aus, ein Gemüse,
das sie Zeit ihres Lebens verabscheut hatte, stürzte und schlug mit dem
Hinterkopf so unglücklich auf die Bordsteinkarte, dass sie noch an der
Unfallstelle starb. Josef L. trauerte lange und tief. Es war eine glückliche
Ehe gewesen, unspektakulär, schweigsam oft, mit Höhen und Tiefen wie jede
Gemeinschaft, aber immer ohne jeden Zweifel an ihrem Bestand. Die Kinder, ein
Sohn und eine Tochter, lebten ihr Leben weit entfernt von dem seinen und so
führte er den Kampf nun alleine weiter. Mathilde wäre stolz auf ihn, sagte er
sich manchmal, wenn er nach zwei mühsamen Jätestunden das Kreuz wieder
aufrichtete und die Opfer seines Tuns der grünen Tonne zuführte, die er nun
auch besaß. Früher hatten sie das Zeug gesammelt, getrocknet und einfach verbrannt.
Er blicke zufrieden über seine sauberen Gemüsebeete. Ja, so musste es sein.
Dann kam der Zünsler. Josef L.
starrte auf die zerfressenen, zerfledderten, gelblichen Reihen der Buchse und
presste die Lippen zusammen. Fast hätte er geweint. Überall sah es so aus, der
ganze Ort zeigte gelblichen Kahlfraß. Er versuchte es mit Gift – alles hatte
schließlich seine Grenzen -, aber die zarten, weißen Schmetterlinge tanzten
auch in den Folgejahren mit Beginn der Dämmerung höhnisch vor seinen
erleuchteten Fenstern. Am liebsten hätte er durch das Glas geschlagen. Nachdem
sich der Ort trotz vielstündiger Sitzungen nicht auf ein gemeinsames Vorgehen
gegen den Schädling einigen konnte und auch die Nachbargemeinden bereits Befall meldeten, gab Josef L. die
Stellung auf. Mühsam grub er die nun gänzlich kahlen Pflanzen aus, sammelte sie
im hintersten Eck des Gartens und zündete sie an. Grimmig begoss er das Opfer
mit einem Glas Rotwein. Das war neu. Früher hatte es nur sonntags zum
Mittagessen ein Gläschen Wein gegeben oder, wenn man Besuch hatte, einen selbst
angesetzten Eierlikör am Nachmittag. Aber seit Mathilde ihn verlassen hatte,
fehlte ihm die Wärme und Tee war kein Ersatz. So hatte er als kleines tägliches
Ritual der Erinnerung ein Glas Rotwein am Abend eingeführt. Er sah sie dann vor
sich, die Hände an der Kittelschürze abtrocknend, ihm schweigend die geöffnete
Flasche hinstellend. Sie selbst würde nichts trinken, aber sie würde neben ihm
zufrieden ihre Strickarbeit fortführen.
Nach dem Entfernen der
Buchseinfassungen stand das Gemüse seltsam nackt in den Beeten, dafür wucherte
nun der Rasen und breitete ungehörig seine Ränder aus. In den Beeten gingen
einzelne wilde Blumen auf und zwischen Tomaten und dem Kartoffelbeet wuchsen
zwei Sonnenblumen ungewisser Herkunft heran, hinter den Bohnen war ein Salat
unbemerkt ins Kraut geschossen. Josef L., nun beinahe achtzigjährig, hatte die
Kontrolle verloren. Es war wohl ein schleichender Prozess gewesen seit dem Tod
seiner Frau, mit dem die Front zu bröckeln begonnen hatte, und in die der
Buchsbaumzünsler die zweite große Bresche geschlagen hatte. Josef L. stand auf
verlorenem Posten. Oder vielmehr: er saß auf seinem Posten, dem kleinen
Sitzplatz unter dem Apfelbaum am Gartenhäuschen, als ihn diese Erkenntnis traf.
Oder hatte sie sich auch längst eingeschlichen? Denn sie fühlte sich zu seinem
Erstaunen nicht bitter an. Es war kein jäher, harter Schmerz, der ihn durchfuhr,
keine Panik vor der Übermacht des sich überall zeigenden Feindes, es fühlte
sich eher an wie – nun, wie ein wohliges Ergeben, fast, ja - er nippte an seinem
Rotwein und gab es vor sich zu - wie eine Befreiung. Soll doch dieser Salatkopf
wachsen, wohin er will; sollen doch Klee und Vogelmiere wuchern und soll doch
das Moos einen Teppich bilden! Und den
Rasen, der – von ihm unbemerkt - in den letzten Jahren etwas von seinem
samtenen Smaragdgrün eingebüßt hatte, belebte das Gelb des kriechenden
Hahnenfußes vielleicht sogar. Sollten doch die gefiederten Diebe mit ihm
ernten! Es war ohnehin zu viel. Der Giersch – na gut, alles würde er sich nicht
gefallen lassen. Er bot Teilhabe an, nicht vollständige Übernahme.
Durch das Laub des alten
Walnussbaumes hinter dem Gartenzaun blitzten die letzten Sonnenstrahlen und die
Wolken legten blassrosa Ränder an. Josef. L. schenkte mit leicht zittriger Hand
ein zweites Glas Rotwein ein und das Wimmern und Ächzen seiner Bandscheiben,
das Seufzen des linken Kniegelenks gingen in ein Murmeln über und verstummten
schließlich. Er lehnte sich zurück und beobachtete müde die kleine schwarze
Katze, die seit einiger Zeit auch durch seinen Garten schlich und die nun für
Aufregung unter den aufdringlichen Amseln sorgte. Es war gut, es gab noch
Verbündete.
16.06.18
Sonja Meier
Sonja Meier
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