Mittwoch, 28. November 2018

Ein Amerikaner im Sacher

Ich wollte wirklich nicht ins Sacher, habe sowieso nichts im Sinn mit abgeschmackten Wien-Klischees  wie Sisi, Pferdeballett, ölige Schrammelmusik, Fiaker und… Sachertorte.
Aber da war Ingrid, eine Reisebekanntschaft aus dem Bus, der uns in die Stadt an der schönen, wenn auch nichts weniger als blauen Donau bringen sollte, inklusive dem „stairway to Klimt“, auf gut österreichisch, im Kunsthistorischen Museum.
Sie liebte Klimt und noch mehr Hundertwasser. Aha.
Hatte ich mich auf der Fahrt und in der Raststätte etwa zu sehr als Wien-Kennerin geoutet?
Wie auch immer, sie bat, sich mir anschließen zu dürfen.
Und da waren wir nun im ersten Bezirk und es ergab sich, dass meine Begleiterin sowohl die Nationalbibliothek als auch die Albertina lieber von außen als von innen zu betrachten bereit war und offensichtlich nur ein konkretes Ziel hatte: Sachertorte im gleichnamigen Café.
Meine Anpassungsbereitschaft war ausgeschöpft und ich erklärte das Sacher zur langweiligen Touristenschwemme mit Warteschlangen am Eingang und dauerhandyfotografierenden Asiaten im Inneren und die Torte zur viel zu süßen, cholesterinsteigernden Ernährungssünde.
Das wirkte.
Aber wenigstens mal anschauen, von außen?
Von außen? Aber gern!
Vom Sacher aus sieht man die Staatsoper von hinten, die Staatsoper…
Ingrid stand am Fenster, um einen Blick zu erhaschen auf das Innere ihres Sehnsuchtsziels, dem Sacher…
Ungeduldige Menschen schauen öfter auf die Uhr als andere.
„It´s quarter to eleven!“
Erstaunt und leicht verwirrt schaute ich in ein freundliches, durchaus sympathisches Gesicht.
„You speak English?“
Schon ziemlich holprig, meine Konversation, mir fehlt die Übung, das machte doch nichts, er spräche auch  „etuas german“.
Er kam aus North-Carolina, nur noch eine Übernachtung im Sacher, morgen Budapest.
Wien und Budapest? Ich war begeistert. Ja, er liebte die beiden Städte auch…coincidence…
Ob er mich zu Kaffee und Sachertorte einladen dürfte?
Sehr freundlich, aber ich wäre nicht alleine unterwegs (da kam auch schon Ingrid mit erstaunter Miene) und wir müssten uns erst um die Theaterkarten für heute Abend kümmern.
Alles kein Problem, er würde in der Lobby auf mich…auf uns warten. By the way: Sein Name war Theo.
Ingrid musste nicht überredet werden und nach dem Abholen der Karten trafen wir den geduldig wartenden Theo, der inzwischen, ganz gentlemanlike, zwei Päckchen Konfekt organisiert hatte, in den „heiligen Hallen“ des legendären Hotels.
Ich schaute mich kurz um: Nicht geschenkt! Schwülstiges Gründerzeit-Interieur, taugte allenfalls als Kulisse für einen Fin-de-Siecle-Film.
Ingrid hingegen genoss den Anblick und nahm im Café entzückt an einem der Marmortische Platz.
Im klassischen Wiener Kaffeehaus dürfen nur Kellner im Frack servieren, im Sacher sind auch weibliche Bedienungen üblich, jung, hübsch und polyglott.
Ich bestellte nur Tee, der Herr aus North Carolina schloss sich an, wollte aber, ebenso wie die ihn anhimmelnde Ingrid keinesfalls auf die Schokoladentorte verzichten.
Und Theo begann zu erzählen. Er hatte im letzten Jahr seine Frau verloren, nach 40 Jahren Ehe, das war seine erste Reise seitdem.
Verständlich: Der Mann brauchte Gesprächspartner, oder, wie sich bald herausstellen sollte, Zuhörer.
Detailliert schilderte er die Lebensgeschichte seines Schwiegervaters, der aus Georgien stammte, als Kind beide Eltern verlor und mit dem Familienvermögen in Begleitung eines Onkels in die Vereinigten Staaten geschickt wurde.
Nach der Ankunft in New York verschwand besagter Onkel unter Mitnahme des Geldes und der Preziosen und ließ das vom Schicksal gebeutelte Kind hilf- und mittellos am Hafen zurück.
Erste Zweifel am Verhältnis von Dichtung und Wahrheit stellten sich ein.
„Just wait!“- Ingrid, von der bisherigen Erzählung fasziniert, hatte keine Chance, eine Frage zu äußern.
Das Kind kam in eine Pflegefamilie, erwies sich bald als Mathematik-Genie und erhielt ein Stipendium für Harvard.
Die Geschichte vom georgischen Schwiegervater wurde immer bunter und draußen schien die Sonne.
Nur mit Mühe gelang es mir Theo zu unterbrechen und auf das englische Sprichwort „You cannot eat your cake and have it“ hinzuweisen. „ You prefer to have it?“
Er nahm einen Bissen und nippte am Tee, der längst kalt geworden war, reklamierte bei der Bedienung, nein, die Tasse sollte sie bitte auch austauschen, er möchte heißen Tee trinken.
Im Sacher ist es nicht üblich, mit anmaßenden Gästen zu diskutieren und Theo bekam das Gewünschte.
Er setzte seine Erzählung fort von dem ehemalige Waisenjungen aus Georgien, der nach einem Studienabschluss der Superlative als Physiker hervorragende berufliche Perspektiven hatte und schließlich in Houston beschäftigt war.
Ein Blick auf die Uhr: Half past eleven.
Mir reichte es endgültig. „Sorry to interrupt you, but…“ wir hätten noch einen Termin „…to join our group…in the Museum, you know…“
„Just wait!“ – der amerikanische Münchhausen war nicht zu stoppen und schilderte noch das traurige Ende des Schwiegervaters, der um ein Haar den Nobelpreis bekommen hätte, in einem Militärhospital. Man hatte ihm, dem Geheimnisträger, nicht mehr vertraut und ihn nach einem Routineeingriff um die Ecke gebracht.
Ingrid wirkte noch immer beeindruckt.
Ich bedankte mich so höflich, wie es meine gereizte Stimmung zuließ, für die „very interesting story“ und griff nach meiner Tasche.
„Just wait!“ Theo stand auf, drückte einem Gast am Nebentisch seine alte Leica in die Hand, erklärte die Bedienelemente –„It´s not digital“- und posierte mit seinem Publikum für ein Erinnerungsfoto.
„Thank you!“
 Nun wollte er nur noch meine Mail-Adresse notieren, um die Fotos schicken zu können.
Sorry, Theo, ich habe keine Mail-Adresse.
Warum sollen im Sacher nur Touristen aus North Carolina lügen dürfen?
  










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